Der Wochenendtrip in die Stadt war Andrews Idee.
Elisabeth hielt das Ganze für seinen Versuch, die schlechte Stimmung zu verbessern, die seit Weihnachten ihre Ehe beherrschte. Unter normalen Umständen hätte das, was sie Andrew angetan hatte, ihrer Beziehung den Garaus gemacht, doch weil sie ein Kind miteinander hatten, fühlten sie sich verpflichtet, es weiterhin miteinander auszuhalten. Die entsetzliche Spannung zwischen ihnen mochte gut und gerne Wochen, Monate oder sogar Jahre andauern, doch sie mussten sich trotzdem darüber verständigen, was es zum Abendessen gab oder ob sie neues Küchenpapier brauchten. Das erkannten sie beide ohne Diskussion.
Elisabeth fand das irgendwie tröstlich. In ihrer Ehe kriselte es zwar, aber sie gaben sie nicht auf. Zumindest jetzt noch nicht. Aber Andrews Nähe fehlte ihr sehr. Er war zwar anwesend, aber nicht bei ihr.
Seit Gils Geburt und ihrem Umzug aufs Land hatten sie sich über Finanzen gestritten, über ihre Eltern, über die Kinderfrage und darüber, wer im Haushalt mehr tat. Angeblich waren das ja klassische Konfliktthemen, aber trotzdem erstaunte es Elisabeth, dass sie in dieser Beziehung offenbar wie alle anderen waren. Allerdings hatten sie hatten sich immer schnell wieder vertragen.
Diesmal war es anders.
In den Momenten, in denen Elisabeth die Erkenntnis zuließ, dass sie für ihre undankbare Schwester ihre Ehe riskiert hatte, hätte sie am liebsten geschrien, geheult oder Andrew angefleht, ihr zu verzeihen. Doch selbst wenn er sie fragte, warum sie so gehandelt hatte, konnte sie nicht zugeben, dass es aus reiner Selbstsucht geschehen war, weil sie nicht wollte, dass ihr Vater Charlottes Leben finanzierte. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, erkannte Elisabeth genau, wie irrational das alles war. Am liebsten hätte sie alles auf die Hormonschwankungen während der Schwangerschaft oder auf eine postnatale Psychose geschoben, aber das ging leider nicht, denn sie hatte ihrer Schwester das Geld schon lange vorher ausgehändigt. Also musste sie sich wohl oder übel eingestehen, dass nicht nur ihre Motive, sondern auch ihre Aktion dumm gewesen war.
Seit Weihnachten hatte sie kein Wort mit ihrer Familie gewechselt, was an sich nichts Besonderes, aber nach dem Ausgang ihres letzten Treffens durchaus bemerkenswert war.
Mitte Januar schickte Charlotte ihr eine Nachricht: An Neujahr mache ich ein spirituelles Reinigungsritual. In diesem Zusammenhang möchte ich mich für unser Missverständnis entschuldigen. Ich hoffe, du weißt, dass ich meine Schulden eines Tages zurückzahlen werde.
Elisabeth las es sich zigmal durch. Sie schickte Nomi einen Screenshot. Sie fanden beide, dass ihre Schwester einen Lektor brauchte. Besser, Charlotte hätte sich einfach entschuldigt, ihr mieses Verhalten nicht als Missverständnis abgetan, das spirituelle Reinigungsritual nicht erwähnt und sich das vage »eines Tages« gespart.
Elisabeth antwortete nicht darauf. Ihr war mittlerweile sonnenklar, was sie schon lange geahnt, aber stets verdrängt hatte: Das Geld war futsch.
In der Woche nach Charlottes Nachricht kam ein Brief von der Buchhalterin ihres Vaters. Er enthielt einen Scheck über dreihunderttausend Dollar, ausgestellt auf Gil. Im Brief stand, das Geld sei für seine Bildung und seinen Lebensunterhalt.
Elisabeth war sofort auf hundertachtzig. Besonders, weil ihr Vater Gil in die Sache hineingezogen hatte.
»Ganz zufällig handelt es sich exakt um die Summe, die Charlotte mir schuldet«, sagte Elisabeth.
»Er bemüht sich, einen Mittelweg zu finden«, sagte Andrew, »damit du dich in deinen Wünschen respektiert fühlst, zumindest zum Teil.«
Jetzt lag der Scheck auf ihrer Frisierkommode, und über ihm schwebte ein großes Fragezeichen. Andrew meinte, sie solle ihn einlösen. Elisabeth konnte es nicht fassen, dass er sie darum bat, versicherte ihm aber, dass sie darüber nachdenken wolle, wenn das zur Versöhnung beitragen würde.
Als wäre die Situation zu Hause nicht schon schlimm genug, kam in der ersten Januarwoche auch noch eine E-Mail, in der Andrew mitgeteilt wurde, dass er nicht zu den Auserwählten für die Teilnahme an der Konferenz in Denver gehören werde, eine Veranstaltung, auf die er sich schon seit Monaten vorbereitet hatte. Ein, zwei Tage stand er völlig neben sich, doch dann legte er sich so richtig ins Zeug, als könnte er durch reine Willenskraft beweisen, dass diese Entscheidung falsch gewesen war. Er arbeitete härter als je zuvor und kam immer später nach Hause. Manchmal fragte sich Elisabeth, ob er ihr einfach aus dem Weg ging.
Dementsprechend erfreut war sie, dass er sich am Montag freigenommen hatte, damit sie einen Tag länger in der Stadt bleiben konnten.
»Ich habe für Montagmorgen einen Termin für eine Paarmassage vereinbart«, sagte sie, als sie am Samstag mit dem Packen fertig waren.
Gil saß am Boden und zog jedes Teil wieder aus dem Koffer, kaum dass Elisabeth es hineingelegt hatte.
Andrew verzog das Gesicht.
»Eine Paarmassage? Meinst du das ernst?«
»Nicht für mich und dich, für mich und Nomi.«
»Um wie viel Uhr? An dem Tag habe ich mittags einen Termin für uns gemacht.«
»Mit wem?«
»Dr. Chen?« Er klang etwas unsicher.
»Du machst Witze.«
In all den Monaten, die sie versucht hatten, ein Kind zu bekommen, hatte Andrew kein einziges Mal in der Klinik angerufen. Deswegen wollte er also in die Stadt, dachte Elisabeth jetzt. Nicht, um die Wogen zu glätten, sondern um die Kinderfrage voranzutreiben. Vielleicht aber auch beides.
In einem der vielen Streitgespräche, die sie seit Weihnachten geführt hatten, wies Andrew sie darauf hin, dass er mit dem IVF-Prozess nur einverstanden gewesen war, weil sie ihm zugesichert hatte, keine Embryos ungenutzt zu lassen.
»Wir haben zwei«, sagte sie, als er das Thema mal wieder aufs Tapet brachte. »Wenn es mit dem ersten funktioniert, was dann? Bist du bereit, den zweiten ungenutzt zu lassen? Drei Kinder? Das schaffe ich nicht.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Andrew. »Vielleicht sollten wir uns darüber Gedanken machen, wenn es so weit ist. So viel Glück müssen wir erstmal haben.«
Jetzt sagte sie: »Du hast einen Termin vereinbart, ohne mich zu fragen?«
»Wir waren uns einig, dass wir bei unserem nächsten Aufenthalt in der Stadt Dr. Chen konsultieren würden. Ich dachte, ich erspare dir den Anruf.«
Elisabeth überlegte noch, wie wütend sie sein sollte, als es an der Tür klingelte.
Auf dem Weg kam ihr der Gedanke, dass sie Andrew wegen seiner eigenmächtigen Entscheidung unter normalen Umständen die Leviten gelesen hätte, doch nach dem, was sie getan hatte, lag alle Macht bei ihm. Sie musste den Mund halten.
Sie öffnete die Tür. Sam stand auf dem Absatz, neben ihr ein Typ, den Elisabeth sofort als Briten identifiziert hätte, selbst wenn er kein Wort gesagt hätte.
Er war so groß. Lang. Ein Spargeltarzan.
»Du musst Clive sein«, sagte sie.
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, gnädige Frau«, sagte er.
Er streckte ihr die Hand entgegen und lächelte schief. Verschlagen.
Elisabeth stellten sich die Nackenhaare auf. Sie fand ihn instinktiv abstoßend. Seine alberne Aufmachung. Die Art, wie er sie ansprach. Als wäre Elisabeth eine alte Frau und er so jung wie Sam. Er war eine solche Fehlbesetzung neben der süßen Sam, die sich zum ersten Mal, seit Elisabeth sie kannte, das kindliche Gesicht geschminkt hatte.
Trotzdem sagte sie: »Kommt doch rein! Ich freue mich so, dass wir das zusammen machen.«
Andrew kam mit Gil nach unten und begrüßte die Gäste.
Vergessen war der Streit von gerade eben, bis auf Weiteres zumindest. Elisabeth war froh, dass sie sich auf ihren Ehemann konzentrieren konnte und auf ihre Abreise. Clive mochte sie gar nicht ansehen.
»Checkliste für Gil«, sagte sie zu Andrew. »Jacke? Buggy? Windeln? Feuchttücher? Creme? Laufgitter? Spielzeug? Reispuffer?«
»Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja und ja«, erwiderte Andrew.
Gil quengelte.
»Er ist müde«, sagte Elisabeth.
Sie nahm ihn Andrew ab und sang ihm leise etwas vor, das Einschlaflied, das sie ihm jeden Abend vorsang: Schlafe ein, schlafe ein, schlafe ein, kleiner Gil.
Andrew stellte sich daneben. Bei der zweiten Strophe stimmte er ein: Augen zu, Augen zu, Augen zu, mein kleiner Schatz. Ein Auge zu, zwei Augen zu, schlafe ein, kleiner Gil.
Gil grinste sie beide an. Elisabeth wusste, dass er im Auto sofort einschlafen würde.
»Sind sie nicht zum Fressen?«, fragte Sam.
»Ich mache mir Notizen«, sagte Clive. »Bald sind wir das.«
Er stellte sich hinter Sam und umarmte sie. Am liebsten hätte Elisabeth sie weggezogen und irgendwo in Sicherheit gebracht. Zum ersten Mal seit sie sich kannten, fragte sie sich, ob sie Sams Mutter einschalten sollte.
Elisabeth bestand darauf, dass Clive vorn saß, aber er wollte unbedingt auf den Rücksitz neben Sam.
Gils Kindersitz befand sich hinter dem Beifahrer. Sam saß hinter Andrew, Clive in der Mitte, sodass seine Knie nach vorn hin Platz hatten.
Während der ersten Stunde beobachtete Elisabeth die beiden immer wieder im Rückspiegel. Sie hielten Händchen. Irgendwann flüsterte er: »Gib mir ein Küsschen.«
Elisabeth wandte den Blick ab.
Er klang ganz anders als erwartet, meilenweit entfernt vom butterweichen Englisch eines Hugh Grant. Rau und ungehobelt.
Als Gil erwachte, ließ er sich ärgerlicherweise wunderbar von Clive unterhalten. Dieser Mann brachte ihn sogar zum Lachen! Und er nieste ständig. Elisabeth stellte sich all die Bakterien und Viren vor, die er aus dem Flugzeug eingeschleppt hatte und jetzt im engen Wagen verbreitete. Clive behauptete zwar, es sei nur eine Allergie, aber wer hatte bitte zu dieser Jahreszeit Allergien?
Als Fahrer sollte Andrew eigentlich nicht aufs Handy schauen, aber Elisabeth kannte ihren Mann besser, deshalb schickte sie ihm eine Nachricht: Wenn dieser Typ unser Kind krank macht, drehe ich ihm die Gurgel um.
Wenig später las er die Nachricht, reagierte aber nicht darauf.
Als er erfahren hatte, dass Elisabeth Sam und Clive nach New York eingeladen hatte, war er sauer gewesen.
»Sie sind nicht die ganze Zeit dabei«, hatte sie erklärt, »wir nehmen sie nur im Auto mit. Und so können wir mal einen Abend ohne Gil ausgehen.«
»Weil es ja in Manhattan keine Babysitter gibt«, sagte Andrew.
»Keine, die Gil kennt und liebt.«
Es herrschte extrem viel Verkehr, rote Bremslichter, so weit das Auge reichte.
Nach drei Stunden fing Clive aus unerfindlichen Gründen plötzlich an zu pfeifen.
Elisabeth bekam fast Schnappatmung. Sie waren in diesem Wagen mit einem viel zu großen Unsympathen gefangen, und das war allein ihre Schuld. Zur Ablenkung zog sie ihr Handy hervor. Die BK Mamas stritten sich über den Vorschlag, ihren Namen in »BK Caregivers« zu ändern, weil der bestehende Name sexistisch sei (die Väter ausschloss) und elitär (Nannys und Erzieherinnen ausschloss). Sie hatten eine Umfrage gestartet. In der Kommentarspalte hatten sich bereits dreihundert Mitglieder zu Wort gemeldet, die die Debatte mit den unterschiedlichsten Argumenten befeuerten. Elisabeth begann zu lesen. Die Diskussion war so hitzig, dass man meinen könnte, es handelte sich tatsächlich um ein ernstzunehmendes Problem.
Sie hatte ungefähr dreißig gelesen und Nomi die absurdesten als Screenshot geschickt, als Andrew eine Konversation vom Zaun brach. »Bist du schon mal in New York gewesen, Clive?«
»Nein. War auch noch nie in den Staaten, bevor ich Sam kennengelernt habe.«
»Du wirst es lieben«, sagte Elisabeth. »New York ist die großartigste Stadt der Welt.«
Sie legte ihr Handy in die Tasche und beschloss, sich mehr Mühe zu geben.
»Ich habe jahrelang in London gelebt und davor in Barcelona. Aber im Grunde meines Herzens bin ich ein Junge vom Land«, sagte Clive. »Ich will Sam überreden, nach der Hochzeit mit mir in ein Cottage zu ziehen, mit Schafen und ein paar Hunden.«
Sam kicherte. Schwer zu sagen, wie sie darüber dachte.
»Vergiss nicht die Bienen«, fügte sie hinzu. Offenbar ein Insiderwitz, den nur die beiden verstanden.
Elisabeth ging nicht darauf ein, sondern fragte Clive: »Hat Sam dir erzählt, dass ich einen ihrer Dozenten getroffen habe, der sie als richtig talentiert beschrieben hat? Eine der besten, die er je gesehen hat.«
Sie spürte Andrews Blick. Er wollte ihr offenbar signalisieren, dass sie maßlos übertrieb. Aber Christopher hatte so über Sam gesprochen, oder zumindest so ähnlich.
»Klar denkt er das«, erwiderte Clive. »Sie ist brillant. In unserer Wohnung hängt in jedem Zimmer ein Bild von ihr.«
Unsere Wohnung, dachte Elisabeth. Seine und ihre.
»Das stimmt«, sagte Sam. »Sieht aus, als hätte er mir einen Schrein gewidmet.«
Elisabeth blickte stur geradeaus. Es war schlimmer als erwartet. Sam war kein kleiner Flirt für diesen Typen, er wollte sie tatsächlich heiraten.
Um das Thema zu wechseln, fragte Elisabeth ihn nach den Royals.
»Hast du William und Kate mal irgendwo in einer Bar gesehen, als sie noch auf dem College waren?«, fragte sie. »Ich hab solche Geschichten von Leuten gehört und bin ganz neidisch.«
Sam kreischte. »Sie ist so wunderschön! Ich liebe ihre Outfits! Ich würde auf der Stelle tot umfallen, wenn ich sie in einer Bar sehen würde.«
»Wieso?«, fragte Clive. »Die Royals sind ein Haufen inzestuöser Schmarotzer, die dem Volk auf der Tasche liegen und nur an sich denken.«
»Ach, Clive«, sagte Sam, als wäre seine Reaktion unglaublich liebenswert.
Andrew fragte, ob jemand Hunger habe. Sie hielten am nächsten Rastplatz. Elisabeth bat ihn, ihr einen Wrap mit Pute mitzubringen, und ging mit Gil zum Windeln-Wechseln.
In der überfüllten Damentoilette, das Getöse von zig Handtrocknern im Ohr, legte sie Gil auf den Plastik-Wickeltisch und lächelte ihn an. Er war ein Quell der Freude, den sie stets anzapfen konnte, ein unabhängiger Teil ihrer selbst.
»Was meinst du?«, flüsterte sie. »Nicht gut genug für unsere Sam, oder?«
Gil schaute zu ihr auf und grinste, sodass sein erster Zahn hervorblitzte, der gerade erst durchgebrochen war.
Als er fertig gewickelt war, suchte Elisabeth nach Andrew, um ihm vom Zahn zu erzählen. Sie fand ihn in der Schlange vor der Sandwich-Bar. Sam und Clive standen hinter ihm und flüsterten, als wären sie seine jugendlichen Kinder.
Andrew näherte sich gerade der Kasse, als sie sich neben ihn stellte.
»Zwei große Wraps mit Pute, einmal mit Roastbeef, einmal mit Fleischbällchen und vier Cokes?«, fragte die Kassiererin.
»Ähm, ja«, sagte Andrew. Er gab ihr seine Visa-Karte.
Elisabeths Blick wanderte zwischen Clive und Andrew hin und her. Als sie Andrews Miene sah, wusste sie genau, was los war. Clive hatte nicht angeboten, für sich und Sam zu zahlen.
Es ärgerte sie maßlos, stärker, als es diese Unhöflichkeit rechtfertigen würde. Hätten sie nur Sam zu dieser Fahrt eingeladen, würden sie selbstverständlich für ihr Mittagessen zahlen. Aber Clive war ein erwachsener Mann.
Sam verdiente einen soliden Partner, jemanden in ihrem Alter. Eine jüngere Version von Andrew. Elisabeth erinnerte sich noch daran, wie sie schon zu Beginn ihrer Beziehung eine väterliche Klugheit an ihm bemerkt hatte. Er kannte sich mit Kunst und Geschichte aus, erfasste kleinste Nuancen des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Klimas im Land. Er hätte auf jede Kinderfrage eine Antwort, sie oft nur eine vage Ahnung. In solchen Augenblicken redete sie sich damit raus, dass das alles ja schon lange her und in den »alten Zeiten« passiert sei. Sie sah Andrew an und dachte: Ehemann. Sie betrachtete Clive und dachte: Flirt.
Sam war zu lange auf dem Rummelplatz geblieben und hatte es noch nicht bemerkt. Sie schien zu glauben, dass es immer so weitergehen würde. Elisabeth erinnerte sich an die Mail, die Sam ihr in den Weihnachtsferien geschickt und in der sie erste Zweifel angemeldet hatte. Doch leider hatte sie sie schnell wieder beiseitegeschoben und das Thema danach nie wieder angesprochen.
Sam und Clive übernachteten am Wochenende bei einem Freund weit außerhalb der Stadt, aber zuerst begleiteten sie Andrew und Elisabeth ins Algonquin Hotel.
Sie wollten eine Matinee am Broadway besuchen, gefolgt von einem Essen in ihrem Lieblingsrestaurant. Sam und Clive sollten im Hotel auf Gil aufpassen, auf dem Zimmer, wenn sie wollten, oder in der großen, mit unzähligen weichen Sofas ausgestatteten Lobby.
Der junge Rezeptionist händigte Andrew zwei Zimmerschlüssel aus. Alle vier quetschten sich in den Lift, zusammen mit Gil im Buggy und dem gesamten Gepäck, und fuhren schweigend zur obersten Etage.
Elisabeth hatte einen Aufschlag für eine kleine Suite bezahlt.
Als Andrew die Tür aufschob, stießen Clive und Sam einen Laut der Begeisterung aus.
»Absolut umwerfend!«, sagte Clive. »Schau dir dieses Bett an, Babe! So eins sollten wir uns auch kaufen.«
Es war ein Boxspringbett mit beachtlicher Einstiegshöhe. Elisabeth schoss der entsetzliche Gedanke durch den Kopf, dass die beiden es womöglich für Sex nutzen könnten.
»Das ist das schönste Hotelzimmer, das ich je gesehen habe«, sagte Sam.
»Ich habe es im Internet gebucht«, erklärte Elisabeth, »war keine große Sache.«
Das stimmte nicht. Die Suite hatte ein Vermögen gekostet. Doch das war ihr irgendwie unangenehm, denn Sam würde das Wochenende wahrscheinlich auf einer Klappcouch oder einem Futon verbringen.
Außerdem wollte sie Andrew gegenüber lieber nicht über Geld sprechen, auch wenn er von dieser Unterhaltung vermutlich gar nichts mitbekommen hatte. In den letzten Monaten hatte er ihre Ausgaben streng kontrolliert und war deswegen so besorgt gewesen wie nie zuvor.
Manchmal schwenkte er dann plötzlich aufs andere Extrem um und machte eine großzügige Geste, die Elisabeth völlig unnötig fand. Zum Valentinstag hatte er ihr goldene Ohrringe geschenkt und danach diesen Wochenendtrip vorgeschlagen. Fast als wollte er sich überzeugen, dass sie sie doch nicht ruiniert hatte und sie sich immer noch alle Wünsche erfüllen konnten.
Meist reagierte Andrew jedoch panisch.
»Wir haben keine Rücklagen«, wiederholte er ständig.
Elisabeth fand diese Formulierung passiv-aggressiv, als wäre diese Situation einfach so entstanden. Als hätte sie diese Misere einfach befallen. Indem er sich weigerte, die Schuldige beim Namen zu nennen, betonte er ihre Schuld umso mehr.
Clive nahm Gil auf den Arm und tanzte mit ihm durchs Zimmer.
»You put your right arm in, you put your right arm out, you put your right arm in and you shake it all about. You do the hokey-cokey and turn yourself around. That’s what it’s all about!«, sang er.
Gil juchzte vor Begeisterung.
»In England sagen sie ›hokey-cokey‹«, erklärte Sam.
»Was sagt ihr hier?« Clive tanzte immer noch.
»Hokey-pokey.«
Er hielt kurz inne, dann sang er erneut, diesmal aus voller Brust: »You do the hooo-key-cokey. You do the hooo-key-cokey.«
Elisabeth wünschte, er würde einfach die Klappe halten. Warum nervte sie »cokey« so viel mehr als »pokey«? Darum. Das war öfter so zwischen Engländern und Amerikanern. So eine winzige Kleinigkeit, die so viel bedeutete. Die Briten rutschten immer gern in die Babysprache ab. Choccy bickies und so.
»Wir sollten uns umziehen«, sagte Andrew. »Damit wir nicht zu spät kommen.«
Elisabeth zog den Reißverschluss ihres Koffers auf. Ihr Kleid war etwas zerknittert, aber sie hatte keine Lust, das Bügelbrett aus dem Schrank zu holen, daher hängte sie es einfach an die Rückseite der Badezimmertür und drehte die Dusche auf. Während sie wartete, ob ihr Trick funktionieren würde, beschloss sie, sich etwas Mühe zu geben. Sie trug Anti-Aging-Serum auf und betonte ihre Augen mit Eyeliner, Lidschatten und Wimperntusche. Die dunklen Schatten deckte sie mit Concealer ab. Als sie ihren Lippenstift nachzog, streckte Andrew den Kopf zur Tür herein.
»Wir sollten gehen«, sagte er, »in einer halben Stunde geht’s los.
Elisabeth schlüpfte in ihr Kleid. Ob der Dampf es geglättet hatte, konnte sie nicht beurteilen.
Sie kehrte zurück ins Zimmer. »Wenn du was brauchst, schick mir eine Nachricht«, sagte sie zu Sam. »Wir kommen nicht so spät zurück.«
»Mach dir keine Sorgen um uns. Viel Spaß!«, sagte Sam.
Sie hatte Gilbert auf dem Schoß, völlig entspannt. Seit Kurzem war er in einer Phase, in der beim Anblick von Fremden in Tränen ausbrach und nur von seiner Mutter gehalten werden wollte. Sam war die einzige Ausnahme.
Elisabeth wartete, bis sie draußen waren, dann sagte sie: »Was für ein schrecklicher Kerl.«
»Wer?«, fragte Andrew.
»Clive! Er ist ein alter Mann!«
»Ich glaube, er ist jünger als wir.«
»Im Vergleich zu Sam, meine ich.«
Andrew ergriff ihre Hand. So gingen sie die Eighth Avenue entlang. Als sie noch hier wohnte, waren ihr Pärchen verhasst gewesen, die Händchen haltend den gesamten Gehsteig für sich beanspruchten, nur weil sie verliebt waren. Aber seit sechs Wochen war dies das erste Mal, dass Andrew ihre Hand genommen hatte. Elisabeth wollte den Zauber nicht zerstören, selbst wenn Andrew sich vielleicht nur dazu zwang, weil er sich Mühe geben wollte.
Als sie am Gebäude der New York Times vorbeikamen, warf Elisabeth einen langen Blick nach oben zu den Nachrichtenbüros, als würde ihr früheres Ich ans Fenster treten und ihr zuwinken.
Dann ging sie rasch weiter. Auf keinen Fall wollte sie hier auf alte Bekannte treffen.
»Ist es nicht seltsam, hier wie ein Tourist herumzulaufen?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte Andrew. »Ich find’s toll.«
Während der gesamten Vorstellung fragte sie sich, was Sam und Clive wohl trieben. Sie hoffte, dass ihnen auch ohne ausdrückliche Anweisung klar war, dass sie Gil nicht aus dem Hotel mitnehmen und womöglich mit ihrem Baby am Times Square herumspazieren sollten.
Danach nahmen sie ein Taxi nach Downtown, um im Little Owl zu essen, ihr früheres Lieblingsrestaurant. Sie hatten das Restaurant für sich. Nachdem sie sich gesetzt hatten, sprachen sie über das Stück und darüber, was sie bestellen sollten.
Die Kellnerin brachte ihnen eine Flasche Wein.
Sie stießen an.
Elisabeth trank einen Schluck. »Der ist gut«, sagte sie.
Andrew probierte ebenfalls und nickte.
»Weißt du, ich glaube, dieser Clive meint tatsächlich, dass Sam ihn heiraten wird«, sagte sie.
Unbeirrt von den leisen Anzeichen des Überdrusses in Andrews Gesicht fuhr Elisabeth fort.
»Wenn er seinen Willen durchsetzt, nimmt er sie mit nach England, und dann kriegt sie nie einen Job in einer Galerie.«
»Wenn sie heiraten und Sam die britische Staatsbürgerschaft annimmt, wer weiß«, bemerkte Andrew. »Dann kriegt sie vielleicht sogar einen Job bei einer Galerie in London.«
»Du hast ihn doch gehört! Wenn sie heiraten, steht sie in einem Jahr barfuß und schwanger in einer Küche in den Cotswolds und kocht Marmelade ein.«
»Du weißt doch noch nicht mal, wo die Cotswolds sind«, sagte Andrew.
»Er hat ihr die Mitgliedschaft bei Phi Beta Kappa ausgeredet, damit sie während des Semesters mehr Zeit für ihn hat. Das macht niemand, der im Interesse seines Partners handelt.«
Sie hatte versucht, Sam von ihrem Entschluss abzubringen, aber der stand fest. Wozu soll das gut sein? Damit ich bei meiner Abschlussfeier damit angeben kann, dass sie meinen Namen nennen?
Elisabeth wusste, dass Clive ihr diese Worte in den Mund gelegt hatte. Sie hätte es ihr sagen sollen. Ihr stärker ins Gewissen reden.
»Sam ist nicht erfahren genug, um zu erkennen, was für eine Lusche dieser Mann ist«, sagte sie jetzt. »Er begeistert sie, weil sie eigentlich noch ein Kind ist. Sie hält jeden für reif, der alt genug ist, um ein Auto zu mieten. Er nutzt es aus, dass sie noch so jung ist.«
»Auf mich wirkt es, als wäre er total in sie vernarrt«, sagte Andrew.
»Echt jetzt? So siehst du das?«
»Okay, gut. Ja, die Dynamik zwischen den beiden ist ein bisschen seltsam. Aber ich muss ja auch nicht mit ihm ausgehen. Was geht es mich an? Irgendwas muss sie ja in ihm sehen.«
»Ja, er ist sexy.«
»Findest du?«
»Nicht mein Geschmack, aber objektiv betrachtet ja. Er hat was leicht Anrüchiges.«
»Anrüchig.«
»Und sie haben ständig heißen Sex.«
»Das hat sie dir erzählt?«
»Nein, nicht explizit, aber das sieht man doch. Aber was will er von ihr? Wenn er unbedingt heiraten will, gibt es doch sicher zig attraktive, einsame junge Frauen in London, die er anrufen könnte.«
»Meinst du?«
»Nehme ich an. Eine Frau in seinem Alter wäre vermutlich klug genug, um sich nicht mit einem Typen wie ihm einzulassen. Merkst du das nicht?«
»Du hast ja einen echten Narren an ihm gefressen«, bemerkte Andrew.
»Sam liegt mir am Herzen. Ich will das Beste für sie.«
»Hältst du sie für klug?«
»Natürlich. Was ist das überhaupt für eine Frage?«
»Wenn sie klug ist, wird sie schon selbst herausfinden, was gut für sie ist.«
Elisabeth dachte darüber nach.
»Einmal hat Sam mir erzählt, dass sie von einer großen Hochzeit träumt«, sagte sie. »Es war alles sehr kindisch, wie es sich ein kleines Mädchen ausmalen würde. Da hätte es mir schon auffallen müssen. Sie hängt einer Fantasie nach.«
Andrew zuckte die Achseln.
»Aber das passt nicht zu ihr, oder?«, fragte sie.
Als er nicht antwortete, sagte sie: »Dein Vater findet ihn auch seltsam. Das hat er am Telefon durchblicken lassen, nachdem er Clive vom Flughafen abgeholt hat. Außerdem hat er gemeint, dass diese ganze Sache mit dem Umzug nach London nach dem Abschluss eine Art Realitätsflucht ist. Jobsuche, mit Absagen klarkommen und das alles.«
»Wenn George das sagt, muss es ja stimmen«, bemerkte Andrew.
»Ja. Wir müssen uns überlegen, wie wir sie von ihm wegbekommen.«
»Das war ein Scherz! Können wir bitte über etwas anderes reden? Ich habe das Gefühl, du driftest langsam auf die dunkle Seite ab.«
Er hatte recht. Hier saß sie nun endlich mit ihrem Mann an diesem Ort, nach dem sie sich schon seit Monaten gesehnt hatte, und konnte es nicht genießen. Stattdessen war sie komplett fixiert auf das Liebesleben ihrer Babysitterin.
Damals war es leicht gewesen, die Schuld für ihre Unzufriedenheit in der Stadt zu suchen — es gab immer irgendwelche Verspätungen oder einen wütenden Fremden, der einem scheinbar den Tag ruiniert hatte. Wenn man die Stadt verließ, musste man sich möglicherweise eingestehen, dass die Misere aber gar nicht von der Stadt verursacht wurde. Sondern von einem selbst.
»Entschuldige, ja, lass uns das Thema wechseln«, sagte sie. »Der Grill? Wie ist der neueste Stand?«
Zuletzt war er mit der Entwicklung eines Prototyps beschäftigt gewesen. Doch seit einiger Zeit hatte sie ihn nicht mehr danach gefragt, zum Teil, weil er sich noch wegen der Sache mit Denver ärgerte, aber auch, weil sie wusste, dass das Projekt mehr Geld kostete, als das College ihm geben wollte, was sie wieder auf den Scheck von ihrem Vater brachte.
»Das wollte ich dir noch erzählen«, sagte Andrew. »Der Prorektor hat mir ein nettes Kompliment gemacht. Er meinte, die Studenten in meiner Projektgruppe würden eine Menge daraus mitnehmen. Ich hätte eine besondere Art, mit ihnen umzugehen, die ihm nicht so oft unterkommen würde.«
»Wie nett!«, sagte sie.
»Ja. Ich weiß, wir reißen unsere Witze, aber es macht mir wirklich Spaß, mit den Kids zu arbeiten. Ich habe dem Prorektor von Cory erzählt, der hatte eine richtig gute Idee. Kannst du dich noch an ihn erinnern? Der Große mit dem Schnurrbart, den du auf der Weihnachtsfeier getroffen hast.«
Sie nickte. »Ophelia.«
»Genau.«
Während Andrew auf weitere Einzelheiten einging, trank Elisabeth mehr Wein und bemühte sich, ihm zuzuhören. Aber als er anfing, über fehlende Zuschüsse zu reden und erwähnte, dass er früher als geplant nach Sponsoren suchen wolle, wurde sie langsam sauer.
Sie fragte sich, ob alle Eheleute im tiefsten Inneren fürchteten, dass ihr Partner sie aus den falschen Gründen geheiratet hatte. Als Andrew in die Stadt gezogen war, hing er mit Typen aus Greenwich und Darien herum. Hatte er vielleicht damals das Gefühl gehabt, ihnen nicht das Wasser reichen zu können, und Elisabeth geheiratet, um sich so mehr Status zu verschaffen, auch wenn er so tat, als würde er verstehen, warum sie das Geld ihres Vaters ablehnte?
»Andrew«, unterbrach sie ihn unwillkürlich. »Ich werde den Scheck nicht einlösen.«
Er wirkte geknickt.
»Wir schleichen drum herum wie die Katze um den heißen Brei, aber ich kann das nicht machen. Ich werde das Geld meines Vaters nicht annehmen. Er ist ein hintertriebener Mistkerl.«
»Einverstanden«, sagte Andrew. »Aber das bleibt er so oder so, ob du sein Geld nun annimmst oder nicht.«
»Das willst du also.«
»Statt unser Erspartes zu verlieren? Ja. Wenn es dem Grill zum Erfolg verhilft, könnten wir die Probleme meiner Eltern sofort lösen. Es macht mich fertig, dass sie das Haus verkaufen müssen.«
»Gibst du mir jetzt etwa die Schuld?«
»Die Schuld wofür? Ich rede davon, was ich tun könnte, wenn ich mit dem Grill Erfolg hätte.«
»Aha. Aber ob er Erfolg hat oder nicht, wissen wir erst, wenn ich den Scheck einlöse.«
»Er zahlt dir nur zurück, was du deiner Schwester geliehen hast. Das ist alles.«
»Obwohl ich ihr das Geld überhaupt erst geliehen habe, damit keine von uns von meinem Vater abhängig ist.«
»Aber sie hat dich hintergangen.«
»Ja, und dein Vater verbringt seine Tage in seiner Höhle und zetert über den verdammten Hohlen Baum, statt sich mit dem zu auseinanderzusetzen, was passiert ist, sich um mehr Arbeit zu bemühen, einzusehen, dass niemand das Haus kaufen wird und sie es sich nicht leisten können, es zu behalten. Aber ich soll meine Prinzipien verraten und ihn retten?«
»Das habe ich nie von dir verlangt«, sagte Andrew sanft. »Nur zu, zerreiß den Scheck. Mach, was du willst. Darauf läuft es doch immer hinaus, nicht wahr?«
Kurioserweise schliefen sie in dieser Nacht miteinander, zum ersten Mal seit Gils Geburt. Nicht weil ihnen besonders danach war, sondern weil das letzte Mal schon so lange zurücklag und sie dieses teure Hotelzimmer gebucht hatten, deshalb hieß es jetzt oder nie. Wider Erwarten empfand Elisabeth beim Sex keine Schmerzen. Es fühlte sich eigentlich an wie immer. Sie erinnerte sich daran, wie schön es war, ihm auf diese Weise nah zu sein, besonders weil sich im Alltag zwischen ihnen ein solcher Graben aufgetan hatte.
Sie schlief neben Andrew ein, wachte jedoch kurze Zeit später wieder auf und fand keine Ruhe mehr. Aber über ihre Probleme wollte sie auch nicht nachgrübeln. Also ging sie mit dem Laptop ins Bad und schloss die Tür. Sie klickte auf die Seite der BK Mamas, wo noch immer der Kampf über die Namensänderung tobte, vierzehn Stunden nachdem der Vorschlag gepostet worden war. Gegen achtzehn Uhr hatte Mimi Winchester eine ihrer Bomben platzen lassen: Wo wir gerade beim Thema korrekter Name sind, möchte ich nur eines zu bedenken geben: Unsere Gruppe heißt BK Mamas, ist also eindeutig für Mütter, die in Brooklyn wohnen. Ich weiß aber ganz genau, dass hier eine MENGE LEUTE mitmachen, die schon lange aus Brooklyn weggezogen sind.
Neunundzwanzig Frauen warfen Mimi daraufhin Elitarismus vor.
Es ist schade, dass Leute wie du hierhergezogen sind und Leute wie mich dank der gestiegenen Preise aus ihrem Viertel verdrängt haben, in dem ich seit siebzehn Jahren gewohnt habe. Ich lebe jetzt in Queens, aber ich betrachte mich immer noch als BK Mama und das wird auch immer so bleiben, hatte eine von ihnen geschrieben.
Amen!, lautete ein Kommentar.
Gut gesagt!, ein anderer.
Kurz darauf verkündete die Frau aus Queens die Gründung einer neuen Gruppe mit dem umständlichen Namen »Weggezogen, aber für immer BK Caregivers«.
Elisabeth klickte auf das Profil, um zu sehen, wie viele Mitglieder die Gruppe hatte. Bis jetzt waren es einhundertvierzig, doch sie bezweifelte, dass viele davon die ursprüngliche Gruppe verlassen hatten. Sie trat ebenfalls bei. Warum auch nicht.
Auf ihrem Laptop stand 22:32 Uhr.
Sam und Clive waren vermutlich in einer Bar, ihr Abend hatte erst begonnen. Elisabeth fragte sich, was Sams Freundinnen von ihm hielten. Sie fanden sicher nicht, dass er zu ihr passte. Irgendwas war nicht ganz koscher an Clive, abgesehen vom Altersunterschied, etwas, das sie intuitiv spürte, aber nicht in Worte fassen konnte.
Sie hatte immer noch Zugang zu ihren Recherchetools, die sie damals bei der Zeitung genutzt hatte. Und so startete sie mit dem Laptop auf dem Badewannenrand einfach mal schnell eine kleine Suche im Straf- und Personenregister. Clive Richardson, 33 Jahre, London.
Gegen ihn lag nichts vor. Keine Insolvenzen oder Führerscheinentzug wegen Trunkenheit am Steuer. Aber es gab einen amtlichen Heiratsvermerk, vor nicht mal zwei Jahren vom Londoner Rathaus ausgestellt. Und eine Scheidungsurkunde, auf sechs Monate später datiert.
Davon wusste Sam garantiert nichts, da war Elisabeth sicher.
Sie suchte online nach seiner Ex-Frau, eine gewisse Laura Garcia. Aber der Name kam zu häufig vor, und es wurde langsam spät. Elisabeth klappte den Laptop zu und speicherte die Information im Kopf ab. Der richtige Zeitpunkt dafür würde schon noch kommen.
Bevor sie sich wieder ins Bett legte, sah sie nach ihrem schlafenden Sohn. Er ahnte nichts Böses von der Welt, wusste nicht, dass die Menschen so oft etwas anderes waren, als sie zu sein schienen. Gil erwachte jeden Morgen mit einem Lächeln im Gesicht und erwartete von jedem das Beste. Wann würde sich das ändern? Hoffentlich konnte sie es so lange wie möglich hinauszögern.
Sie freute sich schon darauf, ihm morgen ihre Stadt zu zeigen. Ihn mitzunehmen in den Central Park, wenn es nicht zu kalt wäre.
Wie kannst du kein zweites Kind wollen, wenn du doch so wunderbar mit ihm umgehst?, hatte Andrew gefragt.
Sie war dickköpfig, das wusste sie. Vielleicht sollte sie mal auf das eingehen, was er wollte.
Elisabeth war schon immer ehrgeizig gewesen, eigennützig, denn nur so konnte man es in der Stadt zu etwas bringen. Die ersten Monate in Gils Leben waren leichter gewesen als erwartet. Freundinnen hatten ihr davon erzählt, dass sie es als Schock erlebt hätten, alles für einen anderen Menschen tun zu müssen, und dass es sie deprimiert habe. Doch Elisabeth hatte es kinderleicht gefunden, sich ganz auf Gil einzulassen. Erst jetzt, wo sie wieder zu ihrem früheren Ich zurückfand, bereitete ihr dies gelegentlich Probleme.
Vor einem Monat hatte sie am College einen Vortrag gehalten. Im Vorfeld war sie erheblich nervöser gewesen, als sie gedacht hatte. Die Professorin, Gwens Nachbarin, las als Einführung Elisabeths Biografie vor. Elisabeth konnte nicht einschätzen, ob die Studentinnen beeindruckt waren.
Sie hatten tausend Fragen, und hinterher wollten alle ihre E-Mail-Adresse.
Auf dem Weg nach Hause hatte sie sich daran erinnert, wie sie als Neunzehnjährige gedacht hatte. Wenn sie damals gewusst hätte, wie weit sie einmal kommen würde, wäre sie tief beeindruckt gewesen.
»Sie haben mir das Gefühl vermittelt, ich hätte es bis ganz nach oben geschafft«, sagte sie später zu Andrew. »Ich selbst sehe mich nie so.«
Seit diesem Erlebnis war bei Elisabeth wieder der Ehrgeiz ausgebrochen. Sie wollte an ihrem neuen Buch arbeiten. Sie hatte Ideen für Artikel, Kolumnen, die sie schreiben könnte, wenn sie je die Zeit dazu hätte. Früher war ihr Kinderbetreuung an drei Tagen die Woche sehr viel vorgekommen, aber jetzt wusste sie, dass sie jemanden in Vollzeit einstellen würde, sobald Sam mit dem Studium fertig war. Sie brauchte einfach mehr Zeit, um sich ganz und gar der Arbeit widmen zu können.
Ein zweites Kind würde dies unmöglich machen, würde sie direkt wieder neun Monate zurückwerfen.
Einen flüchtigen Moment lang stellte sie sich bei Gils Anblick zwei vor, wie sie im Doppelbuggy miteinander plapperten. Aber das Bild wollte sich nicht verankern.
Stattdessen sah sie sich wieder bei der Arbeit in ihrem Büro, ein kleines Kabuff im Erdgeschoss eines Gebäudes mitten in der Stadt mit einem einzigen, kleinen Fenster. Ihr Küchentisch wäre vermutlich angenehmer gewesen, aber im Büro war sie tatsächlich ganz für sich. Sie hatte es von zwölf bis vier Uhr nachmittags gemietet. Danach und davor wurde es von anderen Leuten genutzt. Ihre persönlichen Gegenstände sollten sie eigentlich immer mitnehmen, aber manchmal entdeckte Elisabeth Spuren der anderen, eine Quittung, eine Verpackung vom chinesischen Imbiss im Mülleimer.
An manchen Tagen schlief sie mit dem Kopf auf der Tischplatte ein, an anderen besuchte sie die Seite der BK Mamas und tippte etwas in die Suche — die besten Laufschuhe für Kleinkinder oder Neun-Monats-Regression — und sprang danach von einem Post zum nächsten, auf private Websites, klickte auf einen Link zu einem Artikel auf People Magazine und tauchte erst Stunden später wieder auf, angewidert von sich selbst, als hätte sie den gesamten Inhalt ihres Kühlschranks auf einmal aufgefressen.
Aber wenn es gut lief, wenn sie am Ende etwas vorweisen konnte, empfand sie Stolz und fühlte sich stark. Sie war froh, wieder am Laptop zu sitzen, sich zu überlegen, wie sie ihre Geschichte am besten erzählte, und es machte ihr Freude, sich die vor einem Jahr durchgeführten Interviews mit weiblichen Sportlerinnen und Entscheiderinnen anzuhören. Nichts hatte sie je so erfüllt wie das Schreiben. Wenn sie im Flow war, verging ein halber Tag wie im Flug.
Zeit maß sie jetzt daran, wie voll ihre Brüste waren. Sie stillte immer noch und pumpte häufig bei der Arbeit am Schreibtisch ihre Milch ab. Einmal stürzte ein Mann ins Zimmer, den Blick zunächst aufs Handy, dann auf sie gerichtet. Elisabeth war gerade mit dem Abpumpen fertig und wollte die Milch zum Transport in die Flasche umfüllen. Sie stand mit offenem BH und entblößten Brüsten mitten im Zimmer, eine Brusthaube noch im Mund.
Nach einer ganzen Weile sagte der Mann: »Ist wohl doch nicht das Männerklo!«, und suchte rasch das Weite.
So herzhaft hatte Elisabeth schon lange nicht mehr gelacht.
Am Morgen küsste Andrew sie wach.
Der Sex hatte das verhagelte Dinner offenbar ausgebügelt.
Sie war erleichtert, sich nicht entschuldigen und den Abend nicht noch mal durchkauen zu müssen.
Nach einem wunderbaren gemeinsamen Sonntag fragte sie sich, warum sie überhaupt weggezogen waren — Friseurbesuch am Morgen, Brunch und Park und Drinks mit alten Freunden, gefolgt von einem Dinner zu dritt in einem französischen Restaurant in der Nähe des Hotels. Der Kellner gab Gil drei Buntstifte, und bevor sie sie mit Hinweis auf sein Alter zurückweisen konnten, hatte Gil bereits eine rote Linie auf die weiße Papiertischdecke gemalt.
»Ist er nicht brillant?«, fragte Andrew mit verschämtem Stolz.
»Ja, sieht ganz so aus«, sagte Elisabeth.
Nie hätte sie sich vorstellen können, wie sehr sie diese kleinen Momente bewegen würden. Gemeinsam hatten sie verfolgt, wie Gil sich von der verschwommenen Bohne auf dem Schwarz-Weiß-Monitor des Ultraschallgeräts zu einem kleinen Menschen mit Armen und Beinen und Ohren entwickelt hatte, von einem Neugeborenen, das nicht mal das Köpfchen halten konnte, zu dem Kleinkind geworden war, das nun vor ihnen saß und an einem Brötchen knabberte.
»Ach!«, rief sie jetzt. »Ich hab ganz vergessen, dir zu erzählen, dass er einen Zahn bekommen hat.«
»Wo? Wo?«, sagte Andrew und auf einmal erfüllte sie große Zufriedenheit. Sie brauchte nur diese beiden Menschen in ihrem Leben, und sie würde alles tun, um sie nicht zu verlieren.
Am Montagmorgen auf dem Weg zu ihrer Verabredung mit Nomi war Elisabeth übertrieben aufgeregt.
Es war kalt, doch sie wollte trotzdem zu Fuß gehen.
Manche Straßenecken erinnerten sie an verschiedene Abschnitte ihres früheren Lebens. Sie sah sich mit fünfundzwanzig, als sie vor diesem verlassenen Gebäude mit einem Barmann herumgeknutscht hatte, kurz danach hatte dort ein Ramen-Restaurant eröffnet. Heute war in dem Haus eine Bank und ein Schild verkündete, dass daneben bald Luxus-Apartments entstehen würden.
Am Herald Square genoss sie den vertrauten Duft von gerösteten Maroni, die sie nie probiert hatte.
Sie kam an einem Juweliergeschäft vorbei, wo sie mit einundzwanzig einen ganzen Nachmittag auf die Reparatur der Uhr ihres Chefs gewartet hatte. Elisabeth hatte auf der Bank gesessen, den angebotenen Espresso getrunken und reiche Frauen in Pelzmänteln beobachtet, die sich die Zeit in diesem Laden vertrieben. Als der Juwelier ihr die Uhr zurückgab, steckte sie sie in die Manteltasche und schlenderte noch eine Stunde durch SoHo, bevor sie zur Arbeit zurückkehrte. Ein wunderbares Gefühl, als wäre sie kurz aus dem Gefängnis entflohen.
Vor dem Haus, in dem sich einst Mexican Radio befunden hatte, musste Elisabeth an einen Abend im Mai denken, vielleicht war es auch Anfang Juni gewesen, einer der ersten perfekten Sommerabende, warm und dieses Leuchten in der Luft. Sie und ihre Freundin Rachel saßen draußen und tranken um fünf Uhr nachmittags Margaritas. Am Nebentisch saßen zwei Typen, einer noch süßer als der andere. Sie flirteten mit ihnen und irgendwann schoben sie ihre Tische zusammen. Sie zogen weiter, von Bar zu Bar, bis der Süßere um drei Uhr morgens im Pianos sagte: »Komm, wir gehen zu mir. Ich wohne gleich um die Ecke.«
Er meinte alle vier. Er und Rachel verschwanden ins Schlafzimmer und kamen erst nach einer Stunde wieder raus, während Elisabeth sich auf dem Sofa mit dem Witzigeren von beiden unterhielt. Sie hatten beide eine Trennung hinter sich, tauschten sich über ihren Kummer und schließlich Telefonnummern aus, sahen sich aber nie wieder.
Im Frühling des Vorjahres hatte sie vor lauter Liebeskummer über fünf Kilo abgenommen. Nomi hatte versucht, sie zum Essen zu zwingen, aber seit Jacob sie verlassen hatte, war Elisabeth der Appetit vergangen.
Jacob. Überall in dieser Stadt versteckten sich Erinnerungen an ihn, wie Ostereier. Der Abend ihres Kennenlernens, auf einer Geburtstagsparty, im Hinterhof von Sweet and Vicious, ihr erster Kuss, in der Schlange vor dem Angelika. Die ganzen Kellerclubs und Bars, wo er mit seiner Band aufgetreten war, Elisabeth immer dabei, der Buchladen namens Strand, wo er tagsüber gearbeitet hatte. In seinem Apartment in Saint Marks hatte er ihr zuerst seine Liebe gestanden, bald danach war er bei ihr eingezogen. Zwei Jahre später hatte er ihr erzählt, dass seine Eltern sich wegen der Affäre seiner Mutter trennen würden, und Elisabeths Vater sei Schuld daran. Er wollte sie nie wiedersehen. Nichts, was sie sagte, brachte ihn wieder zurück.
Die Erinnerung daran ließ sie an Charlotte denken. Elisabeth konnte nicht behaupten, sie zu vermissen. Aber ihr fehlte das Gefühl des Zusammenhalts. Diese Solidarität, die Vorstellung, im selben Boot zu sitzen, diese plötzliche Nähe, die sie zu ihrer Schwester empfunden hatte, nachdem ihr Vater die Beziehung zu Jacob zerstört hatte. Obwohl sie sich jetzt fragte, ob Charlotte je aufgehört hatte, vom Geld ihres Vaters zu leben. Hatte er womöglich die ganze Zeit über die Karten in der Hand gehalten?
Lange war Elisabeth vom Vorgehen ihres Vaters angewidert gewesen, von der Art, wie er Jacob aus ihrem Leben vertrieben hatte. Immer noch wurde ihr übel, wenn sie daran dachte. Aber was wäre aus ihnen geworden, wenn das alles nicht geschehen wäre?
Jacob war ihr Clive gewesen, das wurde ihr jetzt klar.
Über die Jahre hatte Elisabeth immer wieder sein Facebook-Profil aufgerufen. Er sah immer noch gut aus. Seine Band war allerdings erfolglos geblieben. Er arbeitete jetzt in einem Buchladen in Seattle. Seine Freundin war eine Rockerbraut, die offenbar nur schwarze Schlauchkleider besaß. Auf jedem Foto hatte er ein Bier in der Hand. Soweit sie es beurteilen konnte, war Jacob nie erwachsen geworden.
Nomi wartete schon vor dem Spa auf sie.
Sie rannten kreischend aufeinander zu und fielen sich in die Arme.
Wenig später saßen sie in flauschige weiße Bademäntel gekuschelt auf einem Samtsofa in der Lounge und tranken ihr Gurkenwasser. Sie waren extra eine Dreiviertelstunde vor ihrem Termin hergekommen, damit ihnen noch Zeit für dieses Treffen blieb. Nomi hatte ihre Assistentin angewiesen, bei Anfragen zu sagen, ihre Chefin sei im Büro und habe ein wichtiges Telefonat, bei dem sie auf keinen Fall gestört werden dürfe.
Elisabeths Masseuse war eine Frau über sechzig mit grauen Löckchen. Zuerst war sie etwas neidisch auf Nomi, die von einer Zwanzigjährigen mit Pixiefrisur und durchtrainierten Yogaarmen behandelt wurde. Aber die ältere Frau erwies sich als stärker als erwartet. Elisabeth spürte förmlich, wie sie sich unter ihren Händen entspannte.
Während der Schwangerschaft und noch eine ganze Weile danach hatte sie sich von ihrem Körper entfremdet gefühlt, weil ein anderes Wesen, ein winziger Despot, frei über ihn verfügte. Frauen klagten oft darüber, dass niemand sie über die Einzelheiten der Schwangerschaft und Geburt aufgeklärt habe. Aber Elisabeth hatte während der Schwangerschaft so ziemlich alles gehört. Freundinnen hatten ihr erzählt, man würde noch wochenlang danach bluten, synthetisches Oxytocin könne zu unkontrollierbarem Zittern führen und sie müsse sich auf einen Kaiserschnitt einstellen, wenn man ihr welches verabreichte. Bei einer Freundin hatte man während der Periduralanästhesie einen Nerv getroffen, und jetzt verspürte sie keinen Harndrang mehr. Bei einer anderen war ein Teil der Plazenta im Körper geblieben, den sie dann Monate später gebären musste.
Der ganze Vorgang war für Elisabeth so gründlich entzaubert worden, dass sie jedes junge Ding beneidete, das sich völlig arglos in den Kreißsaal legte, ohne zu ahnen, was ihr bevorstand.
Soweit man das von einer Geburt behaupten kann, war Gils Entbindung unspektakulär verlaufen.
Zwei Tage nach der Entlassung hatte sich Elisabeth trotz der ausdrücklichen Warnung der Hebamme einen Spiegel zwischen die Beine geklemmt. Bei dem Anblick, der sich ihr da geboten hatte, war ihr nur ein Gedanke gekommen: Das Tor zur Hölle. Für die nächsten sechs Monate hatte sie schön die Finger vom Spiegel gelassen.
Damals war ihr die Vorstellung, jemand anderes könnte ihren Körper berühren, ein Gräuel gewesen. Doch jetzt lag sie hier, wieder ganz, wieder heil.
Im Massageraum brannten Teekerzen. Im Hintergrund lief sanfte Musik.
Elisabeth lag mit dem Gesicht nach unten, ein U-förmiges, nach Eukalyptus duftendes Kissen unter der Stirn.
Sie hatte sich gerade etwas entspannt, als Nomi sie fragte: »Was gibt es Neues von Andrew und seiner Erfindung?«
Elisabeth seufzte laut. Es war das Letzte, woran sie gerade denken wollte.
»Keine Ahnung. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass das Ding jemals zündet.«
»War das ein Wortspiel?«, fragte Nomi.
»Haha! Wir streiten uns schon seit Wochen darüber. Meist ohne uns tatsächlich mit dem Thema auseinanderzusetzen.«
»Wie das eben so läuft bei euch.«
Nomi war auf dem neuesten Stand. Ihre Meinung dazu ließ sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Du hättest ihn nicht anlügen dürfen, aber nun ist es passiert. Es ist keine Lösung, als Wiedergutmachung ein zweites Kind in die Welt zu setzen.
»Wie dem auch sei«, sagte Elisabeth jetzt, »ich habe dir was viel Interessanteres zu erzählen. Samstagnacht habe ich Sams Freund gegoogelt, und wie sich herausstellt, war er schon mal verheiratet. Ich glaube, sie hat keine Ahnung.«
»Auweia!«, sagte Nomi.
»Und die Ehe hielt nur ganze sechs Monate. Ich würde zu gern wissen, was passiert ist. Hat sie ihn verlassen, weil er sie betrogen hat? Hat er seine Frau gegen ein jüngeres, naiveres Modell ausgetauscht? Das will mir nicht mehr aus dem Kopf. Meinst du, ich sollte sie warnen?«
Nomi schwieg so lange, dass Elisabeth schon fürchtete, sie sei eingeschlafen.
Schließlich meldete sie sich doch zu Wort. »Geht es dir gut?«, fragte sie und klang dabei so besorgt, dass es Elisabeth peinlich war, zwei fremde Mithörerinnen zu haben.
»Geht es um Andrew? Deinen Vater? Oder beides?«
»Was meinst du damit?«
»Wenn du dich von deinen Problemen ablenken willst, stürzt du dich in die Angelegenheiten anderer. Das machst du immer so.«
Diese Bemerkung erwischte Elisabeth zwar eiskalt, aber sie dachte trotzdem darüber nach.
»Stimmt gar nicht«, sagte sie schließlich.
»Erinnerst du dich noch an die Putzhilfe, die du beschützen wolltest, weil du dachtest, sie wird von ihrem Mann betrogen? Du hast ihn beschattet und ausspioniert wie Nancy Drew. Das war gleich nachdem sie dein Buch in der Washington Post verrissen hatten.«
»Na, er hat sie ja auch betrogen.«
»Und als du versucht hast, schwanger zu werden, und dein älterer Kollege gestorben ist? Da warst du ganz besessen von dem Gedanken, du müsstest dich um seine Frau kümmern.«
»Nicht besessen«, sagte Elisabeth. »Ich hab sie lediglich ein paarmal besucht, und wir haben oft telefoniert. Sie war einsam.«
»Du hast ihr dauernd Kuchen gebacken und Brathähnchen gemacht.«
»Das kam alles von Andrew!«
»Ja, weil du ihn dazu gezwungen hast«, sagte Nomi. »Du hast viel Mitgefühl für andere, machst dir ständig Sorgen um sie. Daran ist nichts Schlechtes.«
»Danke.«
»Aber manchmal ist es eben auch nicht gut.«
»Ich versteh schon, was du meinst, ehrlich. Aber Sam ist mir ans Herz gewachsen. Sie ist so etwas wie eine Freundin geworden. Vielleicht ist das mein Problem. Ich habe da sonst keine Freundinnen.«
»Hab ich auch nicht«, sagte Nomi. »Das liegt am Alter.«
»Ach, erzähl mir doch nichts. Du hast zig Freundinnen. Was ist mit der Blonden aus deinem Haus? Und die Lustige, die mit Brians Kollegen verheiratet ist?«
»Mit denen treffe ich mich eigentlich nie. Mal abgesehen davon, dass die meisten Mütter aus Brooklyn dir tierisch auf den Senkel gehen würden.«
»Früher hatten wir so viel Freizeit«, sagte Elisabeth. »Weißt du noch, ganze Sonntage ohne irgendwelche Pflichten? Oder wie aufregend die erste Verabredung war?«
»Es war so aufregend, dass mir speiübel war«, sagte Nomi. »Du vergisst all die Dinge, vor denen man als Frau bei der ersten Verabredung Angst hat. Sehe ich in diesem Kleid süß genug aus? Worüber sollen wir reden? Ist der Typ vielleicht ein Frauenmörder?«
Elisabeth lachte.
»Aber wenn ich noch hier wohnen würde, würden wir uns dauernd treffen«, sagte sie.
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Nomi. »Wir hätten ständig was anderes zu tun.«
»Wir würden uns schon Zeit freischaufeln. Haben wir doch immer so gemacht.«
»Vielleicht. Aber dieser permanente Run auf alles, der dir als Erwachsene in der Stadt so auf die Nerven geht, gilt genauso für die Kinder«, sagte Nomi. »Was man nicht alles anstellen muss, um für seinen Nachwuchs einen Platz in der Schule zu ergattern. Herrje, sogar um die freie Schaukel auf dem Spielplatz muss man kämpfen. Manchmal komme ich mir vor wie damals in der sechsten Klasse, als sich alle denselben Pullover gekauft haben, nur weil das beliebteste Mädchen in der Klasse so einen getragen hat. Alle haben identische Buggys. Was ist das nur? Sie glauben offenbar tatsächlich, dass die Räder abfallen, wenn das Ding nicht mindestens einen Tausender gekostet hat.«
»Aber du fühlst dich hier doch pudelwohl.«
»Ja. Unterm Strich ist es das alles wert. Aber ich hatte nie den Eindruck, dass du es genauso empfunden hast.«
»Ja, da hast du wohl recht«, sagte Elisabeth.
Sie fragte sich, ob ihr die ständige Unzufriedenheit im Blut steckte oder in den Genen.
Beide Masseusen flüsterten, dass sich ihre Kundinnen nun langsam umdrehen könnten.
Mit dem Gesicht nach oben kam sich Elisabeth viel ungeschützter vor. Vor allem jetzt, da Nomi ihre Probleme an die große Glocke gehängt hatte.
Sie schwiegen eine Weile.
Schließlich sagte Elisabeth: »Andrew hat später für uns einen Termin bei Dr. Chen vereinbart. Ohne mich zu fragen.«
»Ach!«, sagte Nomi.
Elisabeth hörte, wie ihre Freundin den Kopf hob.
»Da liegt also der Hund begraben!«
Im Wartezimmer trugen alle Leichenbittermienen. Verkniffene Münder, schicksalsergebene Gesichter, generelle Katerstimmung.
Damals, als sie jeden Tag hier antanzen musste, hätte sie am liebsten irgendwas Unpassendes in die Runde krakeelt oder alle mit einem Eimer Konfetti übergossen. Hauptsache, die Stimmung heben. Eines Morgens quäkte »O. P. P.« aus dem Handy eines Wartenden, die Rap-Hymne aller untreuen Partner, und der arme Mann schaffte es erst nach mehreren Versuchen, das Ding zum Schweigen zu bringen. Es war das Beste, was ihr dort je passiert war und vermutlich je passieren würde.
Jetzt betrachtete sie die anderen Wartenden mit einem gewissen Gefühl der Genugtuung. Hier versammelten sich die Verzweifelten. Aber sie gehörte nicht mehr dazu. Mehr noch, sie wollte es nicht einmal mehr, das, was diese Leute sich so sehnlichst wünschten. Andrew traf ein paar Minuten nach ihr ein, er schob Gil im Buggy. Früher fand sie es völlig daneben, mit einem Kind hier aufzukreuzen, genauso schlimm, als würde man mit Schokokuchen in der Hand zur Diabetessprechstunde erscheinen.
Ein paar Frauen blickten von ihren Handys oder Zeitschriften auf, um sie und Gil genauer in Augenschein zu nehmen. Wäre sie an diesem Tag mildtätig gewesen, sie hätte ihnen zugerufen: Der kommt aus dieser Praxis! Nur nicht aufgeben! Aber sie rangen sich nicht mal ein Lächeln ab, also schwieg sie.
Nomi hatte recht. In dieser Stadt waren ihr tausend Sachen auf die Nerven gegangen. Es war gut, sich wieder daran zu erinnern.
Andrew küsste sie auf die Wange und setzte sich.
»Wie war die Massage?«, fragte er.
»Gut.«
»Und Nomi?«
»Ihr geht es auch gut. Was habt ihr so getrieben?«
»Wir haben im Diner an der Zweiundsiebzigsten gefrühstückt. Gil hatte Pfannkuchen.«
»Ach, na so was«, sagte sie zu ihrem Sohn, ihre Stimme voller Glück.
Elisabeth spürte die Blicke der Unglücklichen, aber das war ihr egal.
»Deinen Eltern hast du nichts gesagt, oder?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Andrew. »Wieso?«
»Nur so.«
Bei ihrer ersten Behandlung hatten Faye und George durchblicken lassen, dass sie IVF als Spleen der Reichen betrachteten, eine Modeerscheinung der Großstädter. Faye zählte die Namen einiger Promis auf, von denen sie wusste, dass sie diese Methode ausprobiert hatten. Als Andrew ihnen ruhig erklärt hatte, dass man jedem Embryo für die Tests nur eine einzige Zelle entnahm, fragte Faye: »Was, wenn diese Zelle der Arm des Babys ist?«
Sie war entsetzt gewesen über die Kosten.
»Das ist ja Wucher!«, sagte Faye zu Elisabeth. »Da würde ich nicht mitmachen.«
Als hätten sie eine Wahl gehabt. Als wäre künstliche Befruchtung wie ein Gebrauchtwagen, bei dem man den Preis runterhandeln konnte.
Nach einer weiteren Viertelstunde bat man sie endlich ins Sprechzimmer, wo sie noch mal zwanzig Minuten warteten. Gil war unruhig. Sie ließen ihn über den Boden krabbeln, die Finger zwischen die Heizungsrippen schieben und hielten ihn auch nicht auf, als er versuchte, eine Schublade aufzuziehen.
Als Dr. Chen ins Zimmer kam, betrachtete er das Baby mit unverhohlenem Stolz. Elisabeth gefiel das überhaupt nicht. Als wäre Gil sein Geschöpf, was natürlich auch irgendwie zutraf, aber trotzdem.
»Hallo, wen haben wir denn da? Wie heißt du denn?«, sagte er.
»Gilbert«, antwortete Elisabeth. »Gil.«
Aus Erfahrung wusste sie, dass Dr. Chen das Gespräch so kurz wie möglich halten würde, und diesmal war sie froh darüber.
»Sobald Sie abgestillt haben, können wir mit der Behandlung beginnen«, sagte er. »Wenn Sie möchten, können wir dem kleinen Mann hier schon zu Weihnachten ein Brüderchen oder Schwesterchen bescheren.«
Am liebsten hätte sie einen Scherz darüber gemacht, wie viel Freude ihr das vergangene Weihnachtsfest mit ihrer Schwester beschert hatte, aber dieses Thema war wie so viele andere zu aufgeladen, um es zur Sprache zu bringen.
Der Arzt konsultierte seinen Computer und las ihre Akte. »Sie haben noch zwei Embryonen der Kategorie B übrig«, sagte er. »In Anbetracht Ihres Alters und der Schwierigkeiten, die wir beim letzten Mal hatten, schätze ich die Erfolgsrate bei einem Embryo auf siebzehn Prozent. Viel höher fällt sie aus, wenn Sie sich entschließen könnten, beide implantieren zu lassen. Dadurch erhöht sich allerdings auch die Wahrscheinlichkeit, Zwillinge zu gebären. Sie müssen sich also vorher gut überlegen, ob das zu Ihrer Planung passt.«
»Absolut nicht«, sagte Elisabeth. »Mit Zwillingen wäre ich völlig überfordert.«
»Ich kann mir Schlimmeres vorstellen«, sagte Andrew.
Elisabeth starrte ihn an. »Was denn zum Beispiel?«
Dr. Chen räusperte sich. »Sie haben offenbar noch Diskussionsbedarf. Dann überlasse ich alles Weitere erst mal Ihnen. Nur eines: Sie sollten es nicht zu lange herauszögern. Je schneller Sie handeln, desto besser. Hat mich gefreut, Sie beide wiederzusehen. Und den berühmten Gil kennenzulernen.«
Er blickte zu Boden.
Erst da bemerkte Elisabeth, dass Gil an den Quasten von Dr. Chens eleganten Lederschuhen lutschte.
»Wir melden uns«, sagte Andrew.
Er hob Gil gelassener vom Boden auf, als sie es hinbekommen hätte.
Auf dem Flur sah Andrew sie erwartungsvoll an.
»Was meinst du?«, fragte er.
Elisabeth wusste, dass ihre Zustimmung die einzige Möglichkeit war, ihn zurückzugewinnen und die Dinge zwischen ihnen wieder geradezurücken. Und dennoch sträubte sich alles in ihr.
»Ich muss in Ruhe darüber nachdenken«, sagte sie.
Zum ersten Mal seit langer Zeit wirkte Andrew zufrieden mit dem, was sie sagte.