Sam und Clive würden bei Maddie übernachten, in der Wohnung in Washington Heights, die sie sich mit zwei anderen Medizinstudenten teilte. Nach dem Babysitten am Samstag nahmen sie den A-Train von der Forty-Second Street, legten aber erst noch einen Zwischenstopp ein, um sich den Neonkoloss namens Times Square anzusehen. Von Maddie und Elisabeth wusste Sam, wie sehr dieser Ort echten New Yorkern zuwider war, aber sie selbst fand ihn herrlich — all die blitzenden Lichter, die bunten Leuchtreklamen, das Getümmel.
In der U-Bahn las Clive ihr Inserate von Schadensrechtsanwälten vor.
»Gibt es hier eigentlich irgendwen, der noch nie jemanden verklagt hat?«, fragte er.
Und Sam sagte: »Ja. Mich.«
Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit Maddie und war erleichtert, Elisabeth das restliche Wochenende los zu sein.
Bei Maddie gingen sie zu dritt in eine Bar um die Ecke. Zurück in der Wohnung legte Clive sich sofort schlafen, und Maddie und Sam unterhielten sich zu zweit.
Sam erzählte ihr von dem Hotelzimmer, in dem sie den Nachmittag und Abend mit Gil verbracht hatten.
»So was habe ich noch nie gesehen«, sagte sie.
»Hast du Fotos gemacht?«, fragte Maddie.
»Nein, aber ein paar Shampoofläschchen vom Putzwagen geklaut. Die Hälfte ist für dich.«
»Nice«, freute sich Maddie.
Sie war ein Jahr älter als Sam. Kennengelernt hatten die beiden sich, als Sams Junior-High-Klasse zum Tag der offenen Tür an der Senior-High ihrer Heimatstadt gewesen war. Maddie hatte sie herumgeführt. Seither waren sie die besten Freundinnen, so schwierig es inzwischen auch war, ihre gemeinsame Vorgeschichte mit ihren neuen Leben und neuen Freundinnen unter einen Hut zu bringen.
Mit niemandem sonst fühlte Sam sich so wohl wie mit Maddie. Sie kamen aus ähnlichen Familien, ja sogar aus fast identischen Häusern: bescheiden, weiß, Kolonialstil, nur an den Fensterläden unterscheidbar. Die von Sams Eltern waren schwarz, die von Maddies rot.
»Elisabeth meint, ich sollte nach dem Abschluss hierherziehen«, sagte Sam jetzt.
»Also ich will ja so schnell wie möglich wieder weg«, entgegnete Maddie. »In eine kleinere Stadt, wo normale Menschen sich das Leben leisten können.«
»Ja, ich hab ihr auch gesagt, dass mir New York viel zu teuer ist«, sagte Sam. »Angeblich hatte sie hier anfangs selbst zu kämpfen. Bloß, na ja, wenn man die Wahrheit kennt … Offenbar kommt sie aus ziemlich reichem Hause. Hat Andrews Vater neulich erzählt.«
Sam holte die Shampoofläschchen aus ihrer Tasche und reihte sie auf Maddies Couchtisch auf.
»Ich dachte, sie hat einfach Geschmack. Ich wusste ja nicht, dass ihr Vater Milliardär ist.«
»Echt, ein richtiger Milliardär?«
»Okay, das vielleicht nicht. Aber trotzdem.«
»Ja, trotzdem«, pflichtete Maddie bei. »Grenzwertig.«
»Die zwei haben damals in Brooklyn gewohnt«, sagte Sam. »Ich wusste gar nicht, dass es in Brooklyn Reiche gibt.«
»Da wohnen die Undercover-Bonzen«, erklärte Maddie. »Sogar Filmstars, aber die Sorte, die ihre Wäsche im Waschsalon wäscht, weil sie denken, so bleiben sie am Boden. So läuft das hier eben. Bei wahnsinnig vielen passt der Lifestyle null zum Beruf. Man lernt eine Dichterin kennen, und dann lädt sie einen zu sich ein, und man sieht, dass sie allein in einem riesigen Stadthaus wohnt. Aber wie sie dazu gekommen ist, darüber redet keiner. Man soll einfach so tun, als würden alle Dichterinnen so leben.«
Isabella gegenüber hatte Sam kein Wort von dem erwähnt, was George erzählt hatte. Die würde das nicht verstehen.
Clive hatte sie davon berichtet, und der hatte gesagt: O Mann, diese Reichen. Alle gleich. Ich hab mir bei Elisabeth schon so was gedacht, nach dem, was du von ihr erzählt hast. Du bist zu vertrauensselig, Babe.
Sofort hatte Sam ihre Offenheit bereut.
Maddies Reaktion dagegen bestätigte ihr, was sie ohnehin bereits gedacht hatte.
»Diese Stadt ist nichts für mich«, verkündete sie. »Die ist … so groß. Und dreckig. Und zu voll. Nicht böse gemeint.«
»Kein Ding«, sagte Maddie. »Ich hab sie ja nicht gebaut. Langfristig ist das für mich hier auch nichts. Aber wenn du nach dem Abschluss herkommst, könnten wir bis zum Ende meines Studiums zwei Jahre zusammenwohnen. Wie wir früher immer wollten, weißt du noch? Du arbeitest in einer Galerie, ich studiere Medizin. Abends kochen wir uns was, schauen im Schlafanzug fern. Gehen mit eineiigen Zwillingen namens Chad und Brad aus.«
Sam lachte.
»Wär das nicht toll?«, fragte Maddie.
»Supertoll. Aber du hast ja schon Mitbewohner.«
»Calvin und Marisa machen im Frühjahr ihren Abschluss. Dann brauch ich jemand Neues.«
»Oooh!«
»Komm, lass uns das machen!«, sagte Maddie. »Endlich zusammenwohnen wie ein altes Ehepaar.«
Sam blickte in Richtung von Maddies Zimmer, wo Clive auf der Luftmatratze schlief.
Als sie ein paar Stunden später zu ihm unter die Decke schlüpfte, wurde er ein bisschen wach.
»New York gefällt mir«, nuschelte er schlaftrunken.
»Du hast doch noch fast nichts gesehen.«
»Ja, aber das hat mir schon mal gefallen.«
»Elisabeth meint immer, ich sollte hierherziehen«, sagte sie, um zu sehen, wie er reagierte.
»Können wir doch, für ein, zwei Jahre. Das wird spitze.«
Er küsste sie und schlief wieder ein.
Sam fühlte sich schuldig. In den Plänen, die sie mit Maddie gesponnen hatte, war Clive nicht vorgesehen. Aber Maddie und sie hatten ja schließlich nur geredet, sich nur zum Spaß ein bisschen ausgemalt, was hätte sein können, wenn Sam nicht Clive begegnet wäre.
Am Sonntag saßen die Orthodoxen nebenan Schiwe. Ein ganzer Strom Trauernder kam an. Die Kinder tobten auf dem Flur, spielten Fangen und krakeelten wie bei jeder x-beliebigen Familienfeier. Ab und zu stürmten die Kleinen versehentlich in Maddies Wohnung. Ein kleiner Junge spazierte ins Bad, pinkelte bei offener Tür und verschwand wieder, ohne sich umzusehen. Sie hätten natürlich abschließen können, aber es war einfach zu lustig.
Sam hatte eine Liste mit den Orten gemacht, die sie mit Clive besuchen wollte, aber am Ende blieben sie die meiste Zeit zu Hause und unterhielten sich mit Maddie und ihren Mitbewohnern. Maddie machte eine Frittata zum Frühstück und zum Mittagessen einen großen Salat mit Walnüssen, getrockneten Cranberrys und Ziegenkäse. Am Abend machte Clive Lachs und Ofenkartoffeln. Unglaublich erwachsen fühlte sich das an, völlig anders als das Wohnheimleben.
Nach dem Abendessen saßen Sam und Clive im Wohnzimmer auf dem Sofa. Als wären sie verheiratet, als gehörte das Apartment ihnen.
Maddie und Clive fanden schnell einen Draht zueinander, was Clive mit Sams anderen Freundinnen nie gelungen war. Schön war das, so zu dritt; Sam mochte Clive — und auch ihre Beziehung mit ihm — lieber, wenn Maddie mit dabei war.
Irgendwann im Lauf des Sonntagabends kam das Gespräch auf den baldigen Auszug von Maddies Mitbewohnern, und Clive verkündete: »Das passt ja prima, Sam und ich überlegen, vielleicht herzuziehen.«
Sam staunte, dass er das noch wusste. Bei dem Gespräch war er ja nicht mal richtig wach gewesen.
Maddie stutzte, und Sam sagte schnell: »Nur ein Gedankenspiel, sonst nichts.«
Clive schniefte und hustete das ganze Wochenende.
Eine Allergie, erklärte er.
»Die Katze wahrscheinlich, tut mir leid«, sagte Maddie.
»Schon okay«, winkte Clive ab.
»Quatsch, das liegt nicht an der Katze! Im Auto hatte er das auch schon!«, sagte Sam.
Sie war angespannt, so als hätte Clive ihre Freundin beschuldigt, obwohl die selbst die Katze angesprochen hatte.
»Wahrscheinlich kommt das davon, dass du in London Tag und Nacht draußen in der Kälte rumläufst. Klar wird man da krank«, sagte sie und bereute es sofort.
»Ich werde nie krank«, erwiderte Clive. »Isso.«
Am Montag hatte Maddie den ganzen Tag Kurse. Sam und Clive gingen auswärts frühstücken.
Ihre Gespräche liefen stockend. Sam hatte das Gefühl, dass sie bemüht nach Themen suchten. Er wollte der Kellnerin kein Trinkgeld geben, und Sam erklärte, dass sich das in Amerika nun einmal so gehörte, wenigstens für anständige Leute. Clive war bloß zu geizig.
Am Abend zuvor hatte sie das auch zu Maddie gesagt, und die hatte geantwortet: »Ich glaube, er ist einfach nur arm.«
Sam war kurz zusammengezuckt, hatte dann aber gesagt: »Ich glaube, er ist beides.«
Nach dem unschönen Frühstück gingen sie in einen Park in der Nähe von Maddies Wohnung und knutschten auf einem Felsbrocken neben einem Teich. Rings um sie saßen Schildkröten, reglos und ungerührt, und sogen nach besten Kräften die schwache Wintersonne in sich auf.
Auf der Heimfahrt sprach keiner von ihnen viel.
»Ich will nicht wieder dahin zurück«, stöhnte Elisabeth.
Sie klang, als müsste sie ins Gefängnis.
Sam hatte immer noch den Eindruck, dass die Lage zwischen Andrew und Elisabeth angespannt war, egal wie Elisabeth von all den aufregenden Dingen schwärmte, die sie in den letzten achtundvierzig Stunden unternommen hatten. Wie sollte man sich auch nicht amüsieren, wenn man in so einem Hotel wohnte, nach Herzenslust beim Zimmerservice bestellte und in Broadway-Shows, zum Wellness und in schicke Restaurants ging?
Nur zu gern hätte Sam vergessen, was George ihr erzählt hatte.
Irgendwann sagte Elisabeth: »Die Freunde, die wir Samstag getroffen haben, haben sich grade eine Wohnung gekauft, fünfundsiebzig Quadratmeter für über eine Million Dollar. Nicht zum Wohnen, sondern als Büro. Die Leute in dieser Stadt haben einfach zu viel Geld.«
Clive stupste Sam an und verdrehte die Augen.
So viele Menschen gaben sich für reicher aus, als sie waren. Warum nur gab Elisabeth sich solche Mühe, durchschnittlich zu wirken? Es war, als würde Sam sie gar nicht richtig kennen.
Doch nach einer Stunde Fahrt quiekte plötzlich Gil auf, und Elisabeth drehte sich nach ihm um. Kurz tauschten Sam und sie dabei ein Lächeln aus, und das fühlte sich so vertraut, so wohltuend an, dass Sam wünschte, sie wären allein oben im Fernsehzimmer, nach dem sonntäglichen Abendessen, und Elisabeth würde erzählen, was mit Andrew los war, und Sam ihr von Clive berichten.
Auf den Rücksitz gequetscht und Andrew und Elisabeth irgendwie ausgeliefert, wirkte Clive wie ein kleines Tier im Käfig. Er konnte nicht stillsitzen. Ständig schnalzte er mit der Zunge, trommelte auf seinen Knien herum. Er war gewohnt, bei Ausflügen den Ton anzugeben. In England wusste Sam nie, wo es lang ging und wie weit es war. Sie ließ sich einfach von ihm führen. So hatten sie es beide gern.
Clive fing an, Andrew über das Auto auszufragen. Andrew wusste nicht viel darüber zu sagen, und Clive stellte seine eigenen Thesen auf.
»Wie viel PS hat die Kiste eigentlich?«, fragte er.
»Hm, zwei-, dreihundert?«, spekulierte Andrew.
»Ich schätze eher hunderfünfundachtzig«, erwiderte Clive.
Knapp achtzig Kilometer vor dem Ziel hielten sie an einer Raststätte, weil Sam und Elisabeth aufs Klo mussten.
Gil schlief.
»Ich bleib bei ihm im Auto«, wisperte Andrew.
»Ich auch«, sagte Clive.
Sam fragte sich, ob Andrew das wohl nervte, ob er auf ein paar Minuten Zeit für sich gehofft hatte.
Elisabeth und sie gingen nach drinnen und vorbei an den Schlangen vor den Fastfood-Läden, deren Angebot Sam in diesem Augenblick ganz köstlich vorkam. Gern hätte sie etwas gegessen, aber sonst war niemand hungrig, und allein wollte sie dann lieber doch nicht.
Elisabeth erzählte vom Zoo im Central Park. Sie meinte, sie könne sich nie richtig entscheiden, ob sie ihn schön fand oder deprimierend.
»Einerseits ist es schon irre, dass man mitten in Manhattan einen Eisbär sehen kann«, sagte sie. »Aber andererseits: Was macht ein Eisbär in Manhattan?«
Sie betraten die Klokabinen, direkt nebeneinander.
Sam wartete ab, ob Elisabeth zu den Frauen gehörte, die sich gern von Kabine zu Kabine unterhielten. Die Entscheidung überließ sie immer der jeweils anderen, aber Elisabeth würde das Gespräch wohl sowieso eher erst am Waschbecken wieder aufnehmen. Richtig vermutet.
»Ist bei dir und Clive alles in Ordnung?«, fragte sie, während die beiden sich die Hände wuschen.
Irgendwas an Elisabeths Tonfall machte Sam nervös. Sie klang, als erwarte sie ein Nein.
»Klar«, sagte Sam.
»Hattet ihr ein schönes Wochenende?«
Sie dachte darüber nach zu erzählen, wie mühsam die Gespräche mit ihm gewesen waren, oder von Maddies Angebot, bei ihr einzuziehen. Doch beides erschien ihr wie ein Eingeständnis, zu dem sie sich nicht bereit fühlte.
Stattdessen sagte sie: »Ja, ich wär nur gern noch ins Guggenheim«, und betrachtete Elisabeth und sich im Spiegel.
Elisabeth wirkte einfach immer aufgeräumt, selbst jetzt, unterwegs in Jeans und Turnschuhen.
Sam dagegen sah zerknautscht aus. Die Ärmel ihrer gestreiften Bluse waren knittrig, ihr Haar völlig zerzaust.
Voll Verdruss bemerkte sie ihre runden Wangen. »Babyspeck«, sagte ihre Mutter immer. Elisabeths Wangen waren beinahe konkav, auf wunderbare Weise hohl, und Sam beneidete sie darum. Clive meinte ja, er fände Elisabeth gar nicht so hübsch, doch Sam fand sie unendlich attraktiv. Ihr strahlendes Lächeln. Das feine Schlüsselbein. Sogar die Fältchen in den Augenwinkeln, die ein bisschen aussahen wie die Sonnenstrahlen auf einem Kinderbild.
Im Wohnheim saßen Shannon und Isabella mit aufgeklappten Laptops auf Isabellas Bett.
»Wie war’s?«, fragte Isabella.
»Lustig!«, sagte Sam.
»Grandios«, sagte Clive.
»Wir wollen gleich noch in die Spätvorstellung von dem neuen Ben-Affleck-Film«, sagte Shannon. »Wollt ihr mit?«
»Ich hab’s ja eigentlich nicht mehr so mit Hollywood«, antwortete Clive, noch ehe Sam etwas sagen konnte. »Das meiste ist sowieso Müll. Ab einem gewissen Alter kann man damit nichts mehr anfangen.«
Und an Sam gewandt: »Für Kino zahle ich bloß noch, wenn im Barbican eine richtig gute Doku läuft.«
Isabella und Shannon sahen erst ihn an und dann wieder ihre Laptops, ohne einen Ton zu sagen.
»Na, wir lassen euch zwei besser mal allein«, sagte Isabella kurz darauf.
»Bleibt doch ruhig!«, sagte Sam.
Aber die beiden flohen schnell in Shannons Zimmer gegenüber und schlossen die Tür.
Als Sam und Clive den Ausflug nach New York geplant hatten, waren Ramona und ihre Freundin noch zusammen gewesen. Jetzt waren sie getrennt und Ramona brauchte ihr Bett wieder, weshalb Isabella auf dem Boden schlafen musste. Alle brachten Opfer für Sam — und für Clive. Wenn er doch nur nicht jede Unsicherheit mit Hochnäsigkeit und Arroganz überspielen müsste.
Sam hörte ihre Freundinnen gegenüber lachen. So oft hatte sie sich, wenn sie mit ihnen zusammen gewesen war, nach London und zu Clive gewünscht. Jetzt war er hier, und sie wollte bei ihnen sein.
»Ich hab einen Mordshunger«, sagte er. »Lass uns doch was bestellen.«
»Die Lieferservices hier machen alle schon um neun zu«, erwiderte Sam.
Aber sie hatte ja noch den Schlüssel zur Küche, den Maria ihr im ersten Jahr für die Frühschicht überlassen hatte. Sam hatte ihn ihr nie zurückgegeben.
»Komm«, sagte sie, und führte ihn an der Hand die Treppe hinab.
Die menschenleere, dunkle Mensa wirkte unheilvoll.
»Wo willst du denn hin mit mir?«, fragte Clive.
»Wirst du schon sehen.«
Auf dem Weg durch den stockfinsteren Saal ließ Clive die Hand über Sams Rücken wandern und kniff sie in den Po. Sam quiekte, und Clive sagte: »Was? Was ist passiert?«, als wäre das nicht er gewesen.
Sam schob den Schlüssel in die schwere Küchentür und drückte sie auf.
»Es ist angerichtet«, sagte sie, indem sie das Licht anknipste.
Aus einem der Kühlschränke nahm sie ein halbes Tablett vom Tex-Mex-Samstag übriggebliebene Enchiladas sowie drei Viertel eines Apple-Pies. Clive nahm ein Schälchen Kartoffelbrei, mit schelmischem Panzerknackergrinsen.
Sam warf einen Blick über die Schulter und ging mit dem Essen zur Mikrowelle. Die kleine Tür zu öffnen, zu schließen und die piepsenden Knöpfe zu drücken, fühlte sich auf aufregende Art verboten an.
Noch ehe sie wusste, wie ihr geschah, spürte sie Clives Lippen an ihrem Nacken. Er umfasste sie von hinten und griff ihr an die Brüste.
»Zieh die Hose runter«, sagte er.
Sam gehorchte. Vor ihrer Nase drehten sich die Enchiladas. Ihre Großmutter hatte mal gesagt, man könne Krebs davon bekommen, zu dicht an einer Mikrowelle zu stehen.
Clive schob ihr eine Hand zwischen die Beine.
»Weiter auseinander«, flüsterte er.
Dann hörte sie seinen Reißverschluss.
Bis Mittwochmorgen hatte Clives angebliche Allergie sich zu einer handfesten Grippe ausgewachsen. Er hatte neununddreißig Fieber, Schüttelfrost und bösen Husten. Sam ging zu ihren Kursen, und als sie drei Stunden später zum Mittagessen wiederkam, war ihr Mülleimer randvoll mit verrotzten Taschentüchern.
Ständig glaubte sie, Symptome an sich zu bemerken, und wartete darauf, dass es auch sie erwischte.
»Kuscheln?«, bettelte Clive. Sam hielt die Luft an und schmiegte sich an ihn wie Pringles in der Dose.
Als sie von den Nachmittagskursen wiederkam, saß er an die Kissen gelehnt im Bett und sah fern. Auf einem Stuhl standen eine Schüssel Hühnersuppe, ein Teller mit Crackern, Zitronenschnitzen und kleinen Päckchen Honig, eine Tasse und eine große silberne Thermoskanne.
»Was ist das denn?«, fragte sie.
»Essen«, sagte er. »Suppe.«
»Woher hast du das?«
»Ich bin runter in die Mensa, ein Glas Wasser holen, und eine deiner Freundinnen hat sich erbarmt.«
Sam wurde wachsam. »Welche Freundin?«
»Delmi. Aus der Küche. Sie meinte, sie würde mir was bringen. Ein Engel ist die. Wir haben ein bisschen Spanisch gesprochen. Sie hat meinen schlechten Akzent toleriert.«
»Ah«, sagte Sam. Und dann, nach kurzem Nachdenken: »Eigentlich ist das ja nicht ihr Job.«
Clive lächelte nur.
Als Sam beim Abendessen in die Küche ging, um sich bei Delmi zu bedanken, tuschelte die gerade mit Maria. Sie sprachen Spanisch, aber Sam schnappte einen Satz auf, den Maria öfter mal gebrauchte.
»Hay pericos en la milpa.«
Da sind Sittiche im Maisfeld.
Zwei studentische Aushilfen standen mit den Rücken zu ihnen an der Spüle.
Waren die etwa die Sittiche? Oder war es Sam?
»Hi, Sam«, sagte Delmi, ohne einen Hauch ihres üblichen Lächelns.
»Danke, dass du Clive geholfen hast«, sagte Sam. »Das war doch nicht nötig. Aber echt nett.«
»Gern geschehen«, antwortete Delmi. Sie linste auf ihr Handy und hielt es dann Maria hin.
»Clive meint, ihr habt Spanisch gesprochen. Er hat ein paar Jahre in Spanien gelebt.«
Delmi wirkte aufgewühlt. »Hm? Ja, sein Spanisch ist prima.«
»Ich hoffe, er hat nicht genervt.«
»Schon okay, Sam«, blaffte Delmi.
Sam dachte daran, was Clive und sie zwei Abende zuvor hier in der Küche getrieben hatten. Ein harmloser Spaß, hatte sie gedacht, aber jetzt fragte sie sich, ob die anderen irgendwoher davon wussten. Sie bereute, was sie getan hatte. Unbedacht war das gewesen. Eklig.
»Bist du sauer auf mich?«, fragte sie. Kindisch klang das, und sie lief rot an.
Delmi blickte vom Handy auf. »Was? Nein, wieso denn?«
Sam nahm Essen für Clive und sich mit nach oben und erzählte, was passiert war.
»Aber sie sagt doch, es hat nichts mit dir zu tun«, antwortete er. »Wahrscheinlich hat sie nur einen schlechten Tag.«
Clive war blass. Wenn er die Augen schloss, sah sie ihm seine Qualen an.
Sam legte ihm eine Hand auf die Stirn, obwohl sie dadurch niemals irgendetwas feststellte.
»Ich hol das Thermometer«, sagte sie.
Ein paar Stunden später hatte Clives Fieber immer noch nicht nachgelassen, und sie brachte ihn zum Campus-Arzt. Der blickte immer wieder zwischen den beiden hin und her, als versuchte er, ein Rätsel zu ergründen.
Am Donnerstag ging Sam ganz normal zur Arbeit. Elisabeth hatte ihr den Tag freigeben wollen, damit sie ihn mit Clive verbringen konnte, doch Sam bestand darauf.
Insgeheim sehnte sie sich nach einer Atempause, auch wenn sie das nie ausgesprochen hätte.
Sie hatte Clive noch niemals krank erlebt. Er war ein ausgesprochen jämmerlicher Patient. Sam versuchte, für ihn da zu sein, aber wenn er die ganze Nacht stöhnte und Schleim hustete, wünschte sie sich, er würde nach unten gehen und auf einem der Sofas im Wohnzimmer schlafen. Wenn sie in ihr Zimmer kam und ihn da liegen sah, war sie jedes Mal aufs Neue merkwürdig erstaunt.
Früher — sogar, während sie zusammengewohnt hatten — hatte sie in immer mit einem gewissen Abstand gesehen. Jetzt kam es ihr vor, als läge über jedem seiner Mängel eine Lupe. Ohne seine grellen Sweatjacken, ohne Markensneaker und ohne Gel im Haar sah er plötzlich aus wie ein mittelalter Mann; ein Dad in weißem Unterhemd.
Hoffentlich legte sich dieses Gefühl bald wieder.
Es tat jedenfalls gut, zu Elisabeth zu kommen.
Doch als Elisabeth fragte, wie die letzten Tage gewesen seien, sagte sie trotzdem: »Super, größtenteils.«
Elisabeth machte aus ihren Sympathien keinen Hehl. Schon mehrfach hatte sie von Isabella geschwärmt. Über Clive hatte sie bislang kein Wort verloren. Gern hätte Sam nachgebohrt, unverblümt gefragt, was sie von ihm hielt. Doch sie fürchtete, die Antwort schon zu kennen. Vor einigen Wochen hatte Elisabeth noch gesagt, Sam solle Clive doch mal zum Essen mitbringen, wenn er zu Besuch sei. Jetzt war er da, und die Einladung war nicht mehr wiederholt worden.
Sam verbrachte einen netten Tag mit Gil, sah ihm zu, wie er durchs Wohnzimmer watschelte, und machte während seines Schläfchens eine Ladung Babywäsche. Sie hielt jedes Teil kurz hoch, bevor sie es in die Maschine warf. Die niedlichen Hemdchen, Hosen und Strümpfe. Manchmal, wenn sie bei Gil war, überkam sie das Gefühl, sie würde explodieren, wenn sie noch länger auf ein eigenes Kind warten müsste. Und dann kam sie sich wieder selber wie ein Kind vor, von all dem Lichtjahre entfernt.
Das Handy klingelte, ihre Mutter. Sam ging ran, die letzten Wäschestücke noch in der Hand.
Ihre Mutter klang müde und ein bisschen traurig.
»Ich mach so viele Überstunden, wie ich kann«, sagte sie. »Letzte Woche an sechs Abenden.«
Sam dachte daran, was ihr Bruder Brendan von ihrem Vater erzählt hatte.
»Wie geht’s Dad?«, fragte sie.
»Ganz okay, ist grade eine schwere Zeit. Der Wirtschaft geht es gut, was sonst auch ihm nutzt. Aber aus irgendeinem Grund macht grade niemand irgendwas an seinen Häusern. Wahrscheinlich bloß die Jahreszeit, im Frühjahr wird das sicher besser.«
Sam wollte das gern glauben, war aber besorgt.
Sie plauderten noch ein paar Minuten, dann verabschiedeten sie sich wieder.
Auf einem Ständer im Wäscheraum hing eins von Elisabeths Kleidern. Der Preiszettel war noch daran.
Das Kleid hing schon das ganze Jahr dort. Sam hatte es x-mal gesehen. Jetzt aber spürte sie dieses vertraute Kribbeln im Nacken, wollte irgendwas beweisen. Sie griff nach dem Preisschild. Fünfhundertfünzig Dollar. Elisabeth hatte es noch nie getragen.
Als Nächstes ging Sam ins Bad und suchte online nach dem Preis der Handseife mit Pfingstrosenduft.
Sechsundvierzig Dollar.
Sam sah den entsetzten Blick ihrer Mutter förmlich vor sich.
Aus der Drogerie sei die Seife, hatte Elisabeth behauptet. Laut Internet gab es sie allerdings exklusiv bei Neiman Marcus. (Oder auch Niemand mag uns, wie Sams Mutter den überteuerten Laden gern nannte.)
Als Elisabeth nach Hause kam, saß Gil in seinem Hochstuhl (siebenhundert Dollar) und mampfte zerdrückte Avocado.
Elisabeth war am Handy, hatte einen Stapel Post in der Hand und verzog entnervt das Gesicht.
Sie lächelte Gil an und sagte ins Handy: »Aber ich habe doch noch drei Ampullen vom letzten Mal. Warum soll ich jetzt neue bestellen? Ich sage doch, die halten noch bis Juni. Okay. Gut. Danke. Die Spritzen sind inklusive, oder? Und die Ersatznadeln? Gut. Nein, nein, schon okay. Ich danke Ihnen.«
Belämmert legte sie auf.
»Sam, ich muss dir was sagen«, hob sie an. »Ich will noch mal schwanger werden. Außer Andrew weiß davon noch keiner. Nicht mal Nomi. Die würde bloß dauernd nachfragen, und ich will möglichst wenig Druck aufbauen.«
»Klingt vernünftig.«
Sam fühlte sich geschmeichelt, so ins Vertrauen gezogen zu werden. Andererseits: So viel Zeit, wie sie in diesem Haus verbrachte, ging das wohl gar nicht anders.
»Eigentlich wollte ich ja keine Kinder mehr«, sagte Elisabeth.
»Und wieso hast du deine Meinung geändert?«
»Habe ich gar nicht. Aber wir haben noch zwei Embryos, und Andrew würde am liebsten beide gleichzeitig einsetzen. Zwillinge! Ich will lieber gar keine mehr. Da keiner von uns den anderen überzeugen konnte, treffen wir uns in der Mitte. Also bei einem — potenziellen — Kind.«
So sollten die beiden das wirklich entschieden haben? Der Entschluss, neues Leben in die Welt zu setzen, nichts als eine Rechenaufgabe, ein schaler Kompromiss?
»Sehr wahrscheinlich klappt es sowieso nicht«, sagte Elisabeth.
Sie klang, als würde sie darauf sogar hoffen.
»Nächste Woche geht das mit den Spritzen los, unter Aufsicht einer Ärztin. Wenn alles glatt läuft, wird mir in einem Monat in New York der Embryo eingesetzt.«
Altersmäßig wären die Kinder ganz schön dicht beieinander. Gil war noch kein Jahr alt. Wäre Elisabeth einfach nur eine Freundin gewesen, hätte Sam gefragt, ob sie sich das auch wirklich gut überlegt hat.
Zurück im Wohnheim war Clive schon eingeschlafen. Süß sah er aus. Bis Samstag noch. Morgen würde sie versuchen, seine Abreise zu verdrängen, und das letzte bisschen Zeit mit ihm zu genießen. Niemals liebte Sam ihn so sehr wie am letzten Abend.
Am Freitag ließ Clives Fieber nach. Er war fit genug, um zu duschen, sich anzuziehen und Appetit zu haben. Sam hing an ihm wie eine Klette, konnte die Hände nicht von ihm lassen.
»Bleib bei mir«, sagte sie. Und: »Wenn ich ganz fest daran denke, wird dein Flug vielleicht storniert.«
Abends gingen sie zusammen essen. Selbst im Neonlicht des Billig-Thailänders sah er heute ganz besonders gut aus, fand Sam. Als er vorschlug, hinterher noch ein Eis essen zu gehen, schüttelte sie den Kopf und sagte: »Ich will schleunigst nach Hause mit dir.«
Clive nickte. »Ich denke, das lässt sich einrichten.«
Im Wohnheim drangen Stimmen aus dem Gemeinschaftsraum.
»Was ist denn da los?«, fragte Clive. Wenn er eine gute Party witterte, war er geradezu körperlich unfähig, sie auszulassen.
»Bestimmt nichts Besonderes«, sagte sie.
Mit Clive bei Maddie zu sein, oder in den Straßen von New York, oder sogar beim Thailänder hier in der Stadt, fühlte sich ganz natürlich an. Aber auf dem Campus war Sam immer noch befangen. Sie wollte nicht peinlich berührt danebenstehen, während er versuchte, sich mit einem Haufen Collegestudentinnen zu unterhalten.
Nächstes Jahr würde ihr wahres Leben weitergehen. Dann würde der Altersunterschied nicht mehr so ins Gewicht fallen.
Sie gingen die Treppe hinauf zum Zimmer.
Isabella rannte auf sie zu. Die ganze Woche war sie ihnen aus dem Weg gegangen, jetzt rief sie: »Sam! O Gott! Sam!«
Sams Puls wurde schneller.
»Was ist los?«, fragte sie. »Ist was passiert?«
»Hör mal, meine Mailbox«, sagte Isabella. »O Gott, schau mal, wie ich zittere.«
Sie stellte ihr Handy auf Lautsprecher, Clive und Sam beugten sich vor, um besser zu hören.
»Hey, Schlampe, Inez hier, Josephs baby mama. Lass bloß die Pfoten von ihm, sonst kratz ich dir deine verfickten Augen aus, ich schwör. Leg dich bloß nicht mit mir an, Bitch.«
Erst dachte Sam, diese Inez musste sich verwählt haben.
»Wer ist denn Joseph?«, fragte sie.
»Der Stripper-Hiwi!«, sagte Isabella.
»Und der hat ein Kind? Dessen Mutter sich tatsächlich selber als baby mama bezeichnet?«
»Anscheinend ja.«
»Und das fand er nicht erwähnenswert.«
»Nope.«
»Aber deinen Namen hat er sich auf den Arm tätowieren lassen?«, warf Clive ein.
Sam war gerührt, dass er sich daran erinnerte.
»Den ersten Buchstaben«, sagte Isabella. »Das I.«
»I … Inez … Aha.« Clive nickte. »Was für ein Arsch.«
Isabella lachte. »Aber echt«, sagte sie.
Sam fragte sich, ob Clive sie endlich doch noch für sich eingenommen hatte.
Sie nahm seinen Arm. Was für ein Glück, dass sie ihren Menschen schon so früh gefunden hatte. Die meisten ihrer Freundinnen würden noch Jahre suchen.
Am nächsten Morgen machten sie sich hektisch fertig. Bald schon würde George sie abholen kommen.
»Wann geht noch mal dein Flug?«, fragte sie.
»Viertel zehn«, sagte Clive.
Sam konnte sich nie merken, ob das bei ihm Viertel vor oder nach zehn bedeutete.
»Wir brauchen Kaffee«, sagte sie, während er mit dem Verschluss seines Koffers kämpfte. »Wir treffen uns unten, okay?«
Sam ging in die Küche.
Anders als sonst, wenn sie durch die Schwingtür trat, waren Maria und Delmi nicht bei der Arbeit, sondern beugten sich über irgendetwas auf der Theke. Als die Tür aufging, erschraken sie, und Maria versteckte das Objekt ihres Interesses schnell hinter dem Rücken.
»Komm mal mit«, sagte sie und führte Sam in die Speisekammer.
Der Kaffeeduft beschwor Erinnerungen an Frühstück in ihrem Elternhaus herauf, an Sonntage im Bett mit Clive in London und an die frühen Morgenstunden hier in dieser Küche, ans Quatschen mit Gaby beim Kochen.
»Schau dir das an«, flüsterte Maria. »Delmi hatte schon vorher was läuten gehört.«
Sam nahm die dünn gefaltete Zeitung entgegen.
Da war er. Ihr Brief, zwei Spalten über eine halbe Seite. Und daneben eine Antwort von Präsidentin Washington.
Sams Herz pochte. Sie versuchte, überrascht zu wirken, verwirrt sogar.
»Was ist das?«, fragte sie blöde, konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen.
»Ärger«, antwortete Maria.
Sam fühlte sich, als wäre sie mit dem Kopf gegen die Wand gelaufen.
»Ärger? Wieso?«, fragte sie.
»Lies«, sagte Maria.
Und Sam las.
Liebe Studentin,
vielen Dank für Ihre Anteilnahme. Und auch dem Collegian danke ich für dieses Forum.
Auf Ihre spezifischen Vorwürfe kann ich leider nicht eingehen, ohne zu wissen, von wem dabei die Rede ist (beziehungsweise: ob es Ihnen überhaupt um konkrete Personen geht oder um allgemeinere Anliegen …). Ich versichere Ihnen allerdings, dass die Service-Kräfte ein geschätzter Teil unserer Gemeinschaft sind, ja das Rückgrat dieses Colleges. Wir sind für ihre unermüdliche Arbeit täglich dankbar. Falls das nicht deutlich genug wurde, muss sich das ändern. Deshalb haben Barney Reardon (der Leiter der RADS) und ich das Servicepersonal für heute Nachmittag, fünf Uhr, zu einem offenen Austausch über dessen Arbeitsbedingungen eingeladen. Das Gespräch wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, über die Ergebnisse wird hier berichtet werden.
Danke für Ihr Engagement und Ihre Offenheit.
Hochachtungsvoll
Shirley Washington
Sam sah Maria an. »Das ist doch gut, oder? Sie will euch anhören. Sie ist toll, sag ich doch immer. Sie wird euch sicher helfen.«
Maria seufzte. »Alle paar Jahre hat eins der Mädchen hier eine Erleuchtung, geht zur Verwaltung, und dann passiert rein gar nichts. Einmal gab’s sogar eine große Demo auf dem Campus. Oder zweimal? Hoffentlich nie wieder, jedenfalls. Reine Zeitverschwendung. Auf das Gespräch könnte ich auch verzichten, trotzdem müssen wir da alle hin. Barney Reardon hat noch nie was für uns getan, das wird sich auch jetzt nicht ändern.«
Sie hörten Schritte vor der Speisekammer und traten wieder in die Küche. Eine studentische Aushilfe, deren Name Sam nicht einfiel, band gerade ihre Schürze.
Marias Miene machte klar, dass das Gespräch beendet war.
»Hi Sarah«, sagt sie. »Stellst du bitte erst die Cornflakes raus?«
Sam trat aus der Küche und ging durch die Mensa.
Der Speisesaal füllte sich langsam mit Studentinnen, die sich, teils noch in Pyjamas und Kapuzenpullis, über Waffeln und Rührei hermachten; andere kamen schon mit Jacke und Rucksack, füllten ihre Thermosbecher mit Kaffee und toasteten Bagels, um sie auf dem Weg zum Kurs zu essen. Alle glaubten sie, dies sei ein Tag wie jeder andere.
Das wurmte Sam, aber was hatte sie auch anderes erwartet? Ihre Freundinnen und sie begannen den Tag auch nie mit hitzigen Diskussionen über Artikel in der Campuszeitung.
Sie ging raus. Erst als der Wind in den dünnen Seiten raschelte, bemerkte sie, dass sie die Zeitung immer noch in Händen hielt.
Vor dem Eingang stand Georges Auto, Clive saß schon wieder auf dem Rücksitz. Die beiden unterhielten sich lächelnd, als wäre das völlig normal.
Sam stieg demonstrativ vorne ein.
Ihr Kopf schwirrte, ihr Herz raste.
»Doch kein Kaffee?«, fragte Clive.
»Hm, was?«
George erzählte irgendetwas, doch sie konnte ihm nicht folgen.
Als er an der Tankstelle hielt, sah Sam ihm auf dem Weg zur Zapfsäule nach.
Dann drehte sie sich zu Clive um. »Mein Brief ist heute im Collegian. Präsidentin Washington hat geantwortet und trifft sich heute zum Gespräch mit dem Servicepersonal. Schau.«
Sie reichte ihm die Zeitung.
»Hey, gut gemacht!«, lobte Clive.
Kurz las er im Stillen die Antwort der Präsidentin. Dann blickte er auf und sagte: »Wie arrogant ist das denn bitte? ›Ob es Ihnen überhaupt um konkrete Personen geht‹? Als hättest du dir die bloß ausgedacht. Blöde Kuh.«
Irgendwie wurde Sam erst da klar, dass sie gar nicht wegen Marias Reaktion so aufgebracht war, sondern weil Clive recht hatte. Diese Erwiderung war abschätzig, berechnend, beinahe vorwurfsvoll. Als wäre die Frau, deren Rede Sam sich so oft angesehen hatte, in Wahrheit ein völlig anderer Mensch.
George zog den Zapfhahn aus dem Tankstutzen und drehte den Deckel wieder zu.
»George soll davon nichts wissen«, sagte Sam. »Erst mal gar niemand, am besten.«
»Warum nicht?«, erwiderte Clive. »Ist doch super, dass du das gemacht hast. Die meisten dieser Collegegirls haben doch die Köpfe viel zu tief in ihren eigenen Ärschen, um auch mal an andere zu denken.«
Das hätte auch Gaby sagen können.
Gaby. Was würde die wohl davon halten? Sie hatte gleich gesagt, dass Maria das nicht wollen würde. Warum nur hatte Sam nicht auf sie gehört?
Schon seit ihrer Kindheit hatte sie immer wieder einen Albtraum, in dem sie im Auto eine kurvige Bergstraße hinabraste, ohne dass sie fahren konnte. Manchmal fielen auch die Bremsen aus. Genau so fühlte Sam sich jetzt. Sie wünschte, sie könnte einfach aufwachen, erleichtert, dass alles nur ein Traum war. Mit einem Mal bereute sie furchtbar, was sie getan hatte.
Am Flughafen wartete George im Wagen, während Sam und Clive sich verabschiedeten.
Sie umarmten sich vor dem Terminal. Sam musste sich auf die Zehenspitzen stellen.
Clive nahm ihr Kinn in die Hand. »Du bist die Allerbeste«, sagte er. »Ich liebe dich. Und ich bin stolz auf dich, weil du diesen Brief geschrieben hast.«
»Ach …«, sagte sie.
»Du wirst mir furchtbar fehlen.«
»Du mir auch. Ich mag dich nicht gehen lassen.«
»Zum Glück ist damit ja bald Schluss«, sagte er. »Bald wirst du für den Rest meines Lebens immer neben mir sitzen, wenn ich in ein Flugzeug steige.«
Clive hielt sie fest in seinen Armen, bis ein Polizist vorbeikam und sie weiterschickte.
Am Abend, vor dem Essen, ging Sam in die Küche. Sie war leer. Nicht nur die Menschen fehlten, sondern auch Dinge. Delmis Pflanzen waren weg, die kleine Madonna war verschwunden. Sogar das Foto von Josie war von der Salattheke entfernt worden — nur ein Tesa-Rest war übrig.
Sam hörte Geräusche aus der Speisekammer. Gaby stapelte Dosen mit Bohnen und passierten Tomaten.
»Wie lief das Gespräch?«, fragte Sam.
»Scheiße«, antwortete Gaby frostig.
»Was ist passiert?«
»Deine geliebte Präsidentin war stinksauer. Wer auch immer diesen Brief geschrieben hat, hat sie blamiert, meint sie. Sie hat uns sogar vorgeworfen, wir würden selbst dahinterstecken. Weil keine Studentin das alles gewusst haben könnte. Weißt du, was Delmi hinterher zu meiner Tante gesagt hat? ›Der Brief klingt wie Gaby, wenn sie einen schlechten Tag hat.‹«
Sam lief knallrot an.
Gaby zog einen Zettel aus ihrer Handtasche.
»Was ist das?«, fragte Sam.
»Der neue Verhaltenskodex. Mussten wir alle unterschreiben.«
Gaby las vor: »Abschnitt vier: Mitarbeiter*innenzufriedenheit und Kommunikation. Ein positives, konstruktives Verhältnis zwischen dem College und seinen Mitarbeiter*innen ist wesentlich für die Erfüllung der Aufgaben unserer Institution. Bringt das Verhalten oder die Kommunikation von Mitarbeiter*innen auf dem Campus oder außerhalb davon, on- oder offline, einen Vertrauensverlust oder ernsthaften Dissens mit dem College zum Ausdruck, erkennen die Mitarbeiter*innen an, dass das College das Arbeitsverhältnis nach eigenem Ermessen zur Disposition stellen kann.«
Gaby sah Sam an. »Anders ausgedrückt: Haltet die Schnauze oder verpisst euch.«
»Abschnitt neun: Persönliches Eigentum. Ab sofort darf kein persönliches Eigentum mehr in den Campusküchen aufbewahrt werden. Handtaschen, Jacken und andere kleinere Gegenstände sind in den bereitgestellten Spinden zu verwahren. Abfälle sind Eigentum des Colleges und dürfen nur von den damit beauftragten Abfallbeseitigern vom Campus entfernt werden. Essen und Getränke sind Eigentum des Colleges und dürfen unter keinen Umständen vom Campus entfernt werden. Zuwiderhandlung wird als Diebstahl betrachtet und hat sofortige Kündigung zur Folge.«
Sam stand mit offenem Mund da.
»Der Brief ist von dir, stimmt’s«, sagte Gaby.
Es war keine Frage.
»Scheiße, Sam! Ich hab dir das im Vertrauen erzählt, als Freundin. Nicht, weil ich wollte, dass du die Welt rettest. Wenn ich gewollt hätte, dass die Scheiß-Präsidentin das hört, hätte ich’s ihr selbst gesagt. Hab ich dir irgendwie den Eindruck vermittelt, dass ich mich nicht traue, den Mund aufzumachen, wenn mich was stört?«
Sam musste unwillkürlich schmunzeln. Aber Gaby lachte nicht. Wütend sah sie aus. Diesen Blick hatte Sam von ihr noch nie abbekommen.
Gaby atmete einmal kräftig durch, wie sie es laut Maria immer tun sollte, wenn eine hochnäsige Studentin ihr auf die Nerven fiel.
»Nach dieser Definition von ›Diebstahl‹ hab ich schon haufenweise Zeug gestohlen«, sagte Sam. »Und die meisten, die ich kenne, auch.«
Gaby zuckte die Achseln.
»Das ist doch bescheuert. Wir könnten eine Demo organisieren«, schlug Sam vor. »Hier demonstrieren doch sowieso alle für ihr Leben gern. Ernsthaft.«
»Lass diese Frauen mal schön selber für sich sorgen«, sagte Gaby. »Das haben sie ihr Leben lang gemacht.«
»Aber mein Freund George, der hat so eine Gruppe. Die helfen Leuten, die vom System unfair behandelt werden. Ich könnte —«
Gaby schüttelte den Kopf. »Noch mehr Aufmerksamkeit ist das Letzte, was wir brauchen können. Wir können uns nicht leisten, über unfaire Behandlung zu jammern. Wir sind nicht wie du.«
Sam kam sich dumm vor.
»Es tut mir furchtbar leid«, sagte sie. »Echt. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich hätte unterschreiben sollen. Wenn jemand Ärger kriegen sollte, dann ich.«
»Das hätte auch nichts geändert«, sagte Gaby. »Das College erwartet von euch, dass ihr protestiert. Und dass ihr euch dann wieder anderen Dingen zuwendet. Die wissen genau, was sie tun. Es ist ihnen einfach bloß egal.«
Gaby ballte die Fäuste.
»Ich muss hier raus«, sagte sie, »’nen anderen Job finden. Eine Freundin von mir ist Nanny, die verdient gutes Geld, hört aber demnächst auf. Sie will mich empfehlen. So richtig seh ich mich da ja nicht, aber vielleicht könnte ich da Josie mit zur Arbeit nehmen …«
Sam überlegte. Vielleicht könnte Gaby sie nach ihrem Abschluss bei Elisabeth ablösen. Ein Traumpaar wären die beiden wohl nicht gerade, aber dafür wäre Elisabeth vermutlich sogar stolz darauf, ihre Nanny ihr eigenes Kind zur Arbeit mitbringen zu lassen.
»Weißt du, ich bin ja auch Nanny …«, hob sie an.
Gaby verzog so angewidert das Gesicht, als hätte sie etwas Verdorbenes gegessen.
»Nenn dich nicht so«, blaffte sie. »Du warst noch nie eine Nanny, Sam.«
Sam stutzte. »Doch, war ich. Bin ich.«
»Du hast nicht die geringste Ahnung, wie das ist.«
Sam war verwirrt. Hatte Gaby einen falschen Eindruck davon gewonnen, wer sie war, wo sie herkam? Ihr fiel ein, was George mal über Elisabeth gesagt hatte.
»Ich hab auch kein Sicherheitsnetz, weißt du«, sagte sie. »Ich verstehe das sehr wohl. Ich habe pausenlos Geldsorgen. Mein Vater steckt gerade —«
»Sam«, unterbrach Gaby. »Letztes Jahr hat deine Freundin dich nach London eingeflogen, weil du traurig warst und sie Geburtstag hatte. Für wen hältst du dich? Du hast kein Sicherheitsnetz? Keine Familie, zu der du gehen kannst, keine Eltern, die dich notfalls durchfüttern würden?«
Sie breitete die Arme aus. »Und das hier alles, ist das kein Sicherheitsnetz? Maria, die hat kein Sicherheitsnetz, die ist selber eins, für einen ganzen Haufen Leute.«
»Ich weiß. Maria ist großartig.«
Gaby schnaubte. »Das kannst du dir sparen. Du hast ihr das Leben zehnmal schwerer gemacht, als es sowieso war. Meine Tante wird dafür bezahlt, zu Mädchen wie dir nett zu sein.«
Das saß. Sam stiegen die Tränen in die Augen.
»Oh, willst du jetzt heulen?«, höhnte Gaby. »Soll ich dich trösten, ja? Nachdem du mich am langen Arm verhungern lassen hast? Hey, kein Ding, ich check das schon. Ich war deine Übergangsfreundin. Dann kamen deine echten Freundinnen zurück und du hast mich nicht mehr gebraucht.«
»Das stimmt nicht«, sagte Sam. »Überhaupt nicht. Ich hatte bloß so viel um die Ohren.«
»Ich hab zwei Jobs und ein Kind. Erzähl mir nichts von um die Ohren«, erwiderte Gaby. »Egal, du gehst jetzt besser. Schau, hier steht’s: Abschnitt zwölf, keine Verbrüderung mit den Studentinnen. Geh doch zu deiner Prinzessin. Die hat sicher jede Menge Zeit für dich.«