Elisabeth schob den Buggy über den Campus und hörte den Vögeln zu.
Niemand war unterwegs, das Gelände war wie leergefegt. Über Nacht waren alle verschwunden. Auf dem Platz standen keine Klappstühle mehr, die Bühne und das Zelt waren auch weg. Das Gras strahlte makellos grün, als hätte die Zeremonie nie stattgefunden, als hätten die jungen Frauen in ihren schwarzen Talaren und Baretten hier nie in Reihen gesessen, nervös fummelnd, während die Absätze ihrer Pumps im weichen Boden versanken.
Elisabeth war sich nur so sicher, dass sie alle dort gesessen hatten, weil sie sie mit eigenen Augen gesehen hatte.
Der Brief mit der Einladung trug den Poststempel des Tages, an dem sie sich so fürchterlich mit Sam gestritten hatte. Zwei Tage später war er eingetroffen, an einem Mittwoch.
Am Morgen danach hätte Sam das erste Mal seit dem Streit wieder auf Gil aufpassen sollen. Elisabeth war in letzter Sekunde ins Büro geflohen und hatte Andrew angewiesen, Sam auszurichten, dass sie ein wichtiges Telefonat mit ihrer Agentin führen müsse. Das stimmte zwar, aber sie wusste ganz genau, dass sie ohne den Streit von zu Hause aus mit ihr telefoniert hätte. Sie war ein Feigling, das gab sie offen zu. Andrew sollte erst mal vorfühlen und ihr Meldung machen, bevor sie es wagte, Sam nach Feierabend unter die Augen zu treten.
Kaum war sie im Büro, fiel ihr Sams Drohung wieder ein, und sie fragte sich, ob es klug gewesen war, Andrew mit ihr allein zu lassen.
Vielleicht sollte ich das einfach auch mit dir machen. Damit du merkst, wie sich das anfühlt, hatte sie gesagt. Die Worte klangen so fies. So gar nicht nach Sam.
Elisabeth hatte Andrew erklärt, Sam sei sauer auf sie, weil sie sich in ihre Beziehung zu Clive eingemischt habe. Den Rest hatte sie verschwiegen.
Jetzt malte sie sich das Schlimmste aus. Sie sah Sam und Andrew in der Küche, das Baby auf Sams Hüfte. Es gibt da was, das du über deine Frau wissen solltest, hörte sie sie sagen.
Andrew könnte sie verlassen!
Elisabeth hatte sich so in die Sache reingesteigert, dass sie das ausstehende Feedback ihrer Agentin zu den ersten Kapiteln des neuen Buchs ganz vergessen hatte. Deswegen war sie überrascht, als Amelia am Telefon als Erstes »Hör zu« sagte, denn sie wusste aus Erfahrung, was dieser Einleitungssatz bedeutete.
»Technisch ist das Buch gut«, fuhr Amelia dann auch fort. »Es ist großartig. Alles, was du schreibst, ist großartig, du bist eine großartige Schriftstellerin.«
»Aber?«
»Aber es ist offensichtlich, dass du nicht mit Leidenschaft dabei bist.«
»Das sehe ich anders.« Sie war gekränkt, obwohl es stimmte.
»Warum ist dieses Thema jetzt gerade für dich relevant? Was hat es mit dir zu tun, mit deinem Alltag, mit dem, was dich beschäftigt?«
»Nicht jedes Buch muss autobiografisch sein«, entgegnete Elisabeth. »Das sind meine anderen auch nicht. Ich bin Journalistin.«
»Klar. Selbstverständlich«, sagte Amelia. »Aber seien wir mal ehrlich. Frauen und Sport? Sport ist dir ein Gräuel.«
Elisabeth sollte über das schreiben, was sie am meisten beschäftigte? Vielleicht ein Buch über Frauen, die ihre Männer bezüglich ihrer Fruchtbarkeit belügen? Oder über eine Frau, die einfach nicht normal sein konnte, sosehr sie es sich auch wünschte. Eine, die sich in das Leben einer erheblich Jüngeren einmischt, statt sich um ihr eigenes zu kümmern.
»Wovor hast du Angst?«, fragte Amelia. »Was geht dir nicht mehr aus dem Kopf?«
Es war alles zu viel, die Situation mit dem Buch, die Sache mit Sam. Elisabeth beschloss, sich noch länger in ihrem Büro zu verschanzen. Sie bat Andrew, früher Feierabend zu machen, irgendeinen Vorwand zu erfinden. Mit Sam würde sie sich am nächsten Tag auseinandersetzen.
Doch nach diesem Tag kehrte Sam nie mehr zurück. In der Woche darauf hatte Elisabeth zigmal den Hörer in die Hand genommen und wollte sie anrufen, sich bei ihr für ihre Übergriffigkeit entschuldigen. Aber jedes Mal fielen ihr die Dinge ein, die sie sich an den Kopf geworfen hatten, und sie wusste wieder, dass sie nicht mehr daran rühren wollte. Es war so bitter, so schrecklich.
Stattdessen beschloss sie, an der Abschlussfeier teilzunehmen, Sam ihr Geschenk zu übergeben und sich bei dieser Gelegenheit zu entschuldigen. Keine großen Erklärungen, einfach: Das hätte ich nicht tun sollen, verzeih mir. Schon möglich, dass es so richtig nach hinten losging — vielleicht würde Clive sie angreifen, weil sie sich eingemischt hatte, oder Sams Mutter würde sie als schreckliche Person beschimpfen. Es könnte aber auch alles glatt laufen, dann würden sie sogar wie geplant am nächsten Tag in ihrem Haus feiern.
Elisabeth trug ein rotes Blusenkleid, flache Schuhe und eine Sonnenbrille. Sie stellte sich etwas abseits hin, weg von den Familienmitgliedern, und kam sich ziemlich fehl am Platz vor, ein bisschen verloren. Die Sonne strahlte. Der blaue Himmel über den Backsteingebäuden verlieh dem Ganzen Klarheit und Schärfe, alles wirkte blitzblank, perfekt.
Als die Absolventinnen ihre Plätze einnahmen, entdeckte sie Sam aus der Ferne. Ernst sah sie aus, entschlossen, doch dann grinste sie breit und fing an zu lachen. Noch nie hatte Elisabeth sie so gesehen. Kurz brach Sam aus ihrer Reihe aus, um ihre Verwandten zu umarmen und zu küssen, die ein selbstgebasteltes Schild hochhielten. Was darauf stand, konnte Elisabeth nicht entziffern.
Sie hatte sich geirrt. Sie war hier nicht willkommen. Sie hätte nicht kommen sollen. Also machte sie auf dem Absatz kehrt und ging davon. Als Andrew sie fragte, warum sie so früh zurück sei, behauptete Elisabeth, sie habe Kopfweh und müsse sich hinlegen.
Jetzt, zwei Tage danach, ging sie wieder über den Campus, sie war auf dem Weg zur weißen Unitarierkirche, die sich hinter dem naturwissenschaftlichen Trakt verbarg. Dort, im Untergeschoss des Gemeindehauses, befand sich nämlich die Kita für Collegemitarbeiter und ihre Familien, geleitet von Maris Ames, einer liebevollen fröhlichen Frau mit dichtem, fast violettem Haar.
Sie begrüßte sie lächelnd an der Tür. Gil grinste begeistert zurück.
Seit drei Tagen konnte er laufen. Ein Schritt oder zwei, dann fiel er wieder hin oder klammerte sich an irgendeinem Möbelstück fest. Es war ein Meilenstein, den jedes Kind ungefähr in seinem Alter erreichte, doch Elisabeth und Andrew kriegten sich vor Stolz gar nicht mehr ein.
Während Gil den Raum erkundete, Klötze und Bücher aus Kisten zog und sie auf dem Boden verteilte, erklärte Maris, dass die Kinder während des Semesters von Studentinnen aus dem Department für frühkindliche Erziehung betreut wurden.
»Wunderbare Mädchen. Jedes einzelne persönlich ausgesucht, Nieten gibt es hier nicht«, sagte sie. »Solche, die richtig anpacken, erkenne ich sofort, schließlich bin ich schon seit vierzig Jahren dabei. Und im Sommer, wenn Semesterferien sind, haben wir hervorragende Aushilfen. Ältere Frauen mit Erfahrung. Großmütterlich.«
Elisabeth lächelte. Die Frau gefiel ihr.
Ihre Nachbarinnen hielten die Kita für überteuert. Aber nach New York konnten sie hohe Preise nicht mehr schocken. Im Gegenteil, in ihren Augen war die Kita ziemlich günstig, wenn nicht sogar ein absolutes Schnäppchen.
»Und haben Sie bald einen Platz frei?«, fragte sie.
»Sobald Sie wollen.«
Elisabeth wollte Gil eigentlich ab der folgenden Woche betreuen lassen, doch jetzt sagte sie: »Vielleicht ab Ende Juli?«
»Sicher«, sagte Maris.
Auf diese Weise bliebe ihr noch ein bisschen mehr Zeit mit ihrem Kind, das täglich weiter dem Babystadium entwuchs. Vielleicht könnte Faye ein bisschen auf ihn aufpassen, sie hatte ja jetzt Sommerferien. Elisabeth hatte sich vorgenommen, ihre Schwiegermutter stärker einzubeziehen. Schließlich waren sie nicht mehr frisch hergezogen, sondern lebten hier. Sie sollte sich mehr Mühe geben.
Es würde sich einiges ändern, wenn Gil den ganzen Tag aus dem Haus war und sie nicht einfach mal nach ihm sehen konnte, wenn ihr danach war. Doch der Kontakt mit Gleichaltrigen würde ihm sicher guttun. Das erste Jahr mit ihm würde sie trotzdem vermissen, diesen Kokon der Zweisamkeit, und Sam.
Sam war nur an drei Tagen der Woche bei ihnen gewesen, in der Kita wäre Gil jeden Tag, von morgens bis abends. Elisabeth verspürte Bedauern bei dem Gedanken daran, wie wenig sein Alltag dann noch mit ihrem verbunden sein würde. Sie verspürte den Impuls, ihre Arbeit einfach aufzugeben, um die nächsten zehn Jahre mit Gil zu basteln und zu malen, obwohl sie genau wusste, dass sie dann durchdrehen würde.
Andrews Fellowship würde bald auslaufen. Er hatte keine Pläne für die Zeit danach. Der Prorektor am Hippie-College hatte angedeutet, ihn als eine Art Mentor zu behalten, aber keiner wusste, ob daraus etwas würde. Sie musste ihr Buch schreiben.
Wenn Elisabeth an Sam dachte, hatte sie immer das Gefühl, etwas zerstört zu haben, obwohl sich ihre Wege ohnehin getrennt hätten. Sie würde trotzdem hier stehen und so tun, als würde sie Maris Ames’ Vortrag über Montessori-Methoden lauschen, während sie den leuchtend bunten Raum inspizierte, um sicher zu sein, dass keine Sachen herumlagen, an denen Gil sich verschlucken könnte.
Elisabeth ging davon aus, dass Sam nach Hause gefahren war, wie alle anderen auch. Eigentlich war es entsetzlich, dass sie sich nicht mal voneinander verabschiedet hatten.
Gestern hatte sie den ganzen Tag auf Sam gewartet, war sicher gewesen, dass sie kommen würde.
Die Party war wie geplant verlaufen. Beim Aufwachen war der Himmel zwar noch dunkel gewesen, voller Regenwolken, doch Elisabeth hatte sich gezwungen, sich deswegen keine Sorgen zu machen. Schließlich konnte sie das Wetter nicht ändern.
Trotzdem sagte sie zu Andrew: »Der heutige Tag wird eine Katastrophe, das weiß ich jetzt schon. Gestern war es herrlich. Warum haben wir es nicht gestern gemacht?«
»Weil Gil heute Geburtstag hat.«
»Wir hätten es abblasen sollen«, sagte sie. »Und allein feiern. Nur wir drei, irgendwas Schönes unternehmen.«
»Es wird sicher super«, sagte er.
Nomis Zug sollte gegen elf eintreffen. Sie kam allein und würde zwei Nächte bleiben. Elisabeth stellte sich vor, wie ihre beste Freundin sie als Gastgeberin eines großen, fröhlichen Fests erlebte und ihr voller Bewunderung dabei zusah. So ein Spektakel, wie man es nur veranstalten konnte, wenn man ein Haus und einen großen Garten hatte.
Bis vor ein paar Tagen hätte Elisabeth die Bestellung beim Cateringunternehmen noch ändern können. Sie hatte gewartet, weil sie bis zuletzt gehofft hatte, dass sie und Sam sich doch noch vertragen würden. Jetzt stand ein Mann mit hundertzwanzig Shrimpsbällchen vor der Tür und wollte wissen, ob er sie auf Silber- oder Acryltabletten herumreichen solle.
Sie hatte genug Essen bestellt für Sam und ihre riesige Familie und all ihre Freundinnen, doch am Ende kamen nur Andrews Eltern, ein paar seiner Kollegen und diverse Nachbarn.
Als Andrew losfahren wollte, um Nomi vom Bahnhof abzuholen, kam ein UPS-Bote, er lieferte ein riesiges, in blaues Papier gewickeltes Geburtstagsgeschenk für Gil bei ihnen ab. Elisabeths Mutter hatte ihm teure Babykleidung gekauft, wunderschöne Dinge, die kein Baby der Welt je tragen würde.
Auf der Karte stand: In Liebe, Oma Gigi.
»Seit wann ist sie Oma Gigi?«, fragte Andrew.
»Seit sie sich so nennt, nehme ich an«, sagte Elisabeth.
Sie musste lächeln, obwohl ihr nicht danach war.
Andrew drückte ihr zum Abschied einen Kuss auf den Mund und fuhr zum Bahnhof. Kurz danach standen drei Typen mit Zauselbärten und Strohhüten vor der Tür. Einer hatte einen Kontrabass im Schlepptau, der andere eine Trommel.
»Sieht nach Regen aus, oder?«, fragte sie. »Wollt ihr nicht lieber doch drinnen spielen? Oder wird das zu laut?«
Die Musiker zuckten gleichgültig die Achseln.
»Vielleicht fangt ihr erst mal im Garten an, dann sehen wir weiter«, sagte Elisabeth schließlich.
Als ihre Freundin vierzig Minuten später eintraf, packten die Leute von der Ballonfirma gerade ihre Gerätschaften aus.
Nomi drängte sich genervt an ihnen vorbei in den Flur.
»Es tut mir so leid«, sagte sie. »Ich wollte eigentlich Wein mitbringen. Ich dachte, wir könnten auf dem Weg vom Bahnhof irgendwo anhalten. Wie hätte ich ahnen können, dass hier sonntags die Bürgersteige hochgeklappt werden? Habt ihr hier draußen eigentlich schon das Frauenwahlrecht?«
»Haha!«, sagte Elisabeth. »Hi!«
Nachdem sie sich umarmt hatten, wartete Elisabeth gespannt darauf, ob Nomi ihr beim Anblick des Hauses Komplimente machen würde.
»Dein Wohnzimmer sieht ja genauso aus wie dein altes in Brooklyn!«, rief sie stattdessen. »Das ist ja zum Schießen!«
Die Ballonleute brauchten eine Unterschrift auf dem Lieferschein und ihre Kreditkarte. Elisabeth machte sich auf die Suche nach ihrer Tasche.
Die Männer waren gerade weg, da marschierten zwei Paare hintereinander, ohne zu klopfen, ins Haus, wahrscheinlich hielten sie das Ballontor für eine Einladung zum Tag der offenen Tür.
»Wo sind wir denn hier gelandet?«, fragte Nomi entsetzt. »Geht man in dieser Stadt einfach bei Fremden ein und aus?«
Rasch drückte Elisabeth den Musikern fünfzig Dollar in die Hand, damit sie das Tor nach hinten schleppten, wo es nur geladene Gäste sehen würden.
Gegen Mittag waren alle eingetroffen. Es gab doppelt so viele Kellner wie Gäste. Sie schlenderten durch den Garten und bemühten sich, beschäftigt auszusehen. Sämtliche Laurels waren angetreten und hatten sich sogleich über den Champagner hergemacht, sie rotteten sich in Ecken zusammen und flüsterten angeregt miteinander.
»Schreckliche Weiber«, sagte Nomi, die sie im Garten beobachtete. »Das sieht man auf den ersten Blick. Wer hat das Kleid von der drallen Blonden da designt? Peggy Bundy für Spandex?«
Wie oft hatte sich Elisabeth diesen Moment ausgemalt — sich danach gesehnt, mit ihrer besten Freundin über die Laurels abzulästern. Warum wünschte sie sich jetzt, Nomi würde sich mehr Mühe geben, mit den anderen Gästen klarzukommen, und ihre Gedanken gefälligst für sich behalten?
Wenn sie ehrlich war, fand sie es durchaus bemerkenswert, dass die Laurels in der Vergangenheit stets zur Stelle gewesen waren, wenn es darauf ankam. So auch heute wieder. Wie leicht hätten sie absagen können, aber sie waren alle gekommen und bemühten sich, das Beste daraus zu machen.
Das Goth-Pärchen, zu dessen Hochzeit sie und Andrew letzten Herbst eingeladen waren, saß händchenhaltend am Picknicktisch. Elisabeth hatte ihre Namen vergessen. Bei der Hochzeit war Andrew stinksauer auf sie gewesen, weil sie sich über die beiden lustig gemacht und ihnen die baldige Scheidung vorausgesagt hatte. Wenn sie jetzt darüber nachdachte, musste sie zugeben, dass sie sich tatsächlich grässlich aufgeführt hatte. Elisabeth winkte ihnen zu. Wieso sollte ihre Ehe schlechter laufen als die von anderen?
Trotzdem fragte sie sich, ob es an der verstörenden Ausstrahlung der beiden Goths lag, dass sich die übrigen Gäste vom Büfett fernhielten. Direkt neben den beiden hatte der Caterer zig Platten mit Aufschnitt und Knabbereien aufgefahren, in Dreiecke geschnittene Sandwiches und schüsselweise Salat. Aus der Mitte ragte ein Turm aus dreißig blau glasierten Muffins.
Als Elisabeth die Getränke auffüllen wollte, lief sie Debbie von nebenan in die Arme, die ihr wegen des Büfetts Komplimente machte, solche blauen Muffins seien dieses Jahr auf Kindergeburtstagen der letzte Schrei. Elisabeth gestand ihr, dass die Idee mit dem Muffinturm von den Cateringleuten stammte.
Als Debbie gegangen war, sagte Nomi: »In Brooklyn ist das schon seit fünf Jahren wieder out.«
Da fragte sich Elisabeth, ob sie auch so klang. Sie fand es furchtbar, obwohl sie dasselbe gedacht hatte. Würde sie diesen Snobismus irgendwann ablegen oder hatte sie das Leben in New York für immer verdorben?
Immer wieder sah sie gen Himmel.
»Sieht nach Regen aus, oder?«, flüsterte sie Nomi zu.
»Psst«, sagte Nomi, »mal den Teufel nicht an die Wand.«
»Beim Wetter läuft das, glaub ich, anders«, sagte Elisabeth gekränkt. Sie wünschte, sie hätte die Klappe gehalten.
Jetzt fegte auch noch der Wind durch den Garten.
Elisabeth betrachtete Gil, der glücklich im Gras herumkrabbelte, hinter Debbies Kindern her. Sie holte tief Luft. Ihr Sohn amüsierte sich. Darauf kam es an. War doch egal, dass die erste Party, die sie in diesem Haus feierten, etwas anders verlaufen war, als sie geplant hatte. Völlig egal.
Im Haus klingelte das Telefon.
Ihr Schwiegervater war wohl drangegangen, denn einen Augenblick später rief er: »Lizzy! Telefon für dich!«
Elisabeth flitzte los.
»Dein Dad«, flüsterte George und hielt ihr den Hörer hin.
»Ich rufe an, um meinem Enkel zum Geburtstag zu gratulieren«, sagte er. »Hol ihn ans Telefon, ich will mit ihm sprechen.«
Elisabeth war kurz davor, ihm zu erklären, dass Gil noch nicht sprechen konnte, doch stattdessen sagte sie: »Ich ruf dich gleich zurück, ja? Wir haben Gäste. Erinnerst du dich? Du und Gloria, ihr wart auch eingeladen.«
»Jaja«, sagte er. »Geh du nur und kümmere dich um deine Gäste.«
Er hatte sich nicht mal eine Ausrede einfallen lassen, genauso wenig wie ihre Mutter. Keiner der beiden hatte es für nötig gehalten, überhaupt auf die Einladung zu antworten. Wahrscheinlich war eine Geburtstagsfeier für einen Einjährigen, die noch dazu im Garten stattfand, nicht wichtig genug, um darauf zu reagieren, geschweige denn daran teilzunehmen.
Charlotte hatte sie nicht eingeladen, dafür war sie noch zu wütend. Zuerst hatte sie ihre E-Mail-Adresse zwar auf die Liste gesetzt, sie dann aber wieder gelöscht. Damit hatte es sich.
Charlotte schickte über Amazon ein Feuerwehrauto. Nach dem Weihnachtsfiasko hatte sich Elisabeth damit abgefunden, dass ihre Familie unverbesserlich war. Sie schickten lieber Geschenke, statt Zeit miteinander zu verbringen. Passte ihr hervorragend.
»Meine Buchhalterin hat dem Geburtstagskind vor ein paar Monaten eine Kleinigkeit fürs College geschickt«, sagte ihr Vater jetzt.
»Ja, ist angekommen.«
»Löst er den Scheck demnächst ein?«
»Nein«, sagte Elisabeth.
Weitere Erklärungen sparte sie sich.
Er würde ohnehin nicht verstehen, wie tief er sie verletzt hatte. »Du weißt, dass er deine Erlaubnis nicht braucht«, sagte ihr Vater. Was für eine absurde Drohung. Darauf würde sie gar nicht eingehen.
»Wir sprechen später«, sagte sie stattdessen. »Grüße an Gloria.«
»Gloria ist weg«, sagte er.
»Was ist passiert?«
Er antwortete nicht sofort. »Ich fürchte, ich bin auf Abwege geraten«, sagte er schließlich. Er klang amüsiert.
Warum musste er ihr das ausgerechnet heute erzählen? Oder überhaupt.
»Ich habe ihr gesagt, dass es technisch gesehen gar kein Betrug war«, sagte er.
Am liebsten hätte Elisabeth gesagt: Schön für dich und Tschüss!, doch stattdessen fragte sie: »Warum?«
Auf der Anrichte stand eine halbleere Flasche Champagner. Sie genehmigte sich einen großen Schluck.
»Also genau betrachtet ist es kein Betrug«, sagte er. Sie hätte schwören können, dass er dabei grinste. »Denn wie soll man jemanden mit der eigenen Frau betrügen?«
Statt zu antworten, schloss Elisabeth die Augen und trank noch einen Schluck.
»Es war deine Mutter!«, erklärte er, falls sie es bis jetzt noch nicht verstanden hatte. »Ich hatte einen Flirt mit deiner Mutter.«
»Schön für dich«, sagte sie. »Ich muss jetzt Schluss machen, da ist jemand an der Tür.«
»Ich behaupte nicht, dass wir wieder zusammenkommen, Boo, damit das klar ist.«
»Sicher. Ist mir auch egal.«
»Damit du dir keine Hoffnungen machst. Ich sag auch nicht, dass wir nicht wieder zusammenkommen. Die Liebe ist ein seltsames Spiel.«
Als sie die Flasche leerte, kam Andrew herein.
Sie erstarrte, weil er sie ertappt hatte, dann grinste sie.
»Tschüss, Dad!«, sagte sie.
Sie legte auf.
»Mein Vater hat eine Affäre mit meiner Mutter.«
Andrew nickte. »Klar«, sagte er, »was sonst.«
»Ist die Party scheiße?«
»Ja, ist sie«, sagte er. »Willst du dich oben verstecken?«
»Ja«, sagte sie, »aber nein. Lass uns da rausgehen.«
Als sie an die Hintertür traten, löste sich der Ballonbogen aus seiner Verankerung, strich über den Muffinturm, hob sich in die Lüfte und schwebte davon.
Elisabeth kehrte von der Kita zurück und fand Nomi mit der Zeitung in der Hand am Küchentisch.
»Erinnere mich daran, meine Kinder öfter mal zu verlassen«, sagte sie. »Es ist himmlisch. In diesem Zimmer ist das Licht perfekt. So still. Ich könnte den ganzen Tag hier sitzen.«
»Na endlich!«, sagte Elisabeth. »Endlich gefällt dir auch mal was an meinem Haus.«
»Was willst du damit sagen?«
»Gestern hatte ich das Gefühl, dass du alles schlechtmachst, was zu unserem Leben hier gehört.«
»Sorry«, sagte Nomi. »Ich habe nur wiederholt, was du mir schon zigmal vorgejammert hast. Vielleicht ist es ähnlich wie mit der eigenen Familie, über die man selbst herziehen darf, aber wenn es jemand anderes tut, fühlt man sich auf einmal verpflichtet, sie zu verteidigen. Es ist recht nett hier. Eigentlich stehst du total drauf, gib’s zu.«
Das sagte sie mit einer Art Singsang, als wollte sie sie aufziehen. Es erinnerte sie an die vierte Klasse, damals war es um einen Jungen gegangen, für den Elisabeth geschwärmt hatte.
»Tue ich nicht! Okay, manches gefällt mir schon«, sagte Elisabeth. »Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, ich wollte dich beeindrucken.«
»Das ist ja süß!«, sagte Nomi. »Und traurig. Du musst mir doch nichts beweisen. Vielleicht bin ich noch nicht ganz darüber hinweg, dass ich dich an diese Stadt verloren habe. Aber das wird schon.«
»Damit das klar ist: Du darfst jederzeit über meine Familie herziehen«, sagte Elisabeth. »Mir war schon klar, dass meine Eltern an diesem Wochenende nicht kommen würden. Aber dann war ich auf Sams Abschlussfeier. Ich habe ihre Eltern, ihre Großeltern, die ganze Mischpoke gesehen. Mittlerweile glaube ich, dass ich deswegen so eine verkorkste, übergriffige Beziehung zu ihr hatte. Wahrscheinlich wollte ich haben, was sie hat. Sam ist so normal. Sie kommt aus einer perfekten Familie.«
»Wie viel perfekte Familien kennst du?«, fragte Nomi. »Vielleicht hat sie nur noch nicht herausgefunden, was an ihrer scheiße ist. Sieh dich doch an. Auf mich und andere wirkst du völlig normal. Wenn ich dich gerade erst kennengelernt hätte, wäre ich nie darauf gekommen, dass deine Eltern einen solchen Schuss haben.«
»Danke«, sagte Elisabeth aufrichtig.
Es klingelte.
»Wer ist das?«, fragte Nomi.
»Keine Ahnung.«
»Eine Nachbarin, die sich eine Tasse Zucker ausleihen will? Lassie ist doch nicht etwa schon wieder in den Brunnen gefallen?«
»Halt die Klappe!«, rief Elisabeth über die Schulter hinweg.
Auf dem Absatz stand Gwen, hochschwanger und breit grinsend.
»Passt es gerade?«, fragte sie. »Ich wollte mein Geschenk für Gil vorbeibringen. Tut mir leid, dass ich es gestern nicht geschafft habe.«
»Du hast nicht viel verpasst«, sagte Elisabeth. »Komm rein. Schön, dich zu sehen!«
Gwen folgte ihr in die Küche.
»Gwen, das hier ist meine beste Freundin Nomi«, sagte Elisabeth. »Sie ist aus der Stadt gekommen, um mich zu besuchen.«
»Entschuldige, ich hätte vorher anrufen sollen«, sagte Gwen.
»Setz dich doch«, sagte Nomi, »in welchem Monat bist du?«
»Im achten.«
Gwen setzte sich Nomi gegenüber an den Tisch, sie war so breit, dass sie kaum noch auf den Stuhl passte.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass du schwanger bist!«, sagte Elisabeth.
»Du hast es noch nicht gehört? Ich hätte schwören können, dass sich die Nachbarinnen das Maul darüber zerreißen.«
»Das ist bestimmt der Fall, aber mir sagt ja keiner was.«
Gwen lachte. »Dann hast du den anderen Teil wohl auch nicht mitbekommen.«
»Welchen anderen Teil?«
»Christopher hat mich verlassen. Ich werde das Kind allein kriegen.«
»Was?«
»Er ist weg. Hat eine Stelle als Dozent angetreten, in irgendeinem Kaff in Arkansas. Ich bin sicher, er hat eine seiner Lieblingsstudentinnen mitgenommen, damit sie ihm dort Gesellschaft leistet.«
»Nein!«
»Ich kann nicht glauben, dass die Laurels das nicht schon in der ganzen Stadt herumgetratscht haben. Sei mir nicht böse, aber ehrlich gesagt habe ich mir die Party gestern gespart, damit ich sie nicht sehen musste.« Gwen seufzte. »Dass meine Ehe im Eimer ist, hat den Vorteil, dass ich jetzt nie mehr zum Buchclub muss. Dir ist vielleicht aufgefallen, dass ich die letzten Male schon nicht mehr dabei war. Ich habe das so genossen!«
»O nein! Bitte lass mich nicht im Stich«, sagte Elisabeth. »Obwohl ich mich offen gestanden immer schon gefragt habe, warum du überhaupt mitmachst.«
»Christopher hat mich gezwungen«, sagte Gwen. »Er meinte, es sei unhöflich, nicht hinzugehen, obwohl die Frau seines Kollegen mich eingeladen hat. Wie sich herausstellte, hat er sich währenddessen immer mit seiner Studentin vergnügt — bei uns zu Hause.«
»Mistkerl!«, sagte Nomi.
»Das kannst du wohl sagen«, stimmte Gwen zu.
»Aber warum hast du auf ihn gehört?«, fragte Elisabeth. »Du scheißt doch sonst auch auf alle.«
Gwen lachte.
»In unserer Beziehung war ich immer die Erfolgreiche. Meine Stelle war unbefristet, seine nicht. Deshalb musste ich ihm manchmal das Gefühl geben, dass er der Boss ist. Wie herrlich, dass dieses Spielchen jetzt vorbei ist. Wir haben so lange versucht, ein Kind zu bekommen, dass ich unsere Beziehung darüber ganz vergessen habe. Jeder hat mir gesagt, das wäre normal. Dann bin ich schwanger geworden und habe gemerkt, dass in unserer Ehe gar nicht das Kind fehlte, sondern alles andere.«
»Das tut mir leid.«
»Ist besser so. Ich kann mir nicht vorstellen, mit diesem Mann ein Kind großzuziehen.«
Elisabeth war nicht sicher, ob sie weiterbohren sollte, besonders weil Nomi dabei war.
»Ich kann dir jede Menge Kram geben«, sagte sie stattdessen. »Eine Wiege, einen Kinderwagen, haufenweise Klamotten — weißt du schon, was es wird?«
»Nein. Werde mich überraschen lassen. Gab ja in letzter Zeit so wenige Überraschungen in meinem Leben. Kannst du mir eine Frauenärztin empfehlen?«
»Dr. Gordon ist die beste. Ich gebe dir ihre Nummer.«
»Danke. Wie stehst du zum Pucken? Eine Freundin von mir schwört drauf, aber ich habe gelesen, dass es für die Hüfte des Babys nicht gut sein soll. Sorry, aber ich habe so viele Fragen.«
»Und ich beantworte sie dir herzlich gern. Endlich weiß ich auch mal über was Bescheid«, sagte Elisabeth. »Vor einem Jahr stand ich genauso da wie du jetzt. Ehe du dich versiehst, machst du das wie die Profis. Wart’s nur ab.«
»Wenn ich zu viel darüber nachdenke, fühle ich mich völlig überfordert«, sagte Gwen. »Stephanie hat mich zu einer Facebook-Gruppe für Mütter in unserer Stadt eingeladen. Sie ist die Queen Bitch. Total nervig. Als Erstes habe ich alle Benachrichtigungen abgestellt.«
Elisabeth und Nomi tauschten Blicke. »Ich wusste gar nicht, dass die Mütter hier eine Gruppe haben.«
Sie hatte sich so auf die BK Mamas eingeschossen, dass ihr nicht mal der Gedanke gekommen war, nach einer lokalen Gruppe zu suchen.
Gwen wandte sich an Nomi. »Tut mir leid. Mein Leben ist normalerweise keine Seifenoper. Ich klinge sicher total überspannt.«
Nomi lächelte. »Nein«, sagte sie. »Du klingst wie eine von uns.«
Zwei Wochen später statteten Elisabeth und Andrew George und Faye einen Besuch ab.
Faye hatte einen Schmorbraten gemacht. Sie aßen zu viert an der ungewöhnlich langen Tafel und unterhielten sich.
Es sollte das letzte gemeinsame Abendessen in diesem Haus sein. Faye und George würden in ein paar Tagen ausziehen, in ein Zweizimmerapartment in der Stadt. Es grenzte an ein Wunder, dass sie Käufer gefunden hatten. Viel war dabei nicht rausgesprungen, aber zumindest diese Last waren sie los.
Faye meinte, es sei im Grunde genommen eine Erleichterung. Sie würde zwar den von ihr angepflanzten Garten vermissen und die Spuren von Andrews Kindheit, die sich noch überall im Haus befanden — das alte Baumhaus, die Bleistiftkerben am Türrahmen im Keller, die sein Wachstum über die Jahre dokumentierten.
Sie waren umgeben von Umzugskartons, voll oder halbvoll, mit schwarzem Filzstift beschriftet: KÜCHENUTENSILIEN, G’S WERKZEUG, A’S JAHRBÜCHER. Gil wanderte von einem Karton zum anderen, zog Dinge daraus hervor und ließ sich schließlich mit einem Kartoffelstampfer aus Metall in der Ecke nieder und trommelte zehn Minuten lang damit auf dem Linoleumboden herum.
Als die Teller abgeräumt waren, entschuldigte sich George und verzog sich in sein Büro, angeblich, um weiter zu packen.
»Er packt gar nicht«, sagte Faye. »Er arbeitet. Er und die Männer aus seiner Diskussionsgruppe planen schon wieder einen Protest. Seit der Artikel über sie in der Gazette erschienen ist, rufen ständig Leute bei ihnen an und bitten sie um Hilfe.«
Faye schüttelte den Kopf. »Ich bin stolz auf ihn. Aber verratet ihm das bloß nicht.«
Elisabeth erhob sich, vorgeblich, um die Toilette zu benutzen. Doch danach kehrte sie nicht zurück in die Küche, sondern klopfte an Georges Tür.
»Herein!«, rief er.
Bei ihrem Anblick grinste er. »Lizzy«, sagte er, »was verschafft mir die Ehre?«
»Ich möchte mich entschuldigen«, sagte sie.
»Wofür?«
»Es war ein Riesenfehler von mir, meiner Schwester das Geld zu geben. Wäre das nicht passiert, hätten wir es euch leihen können, damit ihr das Haus behalten könnt. Jetzt ist es zu spät. Es tut mir so leid.«
George schüttelte den Kopf. »Wir hätten es niemals angenommen.«
»Wirst du dieses Haus nicht vermissen?«
»Ja«, sagte er. »Aber alle, mit denen ich hier Zeit verbracht habe, alle, die ich liebe, sind noch bei mir. Wozu sollte ich mich also wegen eines Hauses grämen?«
Elisabeth erkannte, dass sie viel zu viel Zeit und Energie damit verbracht hatte, sich über das dunkle Vermächtnis ihrer Familie zu sorgen, denn Gil hatte noch eine andere Familie, die ihn prägen würde. Gute Menschen wie George und Andrew. Sie hoffte, ihr Sohn würde mal so werden wie sie.
»Hast du mal wieder was von Sam gehört?« Elisabeth bemühte sich um einen beiläufigen Plauderton.
George schüttelte den Kopf.
Sie war erleichtert.
»Hast du dich wieder mit ihr vertragen?«, fragte er dann.
»Noch nicht.«
»Solltest du aber. Sie ist ein großartiges Mädchen.«
»Das stimmt.«
»Und du selbstverständlich auch«, fügte er hinzu.
Elisabeth lächelte. »Danke. Faye hat erzählt, dass ihr wegen des Artikels in der Gazette regen Zulauf habt. Alle wollen euren Rat«, sagte Elisabeth. »Ich bin stolz auf dich, George.«
Etwas, das sie während ihres Streits zu Sam gesagt hatte, wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es war darum gegangen, dass Clive kein Geld hatte.
… weil er keinen Penny in der Tasche hat
… weil du noch keine Ahnung hast …
Elisabeth war entsetzt über sich. Sie benahm sich wie ihre Eltern. Mit derselben Übergriffigkeit. Auch sie bildete sich ein zu wissen, was das Beste für andere war. Sam hatte das genau erkannt. Wie konnte es sein, dass Elisabeth, die sich ihr ganzes Leben lang bemüht hatte, ja nicht wie ihre Eltern zu werden, ihnen doch so ähnlich war.
Die schwierigsten Aufgaben im Leben waren diejenigen, an denen man immer wieder scheiterte. Also würde sie es noch einmal versuchen. Sie hatte sich bei den BK Mamas abgemeldet und ihr Facebook-Konto auch gleich gelöscht. Ob Sam den Job in Brooklyn angenommen hatte oder nach London gezogen war, um bei Clive zu sein, wusste sie nicht, und sie hatte nicht vor, es herauszufinden. Am besten zog sie mental einen Strich unter das letzte Jahr und blickte ab jetzt nach vorn.
Sam hatte oft von ihrem Sommer im Ausland gesprochen. Eine Auszeit, ein Bruch mit ihrem Alltag, der sie komplett verändert hatte. Auf Elisabeth hatten die Monate mit Sam eine ähnliche Wirkung gehabt. Diese einzigartige Nähe wäre zu keiner anderen Zeit entstanden, genau wie es zu keiner anderen Zeit zu einem so tiefen Zerwürfnis gekommen wäre. Ihre intimsten Geheimnisse waren nun mit Sam in der Welt, und Sam hatte die Macht, sie zu verraten oder für sich zu behalten.
Elisabeths Blick fiel auf einen Stapel Bücher aus der Bücherei auf Georges Schreibtisch, allesamt Standardwerke zu Arbeiterrechten, Ausbeutung und Dumpinglöhnen.
Auch damit hatte Sam recht gehabt. Elisabeth und Andrew hatten die Theorie vom Hohlen Baum nicht kleingeredet, weil sie albern und offensichtlich war, wie sie immer behauptet hatten, sondern weil sie mitschuldig waren an den Missständen, die sie entlarvte. Sie waren blind gewesen. Sie hatten sich dazu entschlossen, blind zu sein.
Was geht dir nicht mehr aus dem Kopf?, hatte ihre Agentin sie damals gefragt.
Und sie hatte das Thema gemieden, weil ihr der Reichtum ihrer Familie peinlich und unangenehm gewesen war. Als würde die problematische Gemengelage, die mit dem Wohlstand ihrer Eltern einherging, einfach verschwinden, wenn sie sich nicht damit auseinandersetzte. Dasselbe könnte man von den Annehmlichkeiten behaupten, von denen sie und Andrew Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr Gebrauch machten, ohne je darüber nachzudenken.
Deswegen hatte sie George nie gebeten, ihr mehr davon zu erzählen. Weil er damit ins Schwarze getroffen hätte.
Elisabeth berührte den Bücherstapel.
»George«, sagte sie, »erzähl mir mehr darüber.«
An diesem Abend blieben sie sehr lange.
Sie machten Fotos von Andrews altem Kinderzimmer. Er zeigte Gil das Kleeblatt, das er heimlich in den Schrankboden geritzt hatte, und wo er gestanden hatte, als er versuchte hatte, den Ball in den Korb zu werfen, der an seiner Tür befestigt war.
Von unten drangen die Stimmen seiner Eltern herauf. Elisabeth versuchte sich vorzustellen, wie es wohl für ihn gewesen sein mochte, als kleiner Junge, hier oben allein, die Ohren gespitzt.
Sie verspürte Gewissensbisse.
Irgendwann rieb sich Gil die Augen, und Andrew nahm ihn auf den Arm und trug ihn ans Fenster. Er wiegte ihn, Gils Kopf lag an seiner Schulter.
»Das ist der Große Wagen«, flüsterte Andrew. »Was da so hell leuchtet, das ist die Venus. Und da hinten, das ist der Stern, der den Namen des Mädchens trägt, mit dem ich im ersten Semester der Highschool gegangen bin. Ich habe dafür bezahlt. Hab sogar eine Urkunde und alles.«
Elisabeth fragte sich bisweilen, ob sie in ihr Leben gehörte, ein seltsames Gefühl. Sie war noch nicht sicher, ob sie es gut hinbekam. Aber sie liebte ihre kleine Familie von ganzem Herzen. Noch Jahre später würde sie sich an diesen Anblick erinnern: Ihr Gil und ihr Andrew, die in einen Himmel voller Sterne blickten.