Die Wände in Lisas Zimmer sind voll von gerahmten Zeichnungen, Ölgemälden und Grafiken. Auf der Kommode stehen dutzendweise Puppen und Figuren im Manga-Stil.
»Nichts als Manga«, sagt Jusuf und pfeift leise. Sie hören, wie die Wohnungstür zugeschlagen wird. Durch die dünne Tür dringt ein hartes Dröhnen herein, als sich das Metallgitter des Aufzugs schließt.
»Pseudo-Manga«, korrigiert Jessica.
Jusuf sieht sie fragend an.
»Es sieht aus wie Manga, stammt aber nicht aus Japan. Also Pseudo-Manga«, präzisiert sie.
»Wird das so genau genommen?«
»Ich bin keine Expertin.« Jessica dreht mit dem Dimmer neben der Tür das Licht heller. Vor dem Fenster steht ein ordentlich gemachtes Bett mit Tagesdecke, darunter liegen flauschige weiße Pantoffeln. Auf dem Nachttisch liegt ein gelbes Buch, auf dessen Rücken in kleiner Schrift Paul Auster steht. Das gerahmte Foto neben dem Buch zeigt Lisa, offenbar mit ihren Eltern. Der Mann ist wohl Japaner, die Frau Finnin. Beide sind um die sechzig.
Auch die Eltern müssten möglichst bald befragt werden: Nach den Informationen, die die Polizei bekommen hat, sind sie auf Urlaubsreise in Brasilien und kommen erst am nächsten Morgen zurück.
»Du hast dir das Mädchen angesehen«, sagt Jusuf.
Jessica schreckt aus ihren Gedanken auf. »Was?«
»Das Mädchen auf dem Bild. Du hast es lange angestarrt.« Jusuf dreht eine Puppe zwischen den Fingern, unter deren stahlblauem Pony riesige Augen hervorlugen.
»Ich hab mir die Initialen angesehen«, erklärt Jessica und dreht sich zu Jusuf um. Eine Weile lassen beide den Blick durch das Zimmer wandern. Zwischen dem Bett und der Kommode steht ein Arbeitstisch, an dessen Rand sich ein runder Schminkspiegel mit Lampe befindet. Neben dem Spiegel liegen Make-up, Puder und Lidschatten.
»Verdammt«, brummt Jusuf leise.
»Was ist?«
»Hast du auch manchmal das Gefühl, dass … Wie soll ich es ausdrücken … Es ist irgendwie seltsam und schrecklich, einen Ort zu sehen, wo eine verschwundene Person gerade eben noch gewesen ist. Hier hat sie gesessen, sich geschminkt, geatmet. Alltägliche Dinge getan, ohne zu ahnen, dass bald alle nach ihr suchen werden.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagt Jessica und setzt sich auf den weißen Holzstuhl am Tisch. Sie sieht ihre Augen im Spiegel und dreht ihn zur Seite. Neben dem Tisch steht eine Staffelei aus Holz, aber ohne Leinwand. Weiter hinten auf dem Tisch liegen ein Stapel Zeichenpapier im Format A 3, Skizzenblöcke, ein ganzes Sortiment an Tuben mit Ölfarben sowie zig Filzstifte in verschiedenen Farben. Terpentin und Leinöl. Direkt an der Wand steht ein halbes Dutzend Gläser mit Pulvern in leuchtenden Farben.
»Was ist da drin?«, fragt Jusuf.
»Pigmentpulver. Die mischt man mit Leinöl, wenn man die Farben selbst herstellen will«, erklärt Jessica und zeigt auf die Ölflasche.
»Macht richtig Spaß, mit Fräulein Wikipedia zusammenzuarbeiten.« Jusuf tritt an das Fenster, das auf die Topeliuksenkatu geht.
Jessica betrachtet ein Glas, in dem einige Pinsel stecken. Es enthält ein wenig Terpentin, das die Farbe aus den Pinseln löst. Die Flüssigkeit hat sich dunkelgrau gefärbt. Auch die getrockneten Farben auf der Palette zeigen Grautöne.
»Seltsam«, sagt Jessica.
»Was?«
»Alle Zeichnungen und Gemälde von Lisa sind ausgesprochen bunt … Eigentlich sind nur die Umrisse und bei manchen Gestalten die Haare schwarz.«
»Und?«
»Trotzdem hat Lisa zuletzt etwas Graues gemalt.«
Sie greift nach dem Stapel und blättert die Bögen einzeln durch. Auf allen sieht sie Manga-Zeichnungen, zum Teil mit Bleistift gezeichnete Skizzen, zum Teil fast fertig ausgearbeitete und kunstvoll kolorierte Tuschzeichnungen. Jede einzelne der unfertigen Zeichnungen zeigt ein anderes Arbeitsstadium. Jede vertritt eine andere Phase der schöpferischen Arbeit, sie zeugen von Lisas Genauigkeit und Professionalität als Zeichnerin. Sie spielen mit den Stereotypen der Unschuld, sie zeigen ausnahmslos junge Mädchen oder Frauen in kindlich bunten Kleidern.
»Hast du es gefunden?«, fragt Jusuf.
»Nein.«
»Es muss die Auftragsarbeit sein.«
»Denke ich auch«, sagt Jessica nachdenklich und legt den Stapel wieder an seinen Platz. »Zeichnen kann das Mädchen jedenfalls.«
»Dann müssen wir hoffen, dass der Mann bei Lisa ein Porträt von sich selbst bestellt hat«, lacht Jusuf und zieht die Jalousien hoch. Es ist absurd, dass vom Himmel, der nun sichtbar wird, nichts als Grau in das Zimmer fällt.
»Das wäre ein Lottogewinn für uns.«
»Offenbar hast du das Gefühl, dass der Mann irgendwie in die Sache verwickelt ist«, sagt Jusuf.
»Ich weiß nicht. Irgendwie finde ich es komisch, dass Lisa gerade jetzt einen Auftrag bekommen hat.«
»Genau. Andererseits … Vielleicht wollte er bloß ein Bild von ihr. Vielleicht ist es irgendein Perverser, der ein Bild von einem Mädchen in Schuluniform bestellt hat, so eins, vor dem er sich einen runterholen und sich gleichzeitig die Brustwarzen mit Sandpapier reiben kann.«
»Hast du gerade deinen Samstagabend beschrieben?«
»Das ganze Wochenende.«
Jessica schüttelt den Kopf und nimmt einen dunkelroten Spiralblock vom Tisch.
»Ich dachte sofort, dass es derselbe Typ sein muss, den Rasse auf Instagram entdeckt hat«, sagt sie, während sie den Block aufschlägt. Die ersten Seiten sind gefüllt mit Texten in finnischer Sprache, Ideen für Themen von Videoblogs und Notizen von Besprechungen mit Kooperationspartnern. Keine einzige Zeichnung.
»Den müssen wir wohl mitnehmen?«, fragt Jusuf. Er hält einen Laptop in der Hand, den er vom Fensterbrett genommen hat. Doch Jessica antwortet nicht. Sie blättert weiter bis zur Mitte des Blocks, zur letzten Seite mit Notizen. Im nächsten Moment spürt sie, wie ihre Sinne elektrisiert werden, als hätte man eine ordentliche Portion Strom durch ihren Körper gejagt.
»Jusuf …«, sagt sie leise.
»Was ist?«
»Guck dir das an.« Sie dreht den Block so, dass Jusuf ihn sehen kann.
Jusuf nähert sich dem Block vorsichtig wie einem scheuen Tier, das bei einer hastigen Bewegung die Flucht ergreift.
»Um Himmels willen«, flüstert er. Auf der Seite ist keine fertige Zeichnung, sondern eine Bleistiftskizze. Das Blatt ist übersät mit winzigen Radiergummibröckchen, die das wegradierte Grafit aufgenommen haben.
Jessica hält sich die Zeichnung dicht vor die Augen und starrt auf das ernste Mädchen in Schuluniform, auf das felsige Gelände und auf den Leuchtturm im Hintergrund, der zum dunklen Himmel aufragt.