Jessica hat schon dreimal bei Jusuf angerufen, und als er sich nun endlich meldet, strömen die Worte aus ihrem Mund wie das Wasser durch einen Bruch im Staudamm.
»Was ist los?«
Im Hintergrund ist eine Frauenstimme zu hören. Jusuf hat sein Leben endlich wieder aufgenommen und Gesellschaft gefunden. »Sorry, dass ich störe.«
»Es passt jetzt nicht so gut, Jessi. Außerdem ist der Akku fast leer.«
»Jusuf, hör mir zu. Die Sache ist total daneben. Erstens: Du hast mir ja selbst von der Frau erzählt, die zum Rauchen auf ihrem Balkon war und gesehen hat, wie ein nicht besonders großer Typ mit Kapuze aus dem Studio von Jose Rodriguez kam, gerade um die Zeit, als der ermordet wurde. Zweitens: Auf der Aufnahme der Überwachungskamera sieht man deutlich, wie eine Gestalt mit Mütze und Hoodie – die von der Größe her Lisa sein könnte – am 26. November einen Brief einwirft. Das Gesicht ist zwar nicht zu sehen, aber die Jacke und die Cargohose mit dem Tarnmuster gehören Lisa. Auf zwei relativ neuen Instagram-Fotos trägt sie exakt diese Sachen. Ich hab sie gerade entdeckt, als ich die Fotos nochmal durchgesehen habe.«
Einen Moment lang ist es mucksmäuschenstill in der Leitung. Dann hört Jessica, wie Jusuf eine Tür schließt.
»Du meinst also, Lisa selbst hat Rodriguez ermordet und den Brief an ihren Vater eingeworfen?«
»Genau! Denk mal nach: Lisa und Essi teilen sich seit anderthalb Jahren eine Wohnung, und Lisa hat nach Aussage ihrer Mutter in dieser Zeit nicht mit ihrem Vater geredet. Außerdem hat Lisas Mutter gesagt, dass der Vater sich geweigert hat, mit seiner Familie Japanisch zu sprechen, stimmt’s? Aber als Essi gehört hat, wie Lisa am Telefon Japanisch sprach, hat Lisa behauptet, sie hätte mit ihrem Vater telefoniert.«
»Die Yakuza?«, fragt Jusuf.
»Ich glaube nicht, dass die japanische Mafia irgendwas damit zu tun hat. Fake news! Dadurch wollte Lisa die Sache so aussehen lassen, als wäre sie gezwungen worden mitzumachen, eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass die Polizei dem Ring auf die Spur kommt.« Jessica hört selbst, dass ihre Stimme aufgeregt klingt. Es ist Wochen her, seit sie sich zuletzt so lebendig gefühlt hat.
»Aber Akifumi …«
»Kapierst du es nicht, Jusuf? Lisa Yamamoto ist Akifumi«, sagt Jessica.
Ein paar Sekunden lang herrscht völlige Stille.
»Lisa hat also den Yakuza-Brief an ihren Vater selbst geschrieben und eingeworfen, um ihren Tod vorzutäuschen?«
»Genau! Lisa war nicht nur ein Teil der Organisation, sondern auch eine aktive Nutzerin der Sexdienste. Wenn man genauer nachdenkt, all die Gemälde an den Wänden: Lisa Yamamoto hatte einen starken Manga-Fetisch, den sie so ausleben konnte. Nikolas Ponsi hat seltsam reagiert, als ich ihn nach Manga gefragt habe. Vermutlich hatte Jason ihm von Lisas Neigungen erzählt. Jason war verwirrt und besorgt über Lisas Verhalten.«
»Das würde erklären …«
»Und hör dir das an: das Gemälde, das ich damals bei Lisa so lange angestarrt habe. Dafür hat eine Frau namens Tamara Jugeli Modell gestanden. Jugeli war eine Prostituierte, die am 6. Juni in Lwiw in der Ukraine erwürgt aufgefunden wurde. Sie trug Manga-Kleidung.«
»Was zum Teufel?«
»Und wenn du dir Lisas Instagram-Fotos vom Juni letzten Jahres anguckst, siehst du, dass sie zur selben Zeit, als Jugeli ermordet wurde, zum Polterabend einer Freundin dort war. Glaubst du an Zufälle, Jusuf?«
»O Gott«, flüstert Jusuf.
»Ich glaube, dass jedes Manga-Bild, das Lisa gemalt hat, ein lebendes Vorbild hat oder, genauer gesagt, ein totes. Vielleicht hat Lisa alle Prostituierten gemalt, die sie getroffen hat. Mindestens Belousova, Lazakovich, Loos und Jugeli hatten die Ehre, auf der Leinwand verewigt zu werden. Du kannst die Gemälde in der Asservatenkammer bewundern.«
Das Geräusch am anderen Ende der Leitung klingt, als würde Jusuf sich heftig am Kopf kratzen. Oder sich die Zähne putzen.
»Das ergibt, verdammt nochmal, keinen Sinn. Lisa ist doch …«, sagt er dann.
»Eine junge Frau? Ponsi hat mir erzählt, dass auch unter den Pädophilen zwanzig Prozent Frauen sind. Wieso könnte also eine junge Frau wie Lisa keine Sadistin sein, die Frauen unterdrückt und verletzt? Das ist natürlich ein teures Vergnügen, also hat Lisa vielleicht für die Bande gearbeitet, um einen Bonus zu bekommen.«
»Ich weiß nicht, Jessi. Die Geschichte klingt zu verrückt, um wahr zu sein«, meint Jusuf.
»Wir waren die ganze Zeit bereit zu glauben, dass Lisa bei der kriminellen Tätigkeit nur mitgemacht hat, weil sie erpresst wurde. Weil sie keine andere Möglichkeit hatte. Aber solche Spekulationen rächen sich immer«, sagt Jessica und zieht sich den Mantel an. »Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass Jason den Braten schon vor einem Jahr gerochen hat, so oder so. Und dass Lisa dafür sorgen musste, dass Jason in der Helsinkier Gesellschaft seine Glaubwürdigkeit verliert. Deshalb hat sie die Story erfunden, Jason würde sie verprügeln, und die hat sie allen aufgetischt. Damit ihm nur ja niemand glaubt.«
»Okay, Jessica. Nehmen wir mal an, du hättest recht«, seufzt Jusuf. »Dann hätte Lisa also Akifumis Profil geschaffen, um die ganze Sache zu enthüllen? Das Hashtag und die Masayoshi-Seite.«
»Genau. Akifumis masayoshi-Kommentar war ein diskreter Hinweis an uns. Er sollte uns helfen, Lisas Schicksal aufzuklären, ohne dass irgendeine der Schlüsselfiguren der Manga-Liga – inklusive James – geschnappt wird. Und selbst wenn jemand erwischt würde, könnte man es nicht Lisa ankreiden. Sie wollte also verschwinden, ohne sich neue Feinde zu machen. Und deshalb hat sie Reddick vorgeschlagen, für ihn einen Leuchtturm zu malen, vor dem ein Mädchen steht. Lisa wusste, dass Reddick Polizist ist und dass das Gemälde zusammen mit dem Instagram-Foto bestätigen würde, dass sie tatsächlich verschwunden ist, dass Jason und Lisa vielleicht bei Söderskär ins Meer geworfen wurden«, erklärt Jessica. Jusuf antwortet jedoch nicht. Im Hintergrund lacht die Frau und Jusuf murmelt etwas. Warte einen Moment, ich muss noch kurz weiterreden.
»Jusuf?«
»Ja, sorry«, sagt Jusuf und lässt offenbar Wasser laufen. »Und du glaubst also, dass Lisa noch lebt und ins Ausland geflohen ist.«
»Ja. Über den Leuchtturm Söderskär, mit dem Boot der Stiftung, das benutzt wurde, um die Frauen zwischen Helsinki und Söderskär hin und her zu transportieren. Jason hat Lisa das Boot geliehen, so oft sie es brauchte, und sie hatte ihn so fest im Griff, dass er sich nicht getraut hat, Fragen zu stellen. Olga hat die Mitglieder der Liga und die anderen Frauen in der Nacht zum Sonntag auf die Leuchtturminsel gebracht, und von da hat sie irgendwer nach Russland oder Estland geholt. Lisa selbst ist in Helsinki geblieben, sie hat zuerst Jason und später Rodriguez ermordet.«
»Moment mal: Warum hat Lisa Rodriguez ermordet?«
»Ich glaube, dass Olga Belousova in der Nacht zum Sonntag das Boot gesteuert hat. Sie hatte ihr Rollenkostüm angezogen, weil sie glaubte, zur Arbeit zu gehen, aber dann musste sie einen ganz anderen Job übernehmen. Sarvilinna hat mich gerade angerufen und berichtet, dass unter Belousovas Fingernägeln und an den Fingerspitzen Polyurethan gefunden wurde, das unter anderem an den Steuerrädern von Booten verwendet wird. Zum Beispiel gerade beim Aquador. Auf Olgas Facebook-Seite gibt es viele Fotos, auf denen sie in Odessa auf dem Schwarzen Meer ein Boot lenkt. Lisa kannte alle Mädchen im Bordell, sie wusste, dass Olga genug Erfahrung mit Booten hatte, um die ganze Bande nach Söderskär zu fahren. Harjula hat gesagt, dass in der fraglichen Zeit starker Seegang herrschte. Olga musste sich also ordentlich anstrengen und das Rad fest umklammern, um zuerst nach Söderskär und dann nach Vuosaari zu kommen. Fast eine Stunde pro Strecke. Und nachdem sie es in den Bootshafen an der Aurinkolahti-Bucht geschafft hatte, ist sie aus irgendeinem Grund ins Wasser gefallen. Und drei Tage später wurde sie tot aufgefunden, hundert Meter entfernt vom Badestrand.«
»Aber wer hat dann versucht, sie wiederzubeleben?«, fragt Jusuf.
»Das ist der einzige Punkt, den ich nicht ganz verstehe. Es muss aber dieselbe Person gewesen sein, die das Boot weggebracht hat, denn am Mittwochmorgen war der Bootshafen leer.«
»Vielleicht war noch ein zweiter Mensch im Boot? Jemand, der wollte, dass Olga lebt …«
»Genau«, sagt Jessica. »Und jetzt kommen wir zu deiner Frage, warum Lisa Rodriguez umgebracht hat. Der Gedanke kam mir schon, als wir in seinen Geschäftsräumen die Regenjacke und das Reinigungsmittel gefunden haben. Rodriguez war mit im Boot, vielleicht, um Olga zu bewachen. Olga hatte einen Anfall, und Rodriguez hat versucht, sie wiederzubeleben. Als es ihm nicht gelang, hat er sie ins Meer geworfen. Dann hat er das Boot ins Zentrum zurückgebracht und seine Fingerabdrücke entfernt.«
»Aber Jason war in der Nacht ebenfalls in Vuosaari«, merkt Jusuf an.
Jessica presst Mittelfinger und Daumen an ihre Schläfe.
»Oder es war nur sein Handy, das Lisa …«, sagt sie und schließt die Augen, um sich auf ihre Gedanken zu konzentrieren. Sie weiß nicht, welche Schlussfolgerung in ihrem Kopf gerade entsteht, aber die losen Fäden scheinen sich immer fester miteinander zu verknüpfen. Die Gedanken sind wie leere Papierbögen, die im heftiger werdenden Wind herumfliegen.
Fahrradkeller, Waschstube, Dekoziegel. Mörtel.
»Jusuf …«
»Ja?«
»Erinnerst du dich, wie laut die Waschmaschine in Lisas Wohnung gerumpelt hat, als wir Essi zum ersten Mal befragt haben?«
»Ja.«
»Wenn sie eine funktionierende Waschmaschine haben, warum hat Lisa dann die Waschküche benutzt?«
Jusuf antwortet nicht.
»Überleg doch mal, Jusuf. Jason wollte sich mit Lisa treffen. Aber Lisa hat auf den richtigen Moment gewartet, sie wollte, dass Jason und sie selbst gleichzeitig verschwinden. Sie haben sich in der Nacht zum Sonntag im Fahrradkeller getroffen, und Lisa hat ihn umgebracht. Was kann man mitten in Helsinki mit einer Leiche machen, vor allem, wenn man gut mit Werkzeug umgehen kann … Hallo?«, ruft Jessica, als sie merkt, dass das Wasserrauschen nicht mehr zu hören ist. Dann piept es dreimal. Jusufs Akku ist leer.
Sie legt das Handy auf den Tisch.
Lisa war handwerklich geschickt. Die herausgeschlagenen Backsteine in der Wohnung. Der Mörtel. Die Abstecher in die Waschküche. Der Lärm, den der Nachbar in der Nacht gehört hat. Lisa hat alles vorbereitet, damit Jason spurlos verschwindet. An einem Ort, wo niemand nach ihm suchen wird. Und dann ist sie selbst verschwunden.
Jessica steht auf. Sie kann nicht länger stillsitzen und auf Jusufs Anruf warten. Sie muss sofort handeln.