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Jessica betrachtet Lisa Yamamotos bleiches Gesicht. Die schwarzen Haare liegen über den offenen Augen. Der Mund ist weit aufgerissen, und Lisa sieht aus, als versuche sie zu schreien, um sich selbst aus dem ewigen Albtraum zu wecken. Die Konfrontation mit Schönheit und Tod ist Alltag für Jessica, ihre Vergangenheit lässt sie nicht vergessen, wie die beiden zusammen aussehen. Die Kombination aus beiden begegnet ihr jeden Tag vor dem Spiegel und verfolgt sie jede Nacht in ihren Träumen.

Sie spürt einen kalten Luftzug, der durch ihren Körper zieht, und weiß, dass ihre Mutter jetzt bei ihr ist.

Ich habe versucht, dich zu warnen, Jessica.

Jessicas Herz klopft wie verrückt.

Der Zauberer muss die Karte, die du wählst, nicht kennen, Jessi. Nur die Karte neben deiner.

Und genau in diesem Moment fällt alles an seinen Platz. Ein Taschenspielertrick.

»Sie sollten für immer verschwinden«, sagt Essi.

Jessica hört ihr Handy in der Manteltasche klingeln.

»Was?«, fragt sie mit heiserer Stimme und richtet den Blick auf die junge Frau, deren Miene jetzt nicht mehr verwirrt, sondern entschlossen ist. Jessica spürt, wie Kälteschauder von ihren Knien über den Rücken in den Nacken ausstrahlen und ein heftiges Pochen am Hinterkopf auslösen.

»Essi …«, sagt sie leise.

»Lisa und Jason. Niemand sollte sie finden«, erklärt Essi. Und nun merkt Jessica, dass die Frau den Vorschlaghammer aufgehoben hat und ihn mit beiden Händen festhält.

Jessica braucht eine halbe Sekunde, um sich zu erinnern, dass sie nicht als Polizistin gekommen und deswegen unbewaffnet ist.

»Wie bist du auf die Idee gekommen, sie hier zu suchen?«, fragt Essi leise und tritt einen Schritt näher. Die Leuchtröhren an der Decke scheinen immer lauter zu surren.

»Lisa war nicht Akifumi …« Jessica steht langsam auf.

Essi schüttelt den Kopf. »Lisa war ein Dummkopf«, sagt sie und verzieht den Mund zu einem leichten Lächeln. »Sie hat getan, was ich ihr befohlen habe. Glaubst du, sie hätte sich für Manga-Kunst interessiert? Nein, das war ich. Ich bin die Künstlerin.«

»Aber warum?«

»Ich hab immer gewusst, dass mit mir irgendwas nicht stimmt, Jessica. Das ist ganz klar«, sagt Essi. »Die Dinge laufen so leicht aus dem Ruder. Eins führt zum anderen. Es ist wie eine Droge. Man muss die Dosis erhöhen, damit die Kicks nicht verschwinden. Und auf einmal kapiert man, dass es nicht reicht, nur zu zeichnen. Es reicht nicht einmal mehr, die Partnerin zu unterwerfen. Man will die Hände nicht vom Hals der ans Bett gefesselten Hure nehmen … Man will fester zudrücken und sehen, wie das Leben aus den Augen verschwindet.« Wieder macht Essi einen Schritt auf den Leichensack und Jessica zu. Die Fingerknöchel um den Griff des Vorschlaghammers färben sich weiß, als sie ihn fester umklammert. Es sieht so aus, als würde die Frau die ganze in ihr brodelnde Wut in die Waffe laden, deren eiserner Kopf bedrohlich in der Luft schwankt.

»Du warst das die ganze Zeit? Akifumi?«

»Du glaubst nicht, wie wichtig Anonymität in dieser Branche ist.«

»Jose Rodriguez, der Brief an Lisas Vater, die masayoshi.fi-Seite, die Telefonzentrale der Manga-Liga …«

»Natürlich. Lisa hätte ja nicht mal gewusst, wie man das Tor-Netzwerk benutzt. Ich bin ihr bei allem zur Hand gegangen, was mit IT zu tun hat. Zum Beispiel hab ich ihr geholfen zu verfolgen, wie oft ihr Blog aufgerufen wird. Und nebenbei konnte ich da ganz einfach masayoshi.fi mit demselben Analytics-ID verbinden.«

»Das hast du also absichtlich getan?«

Essi nickt. »Ist das nicht inzwischen klar? Ich finde, das war eine ziemlich schlaue Art, dafür zu sorgen, dass die Polizei Lisa verdächtigt. Aber ihr dachtet, Lisa hätte diesen kleinen Streich hinter dem Rücken der Liga entwickelt. Sie hätte einen Alleingang gemacht und wollte fliehen. Nein, die ganze Tätigkeit der Liga ist so konstruiert, dass das Material, das die Polizei gesammelt hat, für keine einzige Festnahme reicht. Sie hat im letzten halben Jahr eine Menge reiche Kunden gewonnen, die man leicht erpressen kann, weil ihre Gewaltfantasien auf einer Festplatte gespeichert sind«, erklärt Essi. Sie scheint Jessicas Reaktion zu beobachten, die keine Überraschung verrät. »Moment mal. Das habt ihr also rausgefunden? Meinen Glückwunsch, sehr beeindruckend. Aber es ändert nichts.«

Das Handy in Jessicas Tasche beginnt wieder zu läuten. »Lisa sollte also …«

»Lisa sollte der Blitzableiter sein. Die Sache sollte genau so aussehen, wie sie jetzt aussieht. Dabei muss es auch bleiben, und deshalb kannst du diesen Anruf nicht annehmen, Jessica«, sagt Essi und rückt wieder näher. Zwischen ihnen ist nur noch gut ein Meter Abstand, und Jessica denkt fieberhaft über ihren nächsten Schritt nach. Der Vorschlaghammer mit dem langen Griff sieht in Essis Händen gefährlich aus. Zumal die Frau eine mordlüsterne Sadistin ist, die ihre beiden Freunde umgebracht hat.

Jessica schluckt. Sie muss Zeit gewinnen. Aber wie viel kann sie herausschinden? Eine Minute, zwei? Und was dann? Niemand weiß, dass sie hier ist. Diesmal werden weder Jusuf noch Erne oder die Männer vom Sonderkommando in den Raum stürmen.

»Aber was ist mit dem Handy? Der Mann von Europol hat es in Lisas Zimmer gefunden.«

»Weil das nicht Lisas Zimmer war, sondern meins.« Essi lächelt. »Das Versteck hab ich allerdings erst an dem Morgen angelegt, bevor ihr gekommen seid, um mich zu befragen. Ich habe ein Loch in die Wand gehauen. Wurde aber ziemlich eilig, ich dachte, ihr würdet es gleich finden.«

Nun erinnert Jessica sich an die Worte des alten Mannes, dem sie an der Haustür begegnet waren.

Sind Sie wegen dem Lärm hier? Heute früh hat jemand kräftig gegen die Wände gedonnert.

Jessica begreift, dass Kex Mace’s nicht gelogen hat. Dass er auf dem Foto tatsächlich in Lisas Zimmer gesessen hat. Und dass auch Reddick nicht wusste, welches Zimmer Lisa gehörte, sondern aus den Bildern und den Malutensilien seine Schlüsse gezogen hat.

»Wir haben schon vor Monaten abgemacht, dass Lisa meine Gemälde als ihre eigenen ausgibt, weil sie dank ihrer Bekanntheit vielleicht Käufer finden würden«, fährt Essi fort. »Ich habe vorgeschlagen, dass wir uns das Geld teilen, wenn jemand was kauft, und Lisa war das recht. Mir ging es natürlich nur darum, dass die Polizei sich darauf konzentriert, Lisas Manga-Schwärmerei zu untersuchen. Und anstatt nach Lisas Tod die ganzen Requisiten aus einem Zimmer ins andere zu schleppen, hab ich beschlossen, dass Lisas Zimmer meins ist und umgekehrt. Natürlich hab ich Lisas persönlichen Kram, Fotos und Make-up, in mein Zimmer gebracht und die Laken gewechselt. Ich dachte mir, bei so einer kleinen Lüge wird man kaum ertappt. Warum sollte die Mitbewohnerin denn auch über die Verteilung der Zimmer lügen.«

»Deshalb hast du alle Fotos gelöscht, die Lisa in ihrem Zimmer zeigen.«

»Ja.«

Jessica sieht, wie sich Essis Finger um den Griff krampfen.

Sie spürt eine kalte Berührung an der Schulter und den warmen Atem ihrer Mutter am Ohr.

Spiel auf Zeit, Jessica, mein Schatz. Zögere deinen Tod Sekunde um Sekunde hinaus. Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.

»Du hast auf euren Reisen Frauen ermordet?«, fragt Jessica bemüht ruhig.

Essi lächelt, als hätte die Frage angenehme Erinnerungen heraufbeschworen.

»Ja. Und vorher auch. Gerade dadurch haben sich meine Wege mit denen der Liga gekreuzt. Ich konnte sie davon überzeugen, dass es bei dieser Geschäftstätigkeit möglich ist, bei den Kunden zweimal abzukassieren. Und dass die zweite Rechnung zehnmal so hoch ist wie die erste. Wenn wir Rahmenbedingungen schaffen, in denen der Kunde sich entspannen und er selbst sein kann.«

Fordere sie ein bisschen heraus. Nicht zu sehr, aber genügend. Lass sie erklären. Lass sie erzählen.

»Hast du nie daran gedacht …«

Jetzt liegt pure Wut auf Essis Gesicht, und ihre großen Augen verlieren alles Menschliche. Und Jessica begreift, dass alles andere nur Kulisse war, dass Essi wirklich eine Psychopathin ist, in deren Augen seelenlose Finsternis haust.

»Glaubst du, ich wüsste nicht, was für ein Gefühl das ist – das Opfer zu sein? Vergewaltigt und gedemütigt zu werden? Da irrst du dich, Jessica. Ich weiß es verdammt genau. Ich hab das durchgemacht. Das hat man mir verflucht oft angetan.«

Essi ist selbst ein Opfer, Jessica.

Das Handy vibriert immer noch. Jessica versucht, unbemerkt ihre Hand in die Tasche zu schieben.

»Essi, du musst jetzt …«

»Ich muss gar nichts mehr!«

Mit ein paar schnellen Schritten ist Essi bei Jessica, schwenkt den Vorschlaghammer zur Seite, zielt auf Jessicas Kopf und schlägt mit aller Kraft zu. Jessica kann nicht ausweichen. Sie schreit entsetzt auf, legt die Hand schützend über den Kopf und spürt, wie der schwere Hammerkopf ihren Handrücken trifft und ihn zerbricht. Sie geht schwankend zu Boden, das Handy fällt aus der Tasche und gleitet davon. Reißender Schmerz fährt in ihre Schulter. Sie schreit vor Qual und hält sich das Handgelenk.

»Bleib, wo du bist, Jessica«, sagt Essi und lässt den Vorschlaghammer sinken.

Jessica betrachtet ihre flammend rote Hand, deren Finger kraftlos und verdreht herunterhängen, als wäre es keine Hand, sondern ein leerer Handschuh.

»Machen wir die Sache nicht schwieriger als nötig.«

»Hör auf, Essi!«, schreit Jessica und schleppt sich zur Seite. »Hilfe!«

»Schreien bringt dir nichts. Hier war noch vor ein paar Jahren ein Proberaum für Bands, der Keller ist total schallisoliert. Bis zum Morgen ist die Wand wieder zugemauert. Und dann liegt da neben den verdammten Liebenden auch die Polizistin«, faucht Essi und macht sich bereit, den Vorschlaghammer erneut zu schwenken, diesmal über die Schulter, sodass Jessica nicht die kleinste Chance hat, ihren Kopf zu schützen.

Die verdammten Liebenden …

»Warte!«, ruft Jessica.

»Was?« Essi ahmt Jessicas verängstigten Tonfall nach.

»Warst du … Du und Jason?«

Essi hält in ihrer Bewegung inne und sieht fast traurig aus. »Jason sollte an dem Abend nicht dort sein.«