Zehn Minuten später liegt das Boot an seinem Platz, und Olga befestigt die Bugleine am Anleger.
Essi steigt aus dem Boot auf den Steg und sieht sich um. Der Bootshafen ist menschenleer, wie meist um diese Zeit am Abend. Jetzt müssen sie nur noch die restlichen Sachen aus dem Bordell holen und ins Boot laden. Dann wird Olga nach Söderskär fahren, das Boot versenken und warten, bis sie am Leuchtturm abgeholt wird. Was später mit Olga passiert, ist Essi egal.
»Akifumi«, sagt Olga und stützt sich am Aluminiumgeländer des Bugs ab. Ihr fallen die Augen zu.
»Nun komm schon«, mahnt Essi ungeduldig.
Die Plastikmaske klebt an ihren Wangen und drückt.
»Essi?« Die Stimme gehört nicht Olga, sondern einem Mann.
Essi hat das Gefühl, dass ihr Herz stehenbleibt. Nur die Mitglieder der Liga kennen ihren wahren Namen. Für die Mädchen ist sie Akifumi, die immer ihre Maske trägt. Die Maske begleitet sie schon seit Langem, und durch die Augenschlitze hat sie viele Leben erlöschen sehen.
Essi dreht den Kopf und sieht, dass ein Mann den Anleger betreten hat. Es ist Jason.
»Essi? Was zum Teufel …«
»Warte!«, ruft Essi.
»Du hattest versprochen, das Boot schon am Morgen zurückzubringen! Was in aller Welt …«
Olga ist auf dem Anleger aufgetaucht. Ihr Blick irrt von Essi zu Jason, dann sinkt sie bewusstlos zu Boden.
Jason läuft auf sie zu.
Essi betrachtet die liegende Frau, deren Augen geöffnet sind und an den sternlosen Himmel starren.
Dann wendet sie das Gesicht zum Meer und nimmt Mütze und Maske ab.
Jason hat das Ende des Anlegers erreicht. Er starrt Essi an, dann hockt er sich neben Olga, die leblos daliegt.
»Wer ist das? Sie ist einfach umgekippt«, sagt er erschrocken und legt die Hände auf Olgas Brust.
»Jason!«
»Sie atmet nicht! Ruf den Notruf an …«
»Bist du allein hier, Jason?«, fragt Essi und hockt sich neben ihn.
Jason antwortet nicht, er sieht Essi ungläubig an und drückt rhythmisch auf Olgas Brust, wie vermutlich in irgendeinem beschissenen Erste-Hilfe-Lehrbuch geraten wird.
Er setzt seinen Wiederbelebungsversuch fort und keucht heftig. Bald darauf kracht Olgas Brust entsetzlich. Jason schreckt zurück und lässt sie los. Verängstigt sieht er die Frau an, dann holt er das Handy aus der Tasche.
»Jason«, sagt Essi leise, während Jason die Notrufnummer wählt. »Steck das Handy weg.«
»Was?«
»Ich erklär dir alles.«
»Wir müssen den Notruf …«
Essi schlägt Jason das Telefon aus der Hand, es fliegt in hohem Bogen ins Meer und verschwindet im dunklen Wasser.
»Was soll das, verdammt?«, brüllt Jason. Essi vergewissert sich, dass in der Dunkelheit keine anderen Augenpaare zu sehen sind.
»Hör mir zu, Jason. Verflucht nochmal, hör mir eine Sekunde zu. Ich erklär dir alles. Und wenn du danach immer noch die Polizei anrufen willst, nur zu«, sagt sie. »Aber im Moment kann das warten. Die Frau ist eindeutig tot, wir können nichts für sie tun.«
»Wer ist das?«, schluchzt Jason.
»Das erklär ich dir auch gleich. Erst brauch ich noch deine Hilfe«, sagt Essi und wischt Jason eine Träne aus dem Gesicht. »Die Leiche darf nicht bei diesem Boot gefunden werden. Sonst kommst auch du ins Gefängnis.«