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Kriminalhauptmeister Jami Harjula schlägt den Pelzkragen seines dicken Mantels hoch und blickt auf das Meer. Er stellt sich vor, es wäre Sommer, der Sand unter seinen Schuhsohlen wäre nicht steinhart und grau, sondern weich und goldgelb. Er malt sich aus, dass die Luft angenehm warm ist und die Sonne hinter einem dünnen Wolkenschleier gerade heiß genug scheint. Seine Töchter, acht und zehn Jahre alt, springen von dem Badetuch auf, das Sini am Strand ausgebreitet hat, und laufen um die Wette ins Wasser. Der Duft der Sonnencreme, die Schreie der Möwen und die zufrieden lächelnden Gesichter. Das strahlend warme Gefühl, das bei der Berührung mit sonnenwarmer Haut entsteht und große Ähnlichkeit mit der ersten Verliebtheit hat, als die Berührung noch neu und aufregend war.

Der Novembertag könnte jedoch nicht weiter weg von alldem sein. Kalter Nieselregen fällt vom grauen Himmel, und die Wellen des eisig aussehenden Meeres schlagen ans Ufer. Der starke Wind überzieht das Wasser mit einer Gänsehaut.

»Harjula!«

Die Stimme gehört der technischen Ermittlerin, die kurz zuvor den Leichenfundort untersucht hat. Der Tod ist offenbar irgendwo anders eingetreten, bevor die starke Brandung und die Strömungen die Leiche an diesen Ort getragen haben.

»Die Kutsche ist da!«

Mit der Kutsche meint die Ermittlerin den Leichenwagen. Er ist über die Promenade zu der Stelle gefahren, wo im Sommer die Eisbude steht. Der Krankenwagen hat sich längst auf den Weg zu einem neuen Einsatz gemacht. Zu einem, bei dem das Leben des Patienten vielleicht noch zu retten ist.

»Okay«, sagt Harjula und nickt zerstreut. Als er sich umblickt, sieht er an beiden Enden der Promenade Gaffer, die von den Polizeistreifen auf Distanz von der Leiche am Uferrand gehalten werden.

Schaulustige gibt es zur Genüge. Jede Tragödie fasziniert die Menschen so sehr, dass sie sie mit eigenen Augen sehen wollen. Von so nah, dass man Fotos und Videos machen kann. Mitunter sogar Selfies. Es kotzt Harjula an, dass die Leute Unfälle und Tote über das Display ihres Handys anstarren. Bei der Polizeiarbeit erlebt man so etwas bedauerlich oft: Smartphones an den Fenstern von Autos, die an einer Unfallstelle vorbeifahren, oder auf Hochhausbalkons flackernde Blitzlichter, die das Blut auf dem Asphalt röter aussehen lassen, als es ist, wie in alten Filmen. Der Mensch ist im Grunde ein Aasvogel auf der Jagd nach Tragödien, die seinen langweiligen Alltag durchbrechen.

Aber genau das tut auch Jami Harjula. Natürlich nur beruflich, doch er denkt oft darüber nach, warum er von Jahr zu Jahr weiter im Umfeld des Todes arbeitet. Manchmal hat er das Gefühl, dass er jeden Tag, wenn er zur Arbeit geht, die Toten anstelle der Lebenden wählt. Der Tod hat Vorrang vor allem anderen. Auch jetzt sind Sini und die Kinder beim Wissenschaftstag der Schule im Wissenschaftszentrum Heureka. Dort sollte auch er jetzt sein. Eigentlich hat er heute einen freien Tag, doch Helene Lappi hat ihn zum Einsatz gerufen, als vor gut einer Stunde die tote Frau gemeldet wurde.

Harjula zieht die Lederhandschuhe straffer und geht mit langsamen Schritten zu der am Ufer liegenden leblosen Gestalt. Er betrachtet die Frau auf dem gefrorenen Sand, die ein zufällig vorbeigekommener Jogger vor anderthalb Stunden aus dem Wasser gezogen hat. Sie ist so leicht bekleidet, dass man annehmen könnte, sie wäre direkt aus einem Innenraum ins Wasser geraten, so weit das überhaupt möglich ist. Vielleicht ist sie von einem Schiffsdeck gestürzt. Oder sie wurde in einer Wohnung getötet und dann ins Wasser geworfen, vielleicht von einer Brücke. Allerdings gibt es zwischen Kallahdenniemi und Uutela keine einzige Brücke, was diese Theorie unwahrscheinlich macht.

Harjula zieht seine dünne Baumwollmütze aus und reibt sich die von Psoriasis geplagte Stirn.

Der Fall wirkt suspekt. Auf den ersten Blick weist nichts darauf hin, dass die Frau verletzt wurde. Nirgendwo sind Spuren äußerer Gewalteinwirkung zu sehen: Würgemale oder ein anderes sichtbares Trauma wie Einschusslöcher oder Messerstiche. Oder die Bisswunde von einem Hai, das wäre doch mal was. Harjula lächelt über den Gedanken und spürt gleich darauf Schuldgefühle.

»Bis nachher!«, ruft die Ermittlerin. Harjula hebt als Antwort den Arm, ohne sich umzublicken, und setzt die Mütze wieder auf.

Er zieht den rechten Handschuh aus, hebt sein Handy hoch und macht noch einige Aufnahmen von dem Opfer, jede aus einem etwas anderen Winkel. An der Leiche ist nichts zu sehen, was er in den anderthalb Stunden, die er am Ufer verbracht hat, nicht schon bemerkt hätte. Dennoch schreit die Tote geradezu danach, etwas zu entdecken. Harjula weiß genau, dass ein Unfall die wahrscheinlichste Todesursache ist, dass die meisten Ertrinkungstode nicht auf ein Verbrechen zurückzuführen sind. Aber diese Leiche hat etwas Seltsames an sich. Vielleicht liegt es an der Kleidung: Die Schuluniform sieht an der erwachsenen Frau klischeehaft sexy und irgendwie pervers aus. Merkwürdig ist auch, dass die Frau, die anhand ihres Personalausweises als die 22-jährige Ukrainerin Olga Belousova identifiziert wurde, offiziell nie nach Finnland eingereist ist. Das hat der Grenzschutz soeben bestätigt.

Harjula seufzt und steckt das Handy in die Manteltasche. Es ist Zeit, nach Pasila zurückzukehren. Der Rechtsmediziner wird die Todesursache schon klären.

Moment mal.

Etwas an dem weißen Arm der Frau nimmt seinen Blick gefangen. Ein schwarzer Punkt, der unter dem hellen Ärmel kaum zu sehen ist. Ein Tattoo?

Harjula geht neben der Frau in die Hocke, pickt einen kleinen Zweig aus dem Sand und hebt damit den nassen weißen Ärmel so weit an, dass er den Punkt ganz sieht. Dabei bemerkt er einen zweiten und bald darauf noch einige weitere. Sie bilden einen nahezu perfekten Kreis unterhalb des Ellbogens. Die schwarzen Punkte sehen aus der Nähe wie Brandwunden aus, von der Größe her könnten sie vielleicht von glühenden Zigaretten stammen, doch dafür sind sie eigentlich zu symmetrisch und perfekt. Die Male müssen mit einem erhitzten stumpfen Gegenstand eingebrannt worden sein: vielleicht mit einem dünnen Rohr.

Harjula holt das Handy hervor und macht noch ein Foto. Hinter sich hört er die Schritte der Männer, die gekommen sind, um die Leiche zu holen.

Die Frau ist markiert.

Harjula blickt wieder auf das Meer. Irgendetwas an den rauschenden Wellen veranlasst ihn, an seine Familie zu denken und sich zu fragen, ob es im Heureka wohl noch Dinosaurier gibt. Gerade wegen ihnen wollte er selbst als Kind dorthin.