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Freitag, 13. Dezember

Nikolas Ponsi hat seine Hände auf dem Tisch gefaltet und den Blick gesenkt. Nina denkt unwillkürlich, dass er ein wortloses Gebet spricht.

»Wie geht es ihr?«, fragt Ponsi leise. »Es war nicht meine Absicht, sie schwer zu verletzen, aber …«

»Du hast getan, was du tun musstest. Damit hast du einer Polizistin das Leben gerettet. Und sicher auch vielen anderen«, erwidert Nina.

Nikolas Ponsi trinkt einen Schluck Kaffee und kratzt sich das Gesicht. Seine Tränensäcke lassen darauf schließen, dass er nicht eine Stunde geschlafen hat.

»Machen wir weiter?«, schlägt Nina vor. Ponsi nickt.

Nina schaltet das Aufnahmegerät ein.

»Erzähl alles noch einmal, in deinen eigenen Worten.«

Nikolas Ponsi richtet den Blick auf die weiße Wand, vielleicht stellt er sich vor, er würde das Bild von Witold Pilecki ansehen.

»Vor ungefähr vier Jahren bat Jason mich, mit seiner alten Bekannten Essi zu reden, um die er sich schon seit längerer Zeit Sorgen machte. Es ging ganz offensichtlich um eine Art existentielle Krise, um Depression. Wir haben uns zum Kaffee verabredet, und ich habe sofort gemerkt, dass diese junge Frau sozial begabt war, dass sie aber eine spezielle Gleichgültigkeit ausstrahlte.«

»Könntest du das präzisieren?«, bittet Nina.

»Ich hatte den Eindruck, dass Essi sich ihrer Probleme bewusst war, aber eigentlich kein Interesse daran hatte, sie zu beheben. Mit anderen Worten, das, was ihr Freund Jason als Depression oder als eine Art Krise interpretiert hatte, war schlicht und einfach Frustration.«

»Frustration worüber?«

»Ich habe Essi danach einmal wöchentlich im Rahmen einer Therapie getroffen. Ich wollte ihr wirklich helfen, hatte aber Schwierigkeiten, den Kern des Problems zu verstehen. Deshalb habe ich ihr schon bald vorgeschlagen, einen Psychiater zu konsultieren. Aber sowohl sie selbst als auch Jason waren fest davon überzeugt, dass ich dank meiner reichlichen Erfahrung in der Jugendarbeit die bessere Alternative wäre. Jason vertraute mir, und deshalb fühlte sich wohl auch Essi bei mir sicher. Allmählich erkannte ich jedoch, dass es sich um sexuelle Frustration handelte. Wie viele Menschen, die zum Beispiel ihre sexuelle Orientierung geheim halten, war auch Essi frustriert, weil sie ihren Trieb nicht frei ausleben konnte. Das ist, als würde man in einem Druckkessel leben.«

»Und dir wurde klar, welcher Art Essis Trieb war?«

»Ja. Einmal hat sie mir ihre Zeichnungen gezeigt.« Ponsi schüttelt den Kopf. »Essi konnte wirklich zeichnen und malen. So talentiert. Aber damals verstand ich, dass sie möglicherweise krank ist.«

Nina schlägt eine Mappe auf, die auf dem Tisch bereitliegt, und dreht sie so, dass Ponsi den Inhalt sehen kann.

»Ich zeige dem Zeugen Nikolas Ponsi Fotos von Zeichnungen, die in der Wohnung der Tatverdächtigen gefunden wurden«, spricht sie auf das Band und sieht Ponsi an. »Handelte es sich um solche Zeichnungen?«

Ponsi schlägt die Hand vor den Mund und betrachtet die Fotos. Dann nickt er.

Nina will die Fotos nicht mehr anschauen, sie hat sie schon einmal gesehen. Als sie die Mappe wieder zu sich heranzieht, fällt ihr Blick dennoch auf blutige Schuluniformen, abgesägte Glieder und abgeschlagene Köpfe, in deren Augen Nägel getrieben wurden.

»Du hast damals nicht angenommen, dass Essi ihre Fantasien verwirklichen würde?«

Eine Träne rollt Nikolas Ponsi über die Wange.

»Junge Leute. Sie kommen zu mir. Beklemmt, ängstlich, verwirrt. Vertrauen aufzubauen ist ein langwieriger und empfindlicher Prozess. Ich greife zum Telefon, um die Polizei anzurufen, und kann nicht umhin zu denken, dass Essis Zeichnungen doch nur Zeichnungen sind, ein Bewusstseinsstrom und sozusagen eine Kanalisierung der Qual … Wenn ich mich irre, ist der Preis hoch.«

»Was geschah dann?«

»Vor zwei Jahren stellte sie ihre Besuche bei mir ein. Jason sagte, es gehe ihr besser. Er konnte nicht wissen, wie die Dinge tatsächlich lagen, und ich durfte natürlich nicht mit ihm darüber reden. Ich habe ihn aber gebeten, ein Auge auf Essi zu haben und mir Bescheid zu sagen, wenn sich die Situation verschlechtert.«

»Aber Jason ist nicht mehr auf die Sache zurückgekommen.«

»Nie mehr. Natürlich habe ich ihn ab und zu gefragt, wie es Essi geht, aber offenbar hatten sie nicht mehr so viel miteinander zu tun. Und dann … ist Jason vor ein paar Wochen verschwunden.«

»Sprich weiter, bitte.«

»Gestern Abend habe ich in den Nachrichten die von der Polizei veröffentlichten Fotos von Manga-Kleidern gesehen. Und da wurde mir klar, dass es einen Zusammenhang zwischen Lisa Yamamotos Verschwinden und den obsessiven Gewaltfantasien ihrer Mitbewohnerin geben musste. Ich bin zum ersten Mal auf Lisa Yamamotos Instagram-Account gegangen und habe die Manga-Zeichnungen gesehen. Sie waren natürlich anders als diejenigen, die Essi vor Jahren gezeichnet hatte, aber es stand außer Zweifel, dass die Gemälde und Zeichnungen nicht von Lisa, sondern von Essi stammten.«

»Deshalb bist du zu Essi gegangen?«

»Ich war schockiert. Ich hatte keinen Plan, aber ich musste mit Essi reden, bevor …«

»Warum hast du nicht die Polizei gerufen?«

Aufgebracht senkt Nikolas Ponsi den Blick von der Decke auf Nina.

»Wie hätte ich das tun können? Vor zwei Jahren habe ich nicht bei der Polizei angerufen. Und das würde ich auch jetzt erst tun, nachdem ich es aus ihrem Mund gehört hatte. Ich wollte, dass sie es aussprach … Dass nicht ich das Vertrauen gebrochen habe, sondern sie. Ich glaubte, richtig zu handeln. Mutig zu sein. Aber als ich auf der Kellertreppe stand und hörte, wie Essi dieser Niemi alles erzählte … da bin ich erstarrt und habe leise geweint. Erst da wurde mir klar, dass ich einen großen Fehler gemacht hatte. Und dann … dann habe ich endlich die Polizei angerufen.«