»Jusuf«, sagt Jessica und streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Ja?«
»Ich möchte dir was zeigen.« Jessica stellt die leere Bierdose auf den Tisch und winkt Jusuf, der auf dem Sofa sitzt, mit sich. Sie gehen durch die Tür in der Kochnische ins Treppenhaus.
Jessica vergewissert sich, dass die Tür zu ihrer Einzimmerwohnung geschlossen ist. Dann holt sie ein Schlüsselbund aus ihrer Jeanstasche und steckt einen der Schlüssel in das Schloss der Tür nebenan.
»Wohin …«, flüstert Jusuf und betrachtet das aufzuglose Treppenhaus. Die steinerne Treppe führt nach unten in die fünfte Etage und nach oben zum Dachboden.
Jessica antwortet nicht. Sie öffnet die massive Holztür und tippt eine Ziffernreihe in die Alarmanlage ein. Das Gerät piept kurz, dann gehen automatisch die Lampen an.
In dem hellen Licht, das Dutzende von Deckenlampen in die Eingangshalle werfen, muss Jusuf blinzeln. Der Kontrast zum Halbdunkel in der Einzimmerwohnung ist gewaltig.
Jessica hat schon viele verschiedene Gefühle auf Jusufs Gesicht gesehen, aber noch nie eine solche Miene wie jetzt. Es ist vielleicht eine Mischung aus Verblüffung und Belustigung. Sogar eine Spur Angst. Jusufs Gesichtsausdruck scheint zu fragen: Wer zum Teufel bist du eigentlich, Jessica Niemi?
»Zieh die Schuhe aus«, sagt Jessica. Es ist nicht nur eine Aufforderung, die der Sauberkeit dient, sondern auch eine erschöpfende Antwort auf Jusufs unausgesprochene Frage. Ja, das alles gehört mir.
Sie legt die Schlüssel auf die Kommode und geht, gefolgt von dem verloren wirkenden Jusuf, ins Wohnzimmer, dessen zahlreiche Erkerfenster einen Panoramablick über die Töölö-Bucht und das Parlamentsgebäude auf die Helsinkier Innenstadt bieten.
Sie wirft einen Blick auf Jusuf, der sich umdreht und die Kunstwerke an der Wand betrachtet.
»Edelfelt … Ist das echt?«
»Ja«, antwortet Jessica ruhig und bleibt am Fuß der weißen Wendeltreppe stehen, die nach oben führt.
»Wahnsinn, gibt’s hier ein Obergeschoss?«
»Ja. Nochmal hundertfünfzig Quadratmeter.«
»Wem … Ich meine … Das ist also deine Bude?«
»Mein Zuhause. Das ist mein Zuhause, Jusuf. Mein richtiges Zuhause«, sagt Jessica und spürt plötzlich Reue aufsteigen. Jusuf nach all diesen Jahren hierherzubringen ist vielleicht das Dümmste, was sie seit Langem getan hat. Es ist, als würde man ohne Fallschirm aus einem Flugzeug springen, sich dem freien Fall ausliefern, in der Hoffnung zu überleben. Doch Jessica hat keine Angst mehr vor dem Aufprall. Und deshalb hat sie beschlossen, Jusuf in ihre geheime Welt zu führen.
Sie gehen in die obere Etage, Jessica öffnet eine Tür nach der anderen, und Jusuf späht durch jede einzelne, lässt die Finger über die Wände und die Türrahmen gleiten, schnuppert den Geruch nach gesägtem Holz und frischer Farbe, der immer noch in den unbewohnten Räumen schwebt, verhält sich wie ein potenzieller Käufer bei einer privaten Wohnungsbesichtigung.
Wortlos gehen Jessica und Jusuf durch alle Zimmer, und Jessica spürt ein warmes Gefühl in ihrem Innern: Die komplette Offenbarung ist der einzig richtige Weg, die jahrelange Geheimnistuerei zu beenden. Jusuf wirkt unschlüssig, ist aber auch unverkennbar beeindruckt von dem, was er sieht. In Wahrheit kann Jessica nur mutmaßen, was er über all das denkt.
Sie bleiben einen Moment an der Tür zu Jessicas Schlafzimmer stehen und gehen dann weiter in ein zweites, fast gleichgroßes Schlafzimmer, dessen Fenster zum Park des Nationalmuseums gehen. Jessica braucht nichts zu sagen, Jusuf versteht spätestens jetzt, dass Erne der Einzige war, der davon gewusst hat. In diesem Zimmer hat Jessica Erne bis zu seinem Tod umsorgt.
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragt Jusuf nach langem Schweigen. Seine Stimme ist ein wenig heiser geworden. Jusufs Fragen sind immer begründet und intelligent, auch dann, wenn sie so einfach klingen wie jetzt.
»Was glaubst du?«, sagt Jessica.
»Aber wenn auch Erne …«
Jessica streicht über Jusufs Finger. »Sorry.«
Sie hört Jusufs bebenden Atem, sie spürt, wie der lange unterdrückte Schmerz aus ihm hervorbricht und ihm eine Träne über die Wange laufen lässt.
»Erne fehlt mir so, Jessi«, sagt er und wischt sich die Träne ab. Und da versteht Jessica, dass das, was Jusuf in den letzten zehn Minuten gesehen hat, nichts bedeutet. Weder im Guten noch im Schlechten. Erst der Anblick von Ernes Sterbebett hat ihn aus der Fassung gebracht. Was Jessica in den letzten Jahren vor den Blicken der anderen verborgen hat, ist in Wahrheit völlig gleichgültig.
»Mir auch«, antwortet sie. »Er fehlt mir wahnsinnig.«
Jusuf wendet sich ab, um seinen Gefühlsausbruch zu verbergen. Jessica verzichtet auf tröstende Worte, sie lässt ihm Zeit, sich zu sammeln.
»Es war ein hartes Jahr. Ich vermisse Anna … Und ich weiß nicht …«, stammelt Jusuf. Er trocknet sich die Augen mit dem Hemdärmel. »Sorry, ich weiß nicht, was über mich gekommen ist.«
»Das ist okay, Jusuf«, sagt Jessica.
»Und das hier …«, fährt er fort, schwenkt den Arm durch die Luft und verstummt, um seine nächsten Worte abzuwägen.
Er betrachtet das Zimmer, dann richtet er seine geröteten Augen auf Jessica, und einige Sekunden lang ist es unmöglich vorherzusagen, wie sich die Situation entwickeln wird. Vielleicht ist Jusuf irgendwie schockiert von dem Luxus, der so weit entfernt ist von der Welt blutiger Stichwunden, nach Pulver riechender Tatorte, verwesender Leichen und besoffenem Gebrabbel, mit der sie bei ihrer Arbeit täglich konfrontiert werden. Oder er ist ganz einfach enttäuscht, weil Jessica nicht genug Vertrauen zu ihm hatte, ihm ihr Geheimnis früher zu offenbaren.
»Ich geh mal davon aus, dass die Wohnung nicht alles ist«, sagt er schließlich.
»Nein. Es gibt noch mehr. Viel mehr.«
»Du bist also steinreich, wie Kirsti Paakkanen.«
»Ja«, antwortet Jessica leise. »Immer schon. Alles geerbt, bevor ich erwachsen wurde.«
»Okay.« Jusuf schüttelt den Kopf.
»Alles in Ordnung? Bist du sauer?«
»Ja, ich bin sauer. Weil wir bis jetzt in deiner schäbigen Bude gehockt haben. Dabei hätten wir hier Orgien feiern können«, sagt Jusuf und lässt sein schönes Lächeln sehen.