Rasmus Susikoski wirft einen Blick auf die Tür des Besprechungszimmers. Nachdem er sich vergewissert hat, dass im Flur kein Geräusch zu hören ist, nimmt er einen Golfball aus seiner Aktentasche und legt ihn vorsichtig auf den Boden. Er zieht den linken Schuh aus und stellt den Fuß auf den Ball. Die Fußsohle schmerzt bei der rollenden Bewegung, die jedoch nach Ansicht des Physiotherapeuten eine positive Wirkung hat. Rasmus, der sein Leben lang mit krummem Rücken vor dem Monitor gehockt hat, leidet seit einiger Zeit unter einer zunehmenden Muskelversteifung; die schlechte Haltung und die ständige Anspannung haben allmählich zu einer ganzheitlichen Körperblockade geführt. Das hat der allwissende Medizinmann gesagt. Er habe noch nie so verspannte Muskeln berührt, was insofern eigenartig ist, als Rasmus praktisch keinerlei Sport treibt. Wie ein Golfball unter der Fußsohle die Anspannung des ganzen Körpers lockern kann, ist Rasmus ein Rätsel. Die Übung ist jedoch so einfach und so leicht durchzuführen, dass es zumindest eine Beleidigung gegenüber seiner Mutter wäre (die ihn zu der Behandlung geschickt und sie auch bezahlt hat), die Anweisungen des Physiotherapeuten zu missachten. Drei Minuten pro Fuß, zweimal täglich.
»Ins Besprechungszimmer«, sagt eine Stimme irgendwo in der Ferne, und Rasmus zuckt zusammen. Hastig hebt er den Ball auf und zieht den Schuh an. Er gilt an seinem Arbeitsplatz ohnehin schon als seltsamer Vogel, auch ohne Massage mit einem Golfball. Außerdem stinken seine Schuhe fürchterlich. Sogar er selbst kann das riechen.
»Hier bist du also«, sagt Hellu, als sie kurz darauf den Raum betritt. Rasmus nickt, schiebt seinen Laptop ein Stück weiter zur Tischmitte und schaltet mit der Fernbedienung den Beamer an der Decke ein.
»Haben wir eine Besprechung?«, fragt er unsicher.
»Ja. Eine Kurzbesprechung«, antwortet Hellu und streicht sich über die Haare, während sie sich Rasmus gegenüber hinsetzt. Zwar verhält sie sich in vielerlei Hinsicht deutlich offizieller und förmlicher als Erne, doch sie verwendet in vielen Situationen weniger Autoritätssymbole. Anders als Erne setzt Hellu sich im Besprechungsraum oder in der Kantine nie ans Tischende, sondern nimmt immer zwischen den anderen Platz, mal hier, mal da. Vielleicht handelt es sich um Bodenständigkeit oder um den bewussten Versuch, Solidarität zu zeigen. Die wahrscheinlichere Erklärung ist jedoch, dass sie sich aus kühler Berechnung so verhält, um sich keinerlei Rebellion auszusetzen, sich nicht zum Ziel von schrägen Blicken oder geflüsterten Witzen zu machen. Vielleicht war sie in ihrem früheren Leben eine Klassenlehrerin, die von den Zetteln, die in der Klasse kursierten, an den Rand des Wahnsinns getrieben wurde. Wenn man das Ganze von dieser Seite betrachtet, war Erne vielleicht einfach mutiger und stärker eins mit seiner Rolle als seine Nachfolgerin.
»Wer kommt noch?«, erkundigt sich Rasmus, nachdem er eine Weile erfolglos versucht hat, dem Blick seiner Chefin auszuweichen.
»Nina.«
»Nina?«
»Ist das ein Problem?«, fragt Hellu stirnrunzelnd.
Rasmus senkt den Blick. Seit den Ereignissen im Februar ist Nina nicht mehr dieselbe wie früher. Vermutlich verändert sich irgendetwas im Innern eines Polizisten dauerhaft, wenn er um ein Haar im Dienst sein Leben verloren hätte. Ein vorzeitiger, gewaltsamer Tod ist eines der Berufsrisiken, aber erst, wenn man ihm gerade noch entgangen ist, versteht man, dass dieses Risiko real ist.
Rasmus stellt Ninas Fähigkeit, ihre Arbeit zu tun, allerdings nicht in Frage. Eher beunruhigt ihn das, was zwischen Jessica und Micke vorgefallen ist. Dass Nina in all dem Chaos von der sexuellen Beziehung zwischen ihrem Freund und ihrer Kollegin erfahren musste. Einer Kollegin, die zugleich ihre Freundin war. Was hat Jessica sich bloß dabei gedacht?
»Natürlich nicht.« Zu seiner eigenen Überraschung bringt Rasmus die Antwort heraus, ohne zu stottern. Im selben Moment kommt Nina herein und schließt die Tür hinter sich.
»Setz dich«, sagt Hellu und klappt ihren Laptop auf.
Rasmus betrachtet unwillkürlich Ninas durchtrainierte Arme und ihren sehnigen Nacken. Sie hat immer schon sowohl psychische als auch körperliche Kraft ausgestrahlt, was jedoch vielen entgangen ist. Aus irgendeinem Grund hat Jessica, wenn auch unwillentlich, mit ihrem als Humor verkleideten Zynismus und ihrer zierlich-kantigen Erscheinung im Präsidium die Position des Alpha-Weibchens und der begehrtesten Frau erreicht. Aber für Rasmus war Nina immer die Frau und Kollegin seiner Träume. Die durchtrainierte, gefährliche Nina mit dem schwarzen Gürtel im Judo, die Rasmus in weniger als zehn Sekunden zu Boden werfen und mit einem Kissen ersticken könnte. Die Vorstellung ist ebenso erschreckend wie erregend.
»Rasmus?« Hellu knipst mit den Fingern. »Bist du wach?«
»Natürlich.«
»Ich muss gleich zu einer Besprechung in die obere Etage, also ziehen wir das jetzt schnell durch«, sagt sie und gibt ihr Passwort ein. Die bekannte Windows-Melodie erklingt.
»Tagelang gar nichts, und dann gibt es plötzlich wahnsinnig viel zu tun. In Vuosaari wurde nämlich die Leiche einer jungen Frau aus dem Wasser gezogen.«
»Einer jungen Frau?«, fragt Rasmus. Hellu weiß, worauf er hinauswill.
»Ja, aber es ist nicht Lisa Yamamoto, sondern irgendeine Ukrainerin. Sie hatte ihren Personalausweis im Rucksack«, erklärt sie und starrt einen Moment lang wie abwesend auf ihren Monitor.
»Okay, zurück zu dem früheren Fall«, sagt sie dann plötzlich. »Jessica und Jusuf vermuten, dass die Person, die Lisa Yamamotos Instagram-Foto auf Japanisch kommentiert hat, vor rund einer Woche in ihrer Wohnung war.«
»Hat jemand diese Person gesehen?«
»Nur Lisa Yamamoto selbst«, sagt Hellu. »Aber ihre Mitbewohnerin hat die Stimme gehört. Ein Mann. Nicht sehr alt. Könnte durchaus der … Zeig’s mir nochmal.« Sie knipst fordernd mit den Fingern. Rasmus klickt das Profil des Users mit dem Namen Akifumi251146 an, dessen rundes Icon einen asiatischen Mann in einem schwarzen Rollkragenpullover zeigt. Das Gesicht wirkt irgendwie seltsam, beinahe, als wäre es nachträglich in das Bild eingefügt worden.
»Wir wissen aber nicht, ob der Mann auf dem Bild etwas mit der Sache zu tun hat, es kann auch ein Troll sein«, erklärt Rasmus. Nina nickt zustimmend.
»Letzten Endes wissen wir ja nicht mal, ob überhaupt etwas Dramatisches passiert ist«, merkt Hellu lakonisch an, als wollte sie der gerade eingeleiteten Ermittlung den Boden entziehen.
»Da hast du auch wieder recht.«
»Was sieht man im Hintergrund des Fotos?«, fragt Hellu.
»Bilder. Gemälde?«
»Weiße Wände. Die Aufnahme könnte in einer Galerie gemacht worden sein.«
»Stimmt«, sagt Rasmus. Er kneift die Augen zusammen und mustert das Foto genauer. Hinter dem Mann sind zwei Bilder zu sehen, beide nur zur Hälfte. Vielleicht Ölgemälde. Dicke Pinselstriche und helle Farben. Ziemlich universal und schwer zu identifizieren.
»Kommen wir an die Daten zu dem Profil heran?«, will Hellu wissen.
»Wahrscheinlich. Im Prinzip können wir ohne Durchsuchungsbefehl den Namen, die Kreditkartendaten, die Mailadresse und die IP-Adressen bekommen, die in letzter Zeit zum Ein- oder Ausloggen verwendet wurden. Aber auch dafür brauchen wir Dokumente vom Gericht mit englischer Übersetzung. Und eine Art Notiz über die eingeleitete Vorermittlung.«
»Meine Güte«, seufzt Hellu kopfschüttelnd. »Okay, ich besorg dir das alles. Wie lange brauchst du, um die Anfrage loszuschicken?«
»Schwer zu sagen«, meint Rasmus. »Ich kann sie per Webformular schicken, und die Antwort kommt eventuell schnell, wenn ich die Sache als Mordermittlung klassifizieren kann.«
»Ich seh zu, was ich tun kann«, sagt Hellu und steht auf. »Du solltest jetzt Nina zu dem Projekt briefen. Wir treffen uns dann um vier alle wieder hier, wenn vorher nichts Außergewöhnliches passiert.«