Jessica steckt die Hände in die Manteltaschen und betrachtet den nassen Asphalt unter ihren Füßen. Der Nieselregen hat aufgehört, und die Luft riecht frisch, bis der Qualm der Zigarette, die Jusuf sich ansteckt, den Geruch restlos verdirbt.
»Letzten Mittwoch zwischen fünf und sechs«, sagt Jusuf und bläst den Rauch durch den Mundwinkel aus. Das haben sie gerade von Essi erfahren, die den Besuch des Bildkäufers doch zeitlich eingrenzen konnte, weil sie zur selben Zeit mit ihrer Mutter geskypt hat.
Jessica antwortet nicht. Sie blickt die Messeniuksenkatu hinunter und stellt sich den Rücken des Mannes vor, der das Bild bestellt hat und sich nun entfernt, eine leicht gebückt gehende Gestalt mit hochgeschlagenem Mantelkragen wie die Geheimagenten in alten Spionagefilmen. Ein Mann, der dorthin zurückkehrt, woher er kam. In Wahrheit wissen sie nichts über ihn. Abgesehen davon, dass er mit Lisa Japanisch gesprochen und ein starkes Rasierwasser benutzt hat. Das ist alles.
»Wir können ihn ja bitten, sich bei der Polizei zu melden«, schlägt Jusuf vor.
»Wenn der Typ irgendwas mit Lisas Verschwinden zu tun hat, reagiert er nicht darauf«, entgegnet Jessica leise und schließt die Augen. Sie denkt an ihre Begegnung mit dem blonden Schulmädchen auf Lisas Gemälde, daran, wie schnell das Bild zum Leben erwacht ist, nur um vor ihren Augen zu sterben.
»Das ewige Dilemma«, seufzt Jusuf.
»Die grauen Farbtöne, die Lisa verwendet hat … Sie hat den Leuchtturm gemalt.« Jessica betrachtet das Foto, das sie von der Skizze gemacht hat. Die Skizze ist fast identisch mit dem auf Instagram geposteten Foto, mit dem Unterschied, dass auf der Skizze ein streng dreinblickendes Mädchen vor dem Leuchtturm steht. Der Bildwinkel und die Entfernung vom Leuchtturm sind ziemlich gleich.
»Lisa hat das Bild vielleicht nach einer Vorlage gemalt. Der Auftraggeber hat ihr dieses Foto geschickt und sie gebeten, den Leuchtturm genau so zu malen, aber das Mädchen davor zu platzieren«, überlegt Jusuf und wirft seine Kippe in den Gully.
»Das würde bedeuten, dass das auf Instagram gepostete Bild mindestens eine Woche alt ist.«
»Kann ja direkt bei Google kopiert worden sein. Ein Stockfoto.«
»Aber was zum Teufel hat es mit Lisa zu tun?«
»Vielleicht gar nichts.«
»Daran glaube ich keine Sekunde. Es muss einen Grund geben, weshalb der Mann wollte, dass gerade Lisa, die von Beruf gar keine Malerin ist, den Leuchtturm malt. Und dann das Foto auf Instagram. Das Gedicht. Und das R. I. P.«
»Scheiße«, sagt Jusuf, dem offenbar nichts anderes einfällt. Sie gehen zu ihrem Wagen. »Lisa hat das Bild sicher fertig gehabt. Und der Mann hat es entweder abgeholt …«
»Als Essi nicht zu Hause war …«
»… oder Lisa hat es ihm persönlich gebracht.«
»Nicht unbedingt. Vielleicht hat sie es ihm geschickt, zum Beispiel mit einem Boten«, wendet Jessica ein. Im selben Moment meldet ihr Handy eine Nachricht.
»Stimmt. Das müssen wir nachprüfen. Wir können uns nachher gleich bei den größeren Firmen erkundigen«, sagt Jusuf und öffnet die Fahrertür.
Jessica starrt auf ihr Handy, seufzt tief und steckt es in die Manteltasche.
»Was jetzt?«, fragt Jusuf, als beide im Auto sitzen.
»In Vuosaari wurde die Leiche einer Frau um die zwanzig gefunden. Am Badestrand an der Bucht Aurinkolahti, im Uferwasser.«
»Kann das …«
»Nein. Sie hatte ihre Papiere im Rucksack. Eine Ukrainerin.«
Jusuf lässt den Motor an und legt den Kopf an die Nackenstütze.
»Verdammt düster, das alles«, seufzt Jessica.
»Ja. Mal sehen, ob wir auch diesen Fall untersuchen sollen.«
»Oder nur den, wenn wir zu den Bloggern nichts Konkreteres finden. Eine Leiche ist immerhin eine Leiche, und Vermisste sind nur Vermisste«, sagt Jessica, während Jusuf den Wagen zurücksetzt. Sie sieht ihn an und dann an ihm vorbei zur Haustür des Gebäudes.
»Warte mal!«, ruft sie, und Jusuf hält an.
»Was?«
»Hat der ältere Herr nicht gesagt, die Klingel wäre gerade erst repariert worden?« Jessica zeigt auf die Klingelknöpfe neben der Tür.
»Ja, hat er.«
»War sie womöglich am letzten Mittwoch kaputt?«
»Kann sein. Wieso?«
»Dann muss der Mann Lisa angerufen haben, bevor er sie besucht hat.«