Jusuf hält an der Ampel und dreht die Musik ein bisschen lauter. Der herrlich träge Song Lahden Sininen von der Band SMC Lähiörotat setzt ein, doch Jessicas Kopf bewegt sich nicht im Takt der Musik. Manchmal gefällt auch ihr der eine oder andere von Jusufs Lieblingssongs, aber im Allgemeinen ist seine Playlist zu tiefsinnig für ihren Geschmack. Jusufs Spotify-Mischung enthält vor allem Musik, die nicht bis zum Abwinken auf den Hitlisten der kommerziellen Sender läuft. Und es handelt sich keineswegs nur um finnischen Rap, vielmehr sind auch eine ganze Reihe Punk- und Rock-Songs dabei.
»Spiel was Poppigeres«, sagt Jessica, als der Song beim Refrain angekommen ist.
»Such selbst was aus.«
»Das ist dein Auto.«
»Eben«, versetzt Jusuf, als die Ampel umspringt.
Sie fahren in einer langen und nur langsam vorrückenden Schlange auf der vierspurigen Mechelininkatu, die am Sibelius-Park vorbeiführt. Jusuf betrachtet das in einiger Entfernung schimmernde Sibelius-Denkmal und die Menschenmenge, die sich dort versammelt hat. Die Touristenbusse, in denen die Leute hergekommen sind, stehen vermutlich weiter hinten an der Merikannontie und fahren anschließend weiter zur Felsenkirche. Auf einer Parkbank sitzt ein Penner, über dem die blattlosen Äste im Takt des Windes tanzen.
Jusuf schaut zu Jessica hinüber, die ihren Blick ebenfalls auf das Denkmal gerichtet hat. Das heißt, eigentlich blickt Jessica nur zum Fenster hinaus, ohne darauf zu achten, was sie sieht. Das tut sie immer, wenn sie einen Fall untersucht, sie heftet ihren nachdenklichen Blick auf die wirbelnde Welt hinter der Scheibe, blickt vielleicht durch das Gewimmel in eine andere Wirklichkeit, bis sie auf einen neuen Gedanken stößt. Sie liest die Welt, indem sie sie lange und genau betrachtet. Nach Jusufs Ansicht ist das ihre reizendste Eigenart.
Diesmal sagt Jessica jedoch nichts, sondern wendet den Blick zur Windschutzscheibe und seufzt tief.
»Alles in Ordnung?«, fragt er.
Jessica sieht ihren Kollegen von unten herauf an.
»Wieso?«
Darauf hat Jusuf keine Antwort parat. Er überlegt fieberhaft, was er sagen könnte, ohne bevormundend zu klingen. Jessica kann das vorsichtig tastende Alles in Ordnung nicht ausstehen.
Im selben Moment klingelt Jusufs Handy über den Lautsprecher. Auf der digitalen Anzeige am Armaturenbrett steht Nina Ruska.
Jusuf sieht Jessica fragend an. Als sie keine Miene verzieht, meldet er sich.
»Hallo Nina.«
»Hallo, stör ich?«
Ninas Stimme klingt ruhig, aber freudlos. Die Art, wie sie redet, entspricht der Stimmung, die in Pasila momentan herrscht.
»Nein. Wir sind gerade im Auto.«
»Bin ich auf Lautsprecher?«, fragt Nina.
Jusuf schluckt und wirft Jessica wieder einen Blick zu. Die Beziehung zwischen den beiden Frauen ist ziemlich eisig, seit herausgekommen ist, dass Jessica eine kurze Affäre – eher eine zwei Nächte dauernde Liaison – mit Ninas Freund und ihrem gemeinsamen Kollegen Mikael hatte.
»Ja.« Jusuf kneift die Lippen zusammen. Jessica verschränkt die Arme und schließt die Augen.
»Ich bin hier«, sagt sie schließlich. Ihre Körpersprache macht jedoch deutlich, dass Jusuf für den Rest des Gesprächs zuständig ist.
»Hellu hat angeordnet, dass ich mitarbeiten soll«, sagt Nina nach kurzem Schweigen.
»Bei dem Instagram-Fall?«
»Ja.«
»Aber … Ist nicht in Vuosaari gerade eine Leiche gefunden worden?«
»Na und? Willst du damit sagen, dass ihr mich nicht braucht?«
»Natürlich nicht«, beschwichtigt Jusuf und schaltet krachend einen Gang herunter, eine schlechte Angewohnheit, die Jessica manchmal nervt. »Ich hatte bloß angenommen, Hellu würde alle freien Kräfte dafür einsetzen.«
»Ich bin jetzt bei euch dabei, jedenfalls vorläufig«, sagt Nina. Im Hintergrund sind klickende Tasten und ein seltsames Räuspern zu hören, das vermutlich aus Rasmus’ trockener Kehle kommt. Es ist unglaublich, dass dieser chronisch halbkranke 34-jährige Teenager von allen nur denkbaren Kinderkrankheiten geplagt wird.
»Gut.« Nun hustet auch Jusuf. »Sehr gut.«
Er fühlt sich wie ein Schlichter, der zwei streitende Katzen besänftigen muss. Warum in aller Welt soll er das tun? Er hat nicht mit dem Freund von irgendwem geschlafen. Genau genommen hat er in den letzten Monaten mit niemandem geschlafen.
»Na jedenfalls, ich habe gerade die ersten Informationen über die Teledaten und Kreditkarten der beiden Vermissten bekommen«, fährt Nina fort.
»Schieß los.«
»Nervander war den Teledaten zufolge mindestens kurzzeitig im Nachtclub Fenix. Und er hat zwischen 18:01 und 19:32 Uhr immer wieder versucht, Lisa Yamamoto anzurufen. Beide Handys wurden in der Nacht zum Sonntag zwischen zwei und halb vier ausgeschaltet. Der Netzlokalisierung nach war Yamamotos Handy zu dem Zeitpunkt im Fenix.«
»Und Nervanders?«
»Das letzte Signal von Jason Nervanders Handy wurde um 02:04 Uhr im Stadtteil Vuosaari empfangen. Jetzt müssen wir herausfinden, was er am anderen Ende der Stadt gemacht hat.«
»Und danach?«
»Nichts mehr. Lisa Yamamotos Bankkarte wurde um 01:23 Uhr im Fenix zum letzten Mal benutzt. Nervander hat mit seiner Karte am Samstag um 12:16 Uhr im Lebensmittelladen in seiner Nachbarschaft bezahlt.«
»Okay, danke, Nina. Wir sind gerade auf dem Weg zum Fenix, um uns die Aufnahmen der Überwachungskameras anzusehen. Der Clubchef hat gesagt, dass zumindest ein Portier sich erinnert, Lisa und Jason an dem Abend gesehen zu haben«, sagt Jusuf. Über die Kreuzung rasen zwei Feuerwehrautos mit Blaulicht und Sirenengeheul.
»Ach ja, noch was: Hast du schon eine komplette Liste der Anrufe von und bei den beiden?«, fragt er.
»Noch nicht, die bekomme ich bald von Rasse.«
»Schickst du sie uns bitte gleich, wenn du sie bekommst? Sie könnte was Interessantes enthalten«, bittet Jusuf.
»Sobald ich am Rechner sitze.«
»Danke«, sagt Jessica leise, aber Nina hat schon aufgelegt.
Im Auto ist es eine Weile still.
Das Arsenal der orangen Lampen an der Baustelle der Nebenspur spiegelt sich auf dem nassen Asphalt und leuchtet grell ins Wageninnere. Hinter den Baggern zerreißt ein schwerer Straßenbohrer den Asphalt so mühelos, als wäre er eine kross gebackene Brotkruste. Die meisten Bauarbeiter stehen scheinbar tatenlos um die riesigen Maschinen herum, rauchen und lassen die Thermoskanne kreisen. Im Zentrum von Helsinki wurden in jedem zweiten Viertel Straßen aufgerissen und sind oft monatelang eine einzige Baustelle. Deshalb sind die Menschen, die die Straßen benutzen, sauer, wenn sie die Untätigkeit sehen. Macht wenigstens ein Stück Straße fertig, bevor ihr qualmt.
»Einer arbeitet, die anderen passen auf«, motzt Jusuf, als der Verkehr stockt, weil mehrere Wagen vor der nächsten Baustelle die Spur wechseln. »Jessica?«
»Ja?«
»Das wird schon wieder. Nina braucht nur ein bisschen …«
»Warum habt ihr euch getrennt, Anna und du?«, fragt Jessica überraschend und sieht Jusuf an.
»Was hat das damit zu tun?«
»Du hast es mir nie erzählt.«
»Ich weiß nicht, ob ich darüber reden möchte. Jedenfalls nicht gerade jetzt.«
»Also vergessen wir Nina und Anna und konzentrieren uns auf den Fall«, sagt Jessica und richtet den Blick auf die orangen Lampen.