Jessica hört ein Klirren hinter sich und weicht einer tätowierten Frau aus, die eine Karre mit hoch aufgetürmten Getränkekästen schiebt. Die Vorbereitungen für den Abend sind schon in vollem Gange, obwohl es erst Mittag ist. Den leeren Saal füllt das Stimmengewirr der Angestellten und als gleichmäßige Geräuschkulisse das pausenlose Klappern der Flaschen, die aus den Kästen in die Kühlschränke unter der Theke wandern.
»Hier entlang«, sagt der schwarzhaarige Mann auf Englisch und öffnet eine Tür, an der STAFF ONLY steht. Der Restaurantchef, ein Mann mittleren Alters in Jeans und Pullover, dem Akzent nach Amerikaner, hat sich gerade selbstironisch im James-Bond-Stil vorgestellt. Dominis. Frank Dominis.
»Kennen Sie sich mit diesen Geräten aus?«, fragt Dominis, nach wie vor auf Englisch, und streicht sich die langen Locken aus der Stirn. Jessica blickt sich kurz in dem mit Aktenordnern gefüllten Raum um, auf dessen einzigem Tisch ein Computer und mehrere Monitore stehen. Das billige schwarze Ledersofa an der Wand könnte unter UV-Licht durchaus gefleckt sein wie ein Leopard. In den Personalräumen ist immer so manches passiert: Viele junge Menschen haben hier die Beine breitgemacht, um eine VIP-Karte für den Nachtclub zu ergattern.
»Ich denke schon«, antwortet Jusuf, geht an Jessica vorbei und setzt sich an den Tisch.
»Hier können Sie die Zeitspanne wählen und hier die Kamera. Unten am Eingang gibt es zwei, in den Aufzügen eine, an der Garderobe und im Restaurant …«
»Danke, Frank«, sagt Jusuf abweisend. »I think I’ll manage.«
»All right, detectives.« Frank Dominis verschränkt die Arme und schenkt Jessica ein rätselhaftes Lächeln. Sein Blick ist intensiv und forschend, aber seine Pupillen bleiben strikt auf Jessicas Gesicht geheftet. Er ist als Jäger zu erfahren, um Frauen mit den Augen auszuziehen, seine Agenda zu früh zu enthüllen. Frank Dominis ist unverkennbar ein Mann, dessen scheinbare Feinfühligkeit genau kalkuliert ist. Und gerade deshalb wirkt er bezaubernd ehrlich.
»Sie kommen mir so bekannt vor«, sagt er zu Jessica. »Feiern Sie manchmal hier?«
In ihren Haaren spürt Jessica den Luftzug des Ventilators an der Decke.
»Nein«, antwortet sie kühl, obwohl sie das leichte Geplauder in Wahrheit nicht stört. Der Mann ist wie Hank Moody aus der Serie Californication, dem die im nächtlichen Getriebe verbrachten Jahre eine Art weltmännisches Charisma verliehen haben. Trotz des ernsten Anlasses wirkt er harmlos und nett.
»Ich könnte schwören, dass ich Sie hier schon mal gesehen habe«, beharrt er.
»Kann schon sein. Vor zehn Jahren«, entgegnet Jessica, ohne eine Miene zu verziehen, während Jusuf darangeht, die Videodateien zu öffnen.
»Oder warum nicht am nächsten Wochenende? Oder in zehn Jahren. Die Situationen wechseln.« Dominis lacht auf und lässt seine geraden, vielleicht eine Spur gelblichen Zähne sehen. Da begreift Jessica, dass er eine Art stutzerhafte und extrovertierte Version von Erne ist.
»Mir wurde gesagt, dass wir den Portier befragen können«, wechselt sie das Thema.
»Sahib«, entgegnet Dominis leise und nickt zur offenen Tür hin, an der wie auf Bestellung ein großer Mann in weitem Hoodie und Trainingshose aufgetaucht ist.
»Sahib Alem«, sagt der Portier und hält Jessica die Hand hin. Während Jessica sie ergreift, betrachtet sie die widersprüchliche Erscheinung des Mannes: Sein Kopf ist kahlgeschoren, er hat Blumenkohlohren wie ein Ringkämpfer, aber sensible, kluge Augen. Die riesige Hand drückt behutsam zu, als hätte der große Mann Angst, Jessica wehzutun.
»Niemi, Polizei«, sagt Jessica und lässt seine Hand los.
»Frank hat mich gebeten herzukommen«, fährt Sahib fort. Jessica wirft einen Blick auf den Restaurantchef und auf Jusuf, der sich auf den Monitor konzentriert. Das Zimmer wird zu klein für sie alle.
»Danke, dass Sie gekommen sind. Gehen wir da hin.« Jessica deutet mit dem Kopf auf die großen Fenster und die verglaste Terrasse. Frank Dominis erklärt, er stehe jederzeit zur Verfügung, und marschiert quer durch den Saal zur Bar. Als Jessica auf die Fenster zugeht, blickt sie über die Schulter noch einmal zu dem Restaurantchef zurück, der sich unter die anderen Mitarbeiter hinter dem Tresen mischt.