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»Frank Dominis meinte, Sie hätten uns etwas zu erzählen«, beginnt Jessica, als sie die große Terrasse betreten, von der aus man die Dächer des Bahnhofsplatzes sehen kann.

»Von der Garderobe aus sieht man einiges«, antwortet Sahib, holt eine Blechdose aus der Tasche und steckt sich eine Zigarette an. Jessica riecht das Butan des Feuerzeugs, dann schnappt es zu und verschwindet wieder in der Tasche der weiten Hose. Die vielleicht tausendfach wiederholte Bewegungsbahn ist die einfache, aber elegante Choreografie eines Rauchers.

»Sie kennen Lisa Yamamoto?«

»Kennen wäre zu viel gesagt. Aber ich weiß, wer sie ist.«

»Ist sie oft hier?«

Sahib zieht an seiner Zigarette, und als er zu sprechen beginnt, klingt seine Stimme vorübergehend tiefer als vorher.

»Ich steh seit fast fünf Jahren hier an der Tür. Jedes Wochenende. Wie soll ich es sagen, Lisa war früher öfter hier. In letzter Zeit seltener. Wenn überhaupt. Wahrscheinlich hat man irgendwann von allem genug«, sagt er und bläst den Rauch zu dem Heizstrahler, unter dem er eine kleine Wolke bildet und sich rötlich färbt.

»Aber am Samstag haben Sie sie gesehen?«

»Ja.«

»Erzählen Sie mal mit Ihren eigenen Worten.«

»Von Lisa?«

»Von der Party für Kex Mace’s. Von dem Abend. Haben Sie irgendetwas Merkwürdiges gesehen oder gehört, was damit zu tun haben könnte, dass Lisa seitdem verschwunden ist?«

Sahib zieht erneut an seiner Zigarette. Jessica mustert die Tattoos auf seinem Handrücken und den Fingerknöcheln. Der Zigarettenrauch und die Zitrusnote des Rasierwassers rufen ihr eine lange zurückliegende Situation ins Gedächtnis. Die Tätowierungen. Sie erinnert sich, sie manchmal ganz aus der Nähe betrachtet zu haben, als sie bäuchlings auf dem Bett lag und einen irrsinnigen Orgasmus erlebte. Und später einen unerträglichen Schmerz. Die Hand, die ihr einmal himmlischen Genuss und dann unermessliche Qual bereitet hat, gehörte allerdings nicht dem Portier Sahib Alem, sondern einem ganz anderen Mann, in einem anderen Leben. Jemandem, den im Hinterzimmer eines venezianischen Konzertsaals der Tod ereilte. Als Jessica eine Sekunde lang die Augen schließt, verschwindet die Erinnerung so schnell, wie sie gekommen ist.

»Ob ich etwas Seltsames gesehen habe? Eigentlich nicht«, sagt Sahib und blickt über die Dächer von Helsinki. »Lisa ist allein zur Party gekommen und zur Sperrstunde gegangen.«

»Ist sie allein gegangen?«

»Schwer zu sagen, zu der Zeit standen sicher hundert Leute an der Garderobe und warteten auf ihre Mäntel. Ich erinnere mich dunkel, dass sie ihre Klamotten geholt hat, aber ich habe keine Ahnung, mit wem sie zusammen war.«

»Waren Sie den ganzen Abend an der Garderobe?«

»Mehr oder weniger. Ein paar Mal bin ich über die Tanzfläche gegangen, und gegen Ende des Abends habe ich einen Typen geweckt, der da drüben auf dem Sofa eingeschlafen war.«

»Sie können also nicht sagen, mit wem Lisa hier abgehangen hat.«

Sahib lacht auf und steckt die Daumen in die Taschen seiner Trainingshose, die qualmende Zigarette immer noch zwischen den Fingern.

»Impossible«, sagt er auf Französisch. »Aber auf den Bildern der Kameras ist bestimmt was zu sehen. Mindestens, ob sie allein oder mit jemandem zusammen weggegangen ist.«

Jessica fingert an dem Notizblock in ihrer Manteltasche. Bisher hat der Portier nichts gesagt, was notiert werden müsste. Bei einem kurzen Blick durchs Fenster sieht sie Frank Dominis, der einen Karton mit Champagnerflaschen trägt und über die Bemerkung einer Frau mit großer Oberweite lacht.

»Kennen Sie Jason Nervander?«, fragt Jessica, ohne Sahib anzusehen.

»Dasselbe wie bei Lisa. Ich kenne ihn nicht persönlich. Aber ich weiß, wer er ist«, lächelt Sahib.

»Und er war am Samstagabend auf der Party?«

»Nein«, antwortet Sahib.

Jessica sieht ihn fragend an.

»Nicht? Ich hatte den Restaurantchef so verstanden, dass Sie ihn hier gesehen haben.«

»Hab ich auch«, sagt Sahib und drückt die Zigarette aus. Er reibt sich die Hände, als wolle er den Geruch vertreiben. Dann fährt er fort: »Jason war nicht auf der Party, weil ich ihn nicht eingelassen habe. Ich hatte an der Garderobe eine Gästeliste, wo ich alle eingetragen habe. Diejenigen, die ich nicht kannte, habe ich nach ihrem Namen gefragt. Die Anweisungen waren klar und kamen von Kex’ Plattenfirma: Reingelassen wird nur, wer auf der Liste steht. Ausnahmen werden nicht gemacht. Nicht mal, wenn der finnische Präsident oder die Band Fintelligens reingewollt hätte.«

»Und Jason Nervander stand nicht auf der Liste?«

Sahib schüttelt den Kopf und lehnt sich mit beiden Händen an das Terrassengeländer. Er blickt eine Weile zum Horizont, und aus irgendeinem Grund hat Jessica das Gefühl, dass er das oft tut. Nur irgendwohin schauen. Und nachdenken.

»Nein, er war nicht auf der Liste.«

»Aber er hat versucht reinzukommen?«

Sahib seufzt, dreht sich zu Jessica um und stützt die Hände in die Hüften.

»Er hat rumgetobt und gesagt, er kennt Kex und den Restaurantchef und Greta Thunberg. Ich hab ihm erklärt, das würde ihm nichts helfen. Liste ist Liste.«

»Hat Jason gedacht, er stünde auf der Liste?«, fragt Jessica und legt eine Hand auf das Terrassengeländer. Auf das Glasdach nieselt Regen. Sahib zuckt die Achseln.

»Offensichtlich. Aber ich kapier nicht, wieso.«

»Wie meinen Sie das?«

»Er ist ein Social-Media-Promi, das schon. Aber er bewegt sich in einem ganz anderen Genre als die Leute von Kex. Die haben keinen Respekt vor Jason. Deshalb wäre es seltsam gewesen, wenn er zu der Veröffentlichung eingeladen worden wäre, selbst aus PR-Gründen. Und das wusste er. Ganz bestimmt.«

»Um welche Zeit hat Jason versucht, eingelassen zu werden?«

Sahib steckt die Hände wieder in die Taschen und hebt ein wenig das Kinn. Es sieht fast so aus, als würde er für Jessica posieren.

»Das ist auf dem Video von der Garderobe zu sehen. Ungefähr eine Stunde oder anderthalb, nachdem die Party angefangen hat. Vielleicht gegen halb acht?«

»Und als Sie sagten, dass er keinen Zutritt hat, ist er brav gegangen?«

»Er hat eine Weile gemotzt, hat ein paar Mal versucht, irgendwen anzurufen, und mich, Kex und Frank zum Teufel gewünscht. Und dann ist er im Aufzug verschwunden, und ich hab ihn nicht mehr gesehen«, sagt Sahib und blickt auf seine Uhr, die unter dem weiten Ärmel hervorlugt. Sie ist aus Stahl, massiv und geschmacklos.

»Hat Jason über Lisa gesprochen oder nach ihr gefragt?«

Sahib schüttelt den Kopf und hüstelt.

Der Regen wird wieder stärker, und in den Scheiben der Terrasse heult der Wind. Jessicas Blick folgt einem vorbeifliegenden schwarzen Vogel, bis sie ihn aus den Augen verliert. Er verschwindet vom Radar. Wie Lisa und Jason, die noch vor einigen Tagen hier waren und jetzt unauffindbar sind. Jason hat wahrscheinlich von der Garderobe aus Lisa angerufen. Er wollte unbedingt mit ihr reden, sie vielleicht bitten, dafür zu sorgen, dass sein Name auf die Liste kam. Aber Lisa ist nicht ans Telefon gegangen. Und nun sind beide verschwunden.

»Sie wissen, dass Sie vielleicht der Letzte sind, der Jason Nervander gesehen hat, bevor er verschwand«, sagt Jessica.

Sahib zuckt mit den Schultern, die Hände tief in den Taschen seiner Trainingshose vergraben.

»Ja. Ist natürlich beschissen«, entgegnet er. »Aber Liste ist Liste. Ein erwachsener Mann, der muss doch zurechtkommen. Ich lass mir davon jedenfalls nicht den Schlaf rauben.«

Jessica schreckt auf, als jemand an das Fenster trommelt. Dann sieht sie, dass Jusuf sie hereinwinkt. Auf seinem Gesicht liegt eine Miene, die sie seit Langem nicht mehr bei ihm gesehen hat. Er wirkt eifrig und aufgeregt.