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Jessica hält ihren Daumen unter eiskaltes Wasser, bis die Blutung aufhört. Dann füllt sie ihre Wasserflasche, steckt sich eine Schmerztablette in den Mund und spült sie mit einem Schluck Wasser herunter. Die gereizte Atmosphäre im Besprechungsraum hat ihr einen pochenden Schmerz in den Schläfen beschert, den die Tablette hoffentlich mildern wird.

Jessica betrachtet ihr Spiegelbild: die schwarzen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haare und das fast ungeschminkte Gesicht. Den aufblühenden Pickel am rechten Wangenknochen und die Schramme darunter, die bei dem morgendlichen Ringkampf auf dem Joggingpfad entstanden sein muss. Obendrein schmerzen ihre Fingerknöchel, die sie dem Angreifer einige Male gegen das Kinn geschlagen hat. Sie wird wohl wirklich zum Betriebsarzt gehen müssen.

Hinter ihr geht die Tür.

»Niemi.«

Jessica schließt die Augen und denkt an die Zeit zurück, als sie auf der Toilette Zuflucht vor ihrem Vorgesetzten finden konnte. Mit dem Amtsantritt von Helena Lappi ist dieses Privileg auf die Männer übergegangen. Sofern Hellu sich nicht von ihrer Macht blenden lässt und beschließt, Unisex-Toiletten einzurichten. Dann wäre niemand mehr in Sicherheit.

»Ja?«, sagt Jessica und lässt warmes Wasser über ihre Hände laufen.

Hellu steht hinter ihr, die Hände in die Hüften gestemmt. »Was zum Teufel sollte das gerade?«

»Was?«

»Warum bist du so verflucht patzig zu Harjula?«

Jessica trocknet sich die Hände ab und dreht sich um. Hellu steht unangenehm nah bei ihr, vielleicht sogar zu nah, wenn man das finnische Verständnis von persönlichem Raum und sozialer Distanz bedenkt.

»Patzig? Ich hab nur gesagt, was ich denke.«

»Das heißt, du warst patzig, verdammt«, faucht Hellu, und die Art, wie sie verflucht oder verdammt sagt, hat etwas extrem Komisches. War ich verdammt patzig, verflucht?

»Tatsächlich? War nicht meine Absicht.«

»Ich erwarte von dir als Hauptermittlerin eine aufgeschlossenere Haltung. Künftig hörst du dir die Meinung aller Teammitglieder an und schießt ihre Ideen nicht sofort ab«, verkündet Hellu ruhig, aber nachdrücklich. »Harjula versucht wenigstens, ein klares Gesamtbild der Lage zu entwerfen. Von deinem alten Team habe ich das bislang nicht erlebt. Offenbar hat hier früher eine absurde Gesprächskultur geherrscht. Mikson spricht. Niemi spricht. Und ab und zu brummelt Rasmus etwas, und Jusuf reißt blöde Witze.«

Schon zum zweiten Mal an diesem Tag verspürt Jessica den brennenden Wunsch, Helena Lappi zu zeigen, was patzig in ihrer Welt wirklich bedeutet. Ihre Chefin hat sie noch nicht patzig erlebt.

»Alles klar«, presst sie hervor und nickt. »Ich nehme es mir zu Herzen. Machen wir weiter?«

Sie wirft das Papierhandtuch in den Abfallkorb und geht an Hellu vorbei zur Tür.

»Niemi«, sagt Hellu.

Jessica holt tief Luft, dreht sich um und sieht ihre Chefin an.

»Ich hätte Harjula zum Hauptermittler machen können.«

Zum Teufel, warum hast du es nicht getan?

»Das weiß ich«, antwortet Jessica. Sie stehen so nahe beieinander, dass sie jetzt zum ersten Mal Hellus schwarz nachwachsenden Haaransatz sieht, der verzweifelt unter dem Wasserstoffperoxid hervorlugt, als wolle er unbedingt bemerkt werden.

»Pass auf, dass ich es nicht bereue«, sagt Hellu, geht an Jessica vorbei und öffnet die Tür.