Lisa Yamamoto wartet, bis sich die verchromte Aufzugtür schließt. Dann atmet sie die Luft, die sich in ihrem Brustkorb angestaut hat, in einem einzigen langen Stoß aus. Sie nimmt die Prada-Sonnenbrille mit dem schwarzen Gestell ab und betrachtet sich in dem großen Spiegel an der Wand der Kabine. Das Make-up verdeckt Stress und Müdigkeit, vermag aber keine Freude in ihre Augen zu zaubern. Auf ihrem Gesicht liegt keine Spur von dem überschäumenden Jubel, den die Einladung zur Plattenveröffentlichung des angesagtesten Rappers in ganz Finnland – oder jedes anderen Künstlers – noch vor einigen Jahren ausgelöst hätte. Jetzt ist das vorherrschende Gefühl eher eine unangenehme Nervosität; sie bereut, dass sie vor dem Aufbruch nicht etwas genommen hat, das sie selbstsicherer gemacht hätte: etwas Stärkeres als Sekt. Allerdings wird irgendein Bekannter unter den geladenen Gästen schon dafür sorgen, dass sie bekommt, was sie braucht. Es wird genügen, dass sie den Betreffenden auf die richtige Art ansieht, dann kann sie mit einer aufputschenden Dosis zur Damentoilette gehen.
Lisa wirft im Spiegel einen Blick auf ihren Körper, der in dem beigen Criss-Cross-Kleid von Hervé Léger durchtrainiert und an den richtigen Stellen gerundet aussieht. Ihre äußere Erscheinung ist immerhin in Ordnung. In gewisser Weise ist ja auch alles ganz gut, und sie hat die Situation unter Kontrolle: Sie braucht an diesem Abend nur ein paar hübsche Fotos von sich und der Hauptperson zu machen und vielleicht noch einige Videostorys von anderen VIPs. Wenn man bedenkt, wessen Platte veröffentlicht wird, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die absolute Spitzenprominenz von Helsinki anwesend ist.
Lisa hört das Handy in ihrer Handtasche vibrieren. Bestimmt wieder Jason. Der Typ hat schon drei Mal angerufen. Gib’s endlich auf. Ihr Blick wandert vom Spiegel zur digitalen Nummerntafel. Eine rote Vier. Fünf. Sechs.
Der Aufzug summt eine kurze Melodie, dann öffnet sich die Tür. In die Kabine dringen ein dröhnender Bass und ein gewaltiges Stimmengewirr, durchsetzt von Ausrufen und Lachern.
Lisa mustert den roten Teppich vor der Garderobe, auf dem einige Gäste mit Blumensträußen oder Geschenkflaschen stehen. Nobodys, Neverheards. Zum Glück muss ich die nicht kennenlernen.
Der Portier Sahib, den sie schon seit Jahren kennt, sieht sie aus dem Aufzug kommen und nickt ihr unauffällig zu.
Lisa geht an den großen Glaswänden vorbei, die einen Panoramablick über die vom tagelangen Regen nassen Dächer bieten. Im Hintergrund ragt das festlich beleuchtete Hotel Torni über der niedrigen Silhouette von Helsinki auf wie ein kleines Empire State Building. Die Straßenlampen und das Licht, das aus den Fenstern der Gebäude fällt, lassen in der dunklen Stadt, die noch nicht durch eine Schneedecke erhellt wird, alles glitzern.
»Guten Abend«, grüßt der breitschultrige, glatzköpfige Portier, der sich in ein weißes T-Shirt und einen schwarzen Blazer geworfen hat, und hilft Lisa aus dem feuchten Mantel aus Kunstpelz und -leder. Ein Pärchen, das kurz zuvor seine Mäntel abgegeben hat, ist in einigen Metern Entfernung stehen geblieben und flüstert, offenbar über Lisa. Es gab eine Zeit, da hat sie die Blicke und die Aufmerksamkeit Wildfremder genossen. Jetzt sind sie ihr lästig. Warum zum Teufel glotzen die?
»Wie geht’s?«, fragt Lisa Sahib und deponiert Handtasche und Schuhbeutel auf dem Garderobentresen. Sie stützt sich ab, zieht gewandt die schwarzen Superstars mit den weißen Streifen aus und schlüpft in glänzende beige Pumps mit Zehn-Zentimeter-Absätzen.
»Die Party ist schon im Gange«, antwortet Sahib gelassen, verstaut Lisas Mantel und ihre Sneakers und reicht ihr eine Garderobenmarke, die durch die verschwitzten Hände tausender Gäste gegangen ist und entsprechend aussieht.
Lisa hört trotz der Musik, dass ihr Handy wieder vibriert. Vielleicht hat es die ganze Zeit geklingelt. Sie nimmt es aus der Tasche und schaltet es nach einem Blick auf das Display leise. Verdammt.
»Danke«, sagt sie lächelnd.
»Vorsichtig, es sind viele böse Jungs da«, mahnt Sahib augenzwinkernd. Lisa lacht auf und zwinkert zurück, obwohl sie ihn in Wahrheit nicht ausstehen kann.
Der Weg, den der rote Teppich markiert, führt zwischen dunklen Vorhängen hindurch, hinter denen die Blitzlichter der Fotografen aufflammen. Im Foyer hängt der typische Geruch eines Nachtclubs: Im Fußboden, dem Teppich und den Vorhängen hat sich im Laufe der Jahre der Geruch von ranzig gewordenem Parfüm, Schnaps und Zigaretten eingefressen, der selbst durch Renovierung nicht zu eliminieren ist. Eine Türsteherin, die Lisa nicht kennt, hält ihr den Vorhang auf, und sie betritt den hohen, hallenartigen Saal des Nachtclubs, der voll von trendig-festlich gekleideten Helsinkiern ist. Flammend gefärbte Haare, rätselhafte Make-ups und aufgespritzte Lippen, maßgeschneiderte Anzüge und Blazer, die die trainierten Körper betonen, halb ironische Hipster-Schnauzer und getrimmte Bärte. Lisa bleibt kurz stehen und betrachtet die Fotowand, groß wie ein Fußballtor, zu der die Gäste geführt werden wie auf ein mittelalterliches Schafott.
»Yamamoto!«, ruft eine Frauenstimme. Lisas Blick fällt auf eine bebrillte, untersetzte Reporterin, deren Namen sie vergessen hat, obwohl sie ihr wahrscheinlich einmal ein Interview gegeben hat.
»Hallo!«, sagt Lisa und entblößt ihre weißen Zähne in einem sorgfältig eingeübten Lächeln.
»Wir dürfen sicher eine kurze Story über dich machen?«
Lisa wirft einen Blick auf den Fotografen, der hinter der Frau steht und den Presseausweis einer Abendzeitung umgehängt hat. Die Story ist bestimmt ganz legit und gute Werbung für ihren Blog.
»Wenn ich mich zuerst da an der Wand fotografieren lassen darf.«
»Natürlich. Wir sind hier.«
»Okay. Super«, sagt Lisa und dreht sich zur Seite, um einen Englisch sprechenden Jungen zu umarmen. Sie kann sich nicht erinnern, ihn zu kennen. Hi! Good to see you. Yeah, talk to you soon!
Nachdem sie sich aus der Umarmung des begeisterten, nach süßlichem Rasierwasser duftenden Unbekannten gelöst hat, schreitet Lisa auf die Fotowand zu und stellt sich ans Ende der kurzen Schlange.
Sie betrachtet den halbdunklen Raum und das Menschenmeer, das in ihm wogt. Einige Gesichter sind ihr bekannt, einige unbekannt, die meisten irgendetwas dazwischen. Blasse Erinnerungen, verschwommene Momentaufnahmen. PTKV. Plaudern, tanzen, küssen, vögeln. Typischerweise in dieser Reihenfolge, aber Lisa erinnert sich, dass sie ein paar Mal vom Plaudern direkt zum Vögeln übergegangen ist. Und bisweilen wurde der Endpunkt wohl auch ohne Plaudern erreicht.
Weiter weg, im hinteren Teil des Saals, sieht sie ein Gedränge, das sich vom übrigen Gewimmel abhebt, Blitzlichter und Männer und Frauen, die sich der Reihe nach Schulter an Schulter vor die Kamera stellen. Im Mittelpunkt des Trubels steht der Star des Abends in glitzerndem Smoking und mit Zylinder: Kex Mace’s, mit richtigem Namen Tim Taussi, ein sechsundzwanzigjähriger Rapper, dessen im Vorjahr erschienenes, poppiges Hip-Hop-Album Spotify-Geschichte schrieb. Es stieg nicht nur in Finnland, sondern auch in den anderen skandinavischen Ländern und in Deutschland auf die Streaming-Listen auf.
»Geh ins Bild, Lisa«, ruft eine Frau, die eine Kamera mit langem Objektiv in der Hand hält, und Lisa stellt sich vor das Plattencover, das ein großes Spinnennetz zeigt. Kex Mace’s. Spider’s Web. Die Blitzlichter zucken nur einen Moment, vielleicht sogar frustrierend kurz. Die Fotografen haben Lisa nicht immer so leicht davonkommen lassen. Noch im vorigen Jahr hat das Blitzlichtgewitter sie sogar in den Schlaf verfolgt. Vielen Dank! Lisa ist frei. Nett, dich zu sehen, Lisa! Einen schönen Abend! Das Lächeln wirkt beinahe echt, und die Worte klingen aufrichtig, aber die Kälte dahinter entgeht Lisa nicht. Sie hat den sogenannten sozialen Blick, den Dutzende ähnlicher Veranstaltungen geschärft haben. Es interessiert keinen, wer du wirklich bist, interessant ist nur, wie du aussiehst und was du repräsentierst. Manche interessiert lediglich, ob sie beim Weiterfeiern früh um fünf, wenn alle Flaschen geleert und die Koks-Tütchen bis zum letzten Gramm leergesaugt sind, in deinen Mund ejakulieren dürfen.
Der nächste kurze Programmpunkt besteht darin, ein Glas Sekt von dem Tablett zu nehmen, das ein Kellner in schwarzem Hemd mit gelber Fliege in den behandschuhten Händen hält.
»Pass auf, dass du dich nicht im Netz verfängst«, sagt eine Promoterin, die einen geschmacklos kurzen Rock und ein bis zum Brustansatz ausgeschnittenes Top trägt, reicht Lisa ein Programmheft und zwinkert ihr zu.
Pass auf, dass du dich nicht im Netz verfängst. Verdammt affektiert und durchgestylt. Lisa ist erst seit einigen Minuten im Saal, aber schon jetzt drängt es sie, kehrtzumachen und zu verschwinden. Früher als erwartet braucht sie eine Aufmunterung, White Stuff, Schnee. Ihr Blick sucht nach jemandem, der ihr helfen könnte. Teme, Sakke, Taleeb … Die Typen sind vermutlich da, aber zwischen Hunderten von Gesichtern verborgen.
Und dann spürt Lisa, wie ihr Herz einen Schlag aussetzt. Dort ist er wieder: Der Mann hat die Hände in die Taschen gesteckt und steht vor den großen Fenstern zur Innenstadt. Der irgendwie anklagende, sich ins Bewusstsein bohrende Blick ist exakt derselbe wie beim letzten Mal. Rasch wendet sie sich ab und geht zur Bar, weiß aber, dass der Mann sie nicht aus den Augen lässt.