Es ist Viertel nach zwei, die Mittagszeit nähert sich dem Ende. Dennoch ist das vor allem für seine Take-away-Pizzen bekannte Restaurant voller Gäste. Trotz der etwas nachlässigen und vorwiegend aus Plastik bestehenden Inneneinrichtung herrscht eine lebhafte Stimmung, aus der Küche kommen türkische Worte, und auf das Büfett werden Fleischgerichte gebracht, die im Bratfett zischen wie Schlangen. In der Luft hängt der hartnäckige Geruch von Knoblauch, Koriander und süßen Tomaten.
Rasmus und Jessica sitzen sich in einer Vierernische am Ende des Restaurants gegenüber und bestellen Kebab mit Salat.
Vor fünfzehn Minuten hat Jessica Rasmus spontan zum Mittagessen eingeladen, und er hat freudig überrascht zugestimmt.
»Wie geht’s dir, Rasse?«, fragt Jessica und gießt beiden Wasser ein.
Rasmus wirkt verlegen. Eine ganze Weile betrachtet er den Perserteppich an der Wand, bevor er sich zu einer Antwort durchringt.
»Gut.«
»Das freut mich. In letzter Zeit herrscht bei der Arbeit eine ziemlich seltsame Stimmung.« Sie lächelt.
»Ja. Zweifellos«, sagt Rasmus und verschränkt seine Finger auf dem Tisch.
»Ich hoffe, du hast das Gefühl, dass du unbehelligt arbeiten kannst. Dass dir niemand im Nacken sitzt. Und dass du weißt, wie wichtig du in unserem Team bist.«
Sekundenlang starrt Rasmus Jessica an, als ob sie beide nicht dieselbe Sprache sprechen. Und da wird Jessica klar, wie linkisch es ist, sich nach Rasmus’ Befinden zu erkundigen, als wäre er ein Kind. Seine Distanziertheit und Verschlossenheit wecken mitunter die Vorstellung, er wäre unfähig, Situationen und die Gefühle anderer Menschen zu deuten. In Wahrheit verhält es sich genau umgekehrt. Einen unermüdlicheren Beobachter als Rasmus sucht man bei der Polizei vergebens. Und eben deshalb ist er für das Gewaltdezernat unersetzlich.
»Ist bei dir alles in Ordnung, Jessica?«, fragt er stirnrunzelnd, und Jessica lacht müde auf. »Wenn du dir nämlich Sorgen machst, dass …«, fährt er fort und lässt seine Augen über die Wände streifen, damit er Jessicas Blick nicht begegnen muss, »dass ich dir gegenüber nicht loyal wäre …« Er schüttelt den Kopf. »Die Sorge ist überflüssig, Jessica.«
Jessica senkt den Blick und schämt sich, weil sie in ihrer Unsicherheit Trost bei Rasmus gesucht hat – bei dem Mann, von dem sie weiß, dass er im Team gewissermaßen das Zünglein an der Waage ist. Wie peinlich, dass Rasmus den Grund für die Einladung zum Mittagessen erkannt hat.
»Außerdem, Jessica«, fährt Rasmus fort, »seit wann scherst du dich darum, was die anderen da oben von dir halten?«
Der Kellner bringt Brot und Tsatsiki.
Jessica sieht Rasmus an und nickt fast unmerklich. Sie hat das Gefühl, dass die Weltordnung sich für einen Moment umgekehrt hat, dass der unsicherste Junggeselle der ganzen Stadt sie gerade mit seinen Worten ans Licht geschubst und sie ermahnt hat, die Ohren steif zu halten.
»Danke, Rasse«, sagt sie verlegen und drückt den Rücken durch.
»Außerdem …«, beginnt Rasse. Jessica versucht sich zu erinnern, ob er je zuvor die Initiative ergriffen hat wie jetzt. »Jami Harjula. Die Clique hält ihn für einen netten Typ. Aber meiner Meinung nach ist er ein absoluter Arsch.«
Jessica reißt schockiert den Mund auf. »Rasmus Susikoski! Hast du gerade gesagt, Harjula ist ein Arsch?«
Rasmus legt einen Finger an die Lippen und lacht verhalten. »Ein absoluter Arsch.«
Jessica wird wieder ernst und sieht sich um. Am Nebentisch sitzen drei Frauen und ein Mann mit Krawatte. Hinter ihnen essen vier Bauarbeiter, die gleichzeitig konzentriert auf ihre Smartphones blicken. Ihre neongelben Jacken hängen über den Stuhllehnen. Auf der Straße dröhnt eine riesige Kehrmaschine vorbei, deren Lärm die orientalische Musik aus den Lautsprechern sekundenlang übertönt.
»Glaubst du, dass sich aus Akifumis Profil etwas herausfinden lässt? Oder dass er mit dem Fall zu tun hat?«
»Ich weiß es nicht, Jessica. Aber es gibt etwas, das ich eigentlich schon bei der Besprechung erwähnen wollte. Ein unausgegorener Gedanke, mit dem ich mich herumschlage.«
»Was denn?«
Rasmus bricht ein Stück von dem weichen Brot ab und steckt es sich in den Mund.
»Masayoshi«, sagt er. »Gerechtigkeit. Das Wort, das Akifumi zu Lisas Bild geschrieben hat. Ich habe im Internet unter verschiedenen Kriterien danach gesucht, ich wollte sehen, ob es sich auf irgendeine bestimmte Sache bezieht. Ein totaler Schuss ins Blaue, aber …«
»Du hast etwas gefunden?«
»Ich habe eine Seite namens masayoshi.fi gefunden, auch eine Art Blog.«
»Punkt fi? Ein finnischer Blog?«
»Darauf deutet der Ländercode natürlich hin, und erst recht die Tatsache, dass Lisa Yamamoto den Blog führt«, sagt Rasmus, und Jessica spürt, dass ihr vor Aufregung die Fingerkuppen prickeln.
»Was? Lisa hat doch ihren eigenen Blog, der mit ihrem Instagram-Account verlinkt ist.«
»Aber dieser Blog ist anders«, antwortet Rasmus und fährt noch vorsichtiger fort: »Auf der Seite ist überhaupt kein Inhalt, weder Fotos noch Text. Nur die blogtypische Suchfunktion am Rand der Seite. Es ist also ein Blog, in dem absolut nichts geschrieben wurde. Oder aber …«
»Oder aber was?«
»Der Inhalt wurde gelöscht.«
»Warum hast du das bei der Besprechung nicht erwähnt?«
»Weil es da etwas gibt, das ich noch nicht verstehe«, gesteht Rasmus beschämt. »Lisa hat sich überraschend sorgfältig bemüht, die Spuren zu verwischen, die sie als Administratorin der Seite masayoshi.fi enthüllen könnten. Sie hat ihre IP-Adresse ausgeblendet, vermutlich über das TOR-Netz, was ebenfalls schon eine größere Vertrautheit mit den Geheimnissen der Informationstechnik voraussetzt.«
Jessica lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, als der Kellner das Essen bringt. Das TOR-Netzwerk ist ein Programm, das zur Anonymisierung seiner Nutzer ein schichtweises Vorgehen verwendet, ein zwiebelartiges Routing, von dem auch sein Name abgeleitet wurde: The Onion Router. Viele verbinden das TOR-Netzwerk mit schweren Verbrechen wie Pädophilie oder Drogen- und Waffenhandel, aber tatsächlich ist es nicht illegal, das Programm hochzuladen, zu verwenden und die IP-Adresse zu unterdrücken. Allerdings kennt Jessica zahlreiche Fälle, in denen TOR Kriminellen Anonymität verschafft hat.
»Warte mal, Rasse«, sagt sie, als er nach seiner Gabel greift. »Lisa hat also diese Seite administriert und sich Mühe gegeben, um ihren Ursprung geheim zu halten. Sie hat alle Spuren verwischt.«
»Genau.«
»Wie zum Teufel konntest du dann herausfinden, dass sie die Administratorin ist?«
Rasmus lässt ein schüchternes Lächeln aufflackern und legt die Gabel zurück. Hinter der Theke ertönt schon seit gut einer Minute ein irritierender, an das Bellen eines Hundes erinnernder Klingelton.
»Da muss ich ein bisschen ausholen. Kennst du das Hacktivistenkollektiv Anonymous?«
»Natürlich.« Jessica steckt sich ein Salatblatt in den Mund.
»2011 haben zwei Hacker aus dieser Gruppe in Nuevo Laredo in Mexiko eine anonyme Webseite angelegt und gedroht, dort brisante Informationen über ein lokales Drogenkartell zu enthüllen. Bald darauf wurden sie an einer Autobahnbrücke erhängt. Diese jungen Leute waren geschickte Hacker, die ihre Spuren sorgfältig verwischt hatten. Das Kartell hätte sie nicht identifizieren können, wenn sie nicht …«
»Was?«
»Wenn sie nicht einen fatalen Fehler gemacht hätten: Sie wollten mit Hilfe von Google Analytics den Nutzerverkehr beobachten. Dafür braucht man die eigene ID von Analytics, die man für die Analyse von mehr als nur einer Seite verwenden kann. Das Kartell hat über den Quelltext der Drohseite die ID von Analytics entdeckt, die der eine der beiden Hacker auch für seinen persönlichen Blog verwendet hat. Und über die ID kann man natürlich eine rückläufige Suche machen. So kann man zwei scheinbar voneinander unabhängige Seiten derselben Quelle zuordnen.«
»Das Kartell hat also das Foto und den Namen des Hackers mühelos gefunden?«
»Und aus ihm und seinem Freund ein abschreckendes Beispiel gemacht.«
»Und so bist du auf Lisa gestoßen? Mit der Analytics ID?«
Rasmus nickt stolz.
»Lisa wollte die Nutzerzahlen beider Seiten verfolgen, was verständlich ist, wenn man bedenkt, dass Blogger bei kommerzieller Zusammenarbeit gerade die Sichtbarkeit der Marken verkaufen. Aber es ist ein Fehler, dieselbe ID zu verwenden, wenn man eine der beiden Seiten anonym halten will. Jetzt hat also die öffentliche Seite die geheime enthüllt.«
Jessica betrachtet Rasmus und kaut ein Stück von ihrem Kebab, der diesmal überraschend stark gepfeffert ist. »Glaubst du, dass hier dasselbe passiert ist wie in Mexiko?«
»Dass jemand den Administrator der Seite masayoshi.fi gesucht, Lisa gefunden und ihr etwas angetan hat?« Rasmus zuckt mit den Schultern. »Kann sein. Und deshalb habe ich den Verdacht, dass der Inhalt der Seite gelöscht wurde.«
»Vor oder nach Lisas Verschwinden?«, fragt Jessica.
»Das weiß ich nicht. Deshalb wollte ich dir eigentlich erst dann davon erzählen, wenn das Bild klarer ist.«
»Okay«, sagt Jessica nach kurzem Überlegen. »Danke, Rasse. Und jetzt probier mal von deinem Kebab.«