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Nina Ruska schiebt ihren Dienstausweis unter die Bluse zurück. Sie wartet geduldig, während die Hausmeisterin den Generalschlüssel heraussucht und die Tür zu Jason Nervanders Zweizimmerwohnung aufschließt. Der Immobilienservice hatte am Telefon gesagt, man werde den Hausmeister schicken, und Nina hatte daraufhin erwartet, im Treppenhaus einen rundlichen Mann mittleren Alters anzutreffen, mit Schnurrbart, Arbeitsschuhen mit dicker Sohle und verblichenem Flanellhemd. Stattdessen wird sie von einer deutlich jüngeren, durchtrainierten Frau eingelassen, die ein Schlüsselbund und Werkzeug am Gürtel ihrer engen Jeans befestigt hat. Die schlanken, aber zielstrebigen Finger sind ölverschmiert.

»So, bitte schön«, sagt die Frau. Ihre dunklen Augen lächeln, während sie Nina die Tür aufhält und sie dann hinter ihr schließt.

Nina steht allein in Jason Nervanders Diele und hört, wie die Hausmeisterin die Treppe hinuntergeht. Am Morgen ist bereits eine Streife in die Wohnung geschickt worden, daher weiß sie, dass nichts Dramatisches zu erwarten ist: kein hungriger Dobermann, kein Blut an der Wand, keine verwesende Leiche. Jason Nervander ist vermutlich seit Samstag nicht in seine Wohnung zurückgekehrt. Dennoch geht Nina vorsichtig durch die Räume, als hätte sie Angst, plötzlich angegriffen zu werden. Die Wohnung im zweiten Stock des Eckhauses an der Castréninkatu und der Kirstinkatu ist irgendwie düster und gespenstisch. Die Vorhänge sind zugezogen, und das gelbe Licht der Spots an der Decke ist unglaublich fahl. Überhaupt sind die Räume extrem asketisch eingerichtet: Die weißen Wände sind ebenso leer wie der lackierte Dielenboden. Im Wohnzimmer stehen ein schwarzes Ledersofa, ein Fernsehtisch und ein großes Bücherregal, das nur einige Bücher enthält. An den Wänden stapeln sich Schuh- und Kleiderkartons, die Nervander offenbar von seinen Werbepartnern bekommen hat. Nina hat den ganzen Tag damit verbracht, Nervanders Accounts in den sozialen Medien zu untersuchen, und muss nun feststellen, dass der Kontrast zwischen den perfekten Fotos und der trostlosen Junggesellenbude nicht größer sein könnte. Realität versus Social Media.

Nina tritt ans Bücherregal und betrachtet die Buchrücken. Richard Dawkins: God Delusion und Outgrowing God. Sam Harris: Letter to a Christian Nation. Christopher Hitchens: God Is Not Great: Why Religion Poisons Everything.

Sie weiß, dass die Bücher allesamt religionskritisch und ihre Verfasser bekannte Atheisten sind. Tatsächlich hat sie das eine der beiden Bücher von Dawkins – in der Übersetzung unter dem Titel Der Gotteswahn – gelesen und an der logischen und pragmatischen Behandlung des Themas Gefallen gefunden. Allerdings erscheint es angesichts der kleinen Büchersammlung etwas seltsam, dass es sich bei dem Freund, der Jason als vermisst gemeldet hat, um einen Pastor handelt. Andererseits hat auch Nina Freunde, die nicht an die Polizei als Institution glauben.

Sie lässt die Bücher an ihrem Platz und geht durch die Küche ins Schlafzimmer, das so düster ist wie der Rest der Wohnung. Jason hat kein einziges Bild an die Wand gehängt, den grauen Gesamteindruck durchbrechen nur die bunten Kartons auf dem Fußboden und die dunkelrote Tagesdecke auf dem gemachten Bett. Auf dem Schreibtisch stehen säuberlich aufgereiht verschiedene Hautpflege- und Rasierprodukte, wahrscheinlich direkt aus der Packung. Die Wohnung ist nicht ungepflegt, die Oberflächen sind staubfrei und die Kartons ordentlich aufgestapelt. Sie ist einfach nur durch und durch ungemütlich.

An der Rückwand neben dem Kopfende des Bettes befindet sich eine kleine Holztür, die zum Wandschrank führen muss. Nina durchquert das Zimmer und fasst nach der Klinke, doch die Tür ist abgeschlossen.

Sie lässt die Klinke los. Ihre Fantasie macht Sprünge. Hat die Streife doch nicht die ganze Wohnung durchsucht? Sie hält die Luft an, die Schreckensmomente im Frühjahr kommen ihr in den Sinn, das Grauen, als sie Gefangene des Kults war und beinahe gestorben wäre. Sie ist durchgekommen, wieder gesund geworden und hat sich hoch und heilig geschworen, sich nie mehr so in Gefahr zu bringen. Nie wieder wird sie allein zu einem Einsatz gehen, der auch nur entfernt gefährlich wirkt. Und hier ist sie nun. Allein in einer beklemmenden dunklen Wohnung, vor sich eine abgeschlossene Schranktür. Hinter der wer weiß was steckt.

Nina tritt ein paar Schritte zurück und überlegt, ob sie die Hausmeisterin holen soll. Oder eine Streife alarmieren. Scheiße. Sie betrachtet das Schlüsselloch, dreht sich um, untersucht die Schreibtischschubladen und findet einen altmodischen Messingschlüssel. Zu leicht.

Sie kehrt zu der kleinen Tür zurück, steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn, hört ein leises Knacken und öffnet die Tür. Die Tür knarrt unheilvoll. Nina weicht instinktiv zurück und stößt einen Schrei aus, als sie begreift, dass von der Decke des Wandschranks eine menschliche Gestalt hängt.

»Herr im Himmel«, kreischt Nina, obwohl sie nicht an Gott glaubt.