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»BDSM«, sagt Nina Ruska, während sie an der Westseite der Kirche des Stadtteils Kallio einparkt, in der Itäinen papinkatu, wo sich das Pfarramt befindet. »So ein schwarzer Gummidress. Mit Reißverschluss vor dem Mund. Alles, was dazugehört.«

»In Jason Nervanders Wandschrank?«, fragt Hellu am Telefon, und Nina glaubt, eine leise Belustigung in ihrer Stimme zu hören.

»Ja. Da steckte eine verdammte Puppe drin. Die hing an Handschellen von der Decke.«

Jetzt hört Nina Hellu tatsächlich lachen.

»Entschuldige, Nina. Das ist schon ein spezieller Fall.«

»Da waren Kartons mit allem möglichen Sado-Maso-Kram. Zeitschriften, Bücher. Jason Nervander scheint voll darauf abzufahren«, sagt Nina und stellt den Motor ab.

»Aber nichts Illegales? Und kein Hinweis auf Manga?«

»Nein. Auf den ersten Blick scheint es ziemlich typisches SM-Zeug zu sein. Kinky, aber mehr auch nicht.«

»Gut. Du hast Jessica wohl noch nicht Bericht erstattet?«

»Nein.«

»Das dachte ich mir«, sagt Hellu, deren Stimme seltsam fröhlich klingt. Als wäre sie schon vor Ninas Anruf bester Laune gewesen. »Es lohnt sich wohl auch nicht, sie jetzt gleich anzurufen. Jessica und Jusuf sammeln in Töölö ihre Kräfte. Sie haben Prügel bekommen.«

»Von wem?«, fragt Nina und steigt aus.

»Vom Gespenst. Aber keine Sorge, es ist entkommen. Wir sprechen uns später«, sagt Hellu sarkastisch und legt auf. Nina runzelt nachdenklich die Stirn. Sie betrachtet eine Weile die Granitkirche, die der Architekt Lars Sonck entworfen hat und die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gebaut wurde. Die Kirche ist besonders beeindruckend, weil sie mit ihren zum Himmel ragenden Türmen auf einem Hügel steht und daher höher reicht als jedes andere Gebäude im Zentrum von Helsinki. Nina hat ihr ganzes Leben lang in Helsinki gewohnt, aber erst in den letzten Jahren begonnen, die Schönheit der Architektur ihrer Heimatstadt wahrzunehmen. Wie die Menschen überall auf der Welt übersehen auch die Helsinkier oft die Sehenswürdigkeiten ihrer Stadt.

Nina steigt die Steintreppe zu dem Absatz hinauf, der an der Kirchenwand entlangführt und an dessen Ende das Pfarramt liegt.

Sie hat gerade erst die Klingel entdeckt, da wird die Tür bereits geöffnet, von einem bärtigen lächelnden Mann, unter dessen dunkelrotem Pullover das weiße Pfarrersbeffchen hervorlugt.

»Nikolas Ponsi?«, erkundigt sich Nina.

»Ja, komm rein«, antwortet der Mann und streckt die Hand aus. Nina ergreift sie.

Ponsi ist schlank und ziemlich klein, doch sein Händedruck ist kräftig. Nina hat ihr Leben lang Kampfsport betrieben und dabei gelernt, unter einer zarten Schale verborgene Kraft zu erkennen, und genau die strahlt Nikolas Ponsi aus.

Nina folgt dem Mann ins Innere des Pfarramts. Sie gehen an einigen offenen Türen vorbei. In den Räumen sind Mitarbeiter der Gemeinde zu sehen.

»Möchtest du Kaffee?«, fragt Ponsi, während er Nina in das Zimmer winkt, dessen Tür er gerade geöffnet hat. Nina schüttelt dankend den Kopf und unterzieht das kleine Büro einer schnellen Analyse. Es ist sauber und ordentlich und riecht nach Kirche: nach altem Sägemehl und leeren Teertonnen. Der Geruch erinnert sie an uralte Bücher in einer Bibliothek und an Gesangbücher mit tausend dünnen Seiten. Hinter Ponsis Schreibtisch hängt ein geschnitztes Kruzifix. Obwohl Nina nicht an Gott glaubt, hat sie Kirchenbesuche nie missbilligt. Zum Gottesdienst zu gehen ist ein tief verwurzelter Brauch, wie vieles andere. Warum sollte sie gegen etwas sein, das den Menschen Hoffnung gibt, besonders solchen, denen das Leben hart mitgespielt hat.

»Danke, dass Sie Zeit für mich haben, Pastor …«, beginnt Nina, doch Ponsi lächelt breit und hebt einen Finger.

»Zweiter Pfarrer«, sagt er.

»Bitte?«

Ponsi sieht sie verlegen an.

»Nein, nein, ich muss mich entschuldigen. Es ist natürlich Haarspalterei, aber ich bin in dieser Gemeinde als zweiter Pfarrer fest angestellt. Dafür muss man eine spezielle Prüfung ablegen«, erklärt Ponsi und lacht ungläubig auf, als halte er seinen Versuch, Eindruck zu schinden, selbst für kleinlich und lächerlich. »Jetzt war ich mal wieder eitel. Nenn mich einfach Niko, dann kommen wir weiter.«

»Okay, Niko«, erwidert Nina und nimmt auf dem Stuhl Platz. Ponsi setzt sich auf seinen Bürostuhl an der anderen Tischseite.

Nina betrachtet sein rundes blasses Gesicht, dessen Pockennarben nur zum Teil von dem dichten Bart verborgen werden. Seine ausdrucksvollen Augen sind außergewöhnlich blau und hell und scheinen das Lächeln seines freundlichen Mundes aufzugreifen. Als Nina sich umblickt, fällt ihr Blick auf ein gerahmtes Foto an der Wand, auf dem eine Gruppe von Menschen mit einem großen LGBT-Plakat posiert. Ponsi hüstelt.

»Das ist von der Pride-Parade im letzten Jahr. Ich mache seit bald zehn Jahren bei der Regenbogen-Tätigkeit der Kirche mit. Tatsächlich bin ich auch ausgebildeter Sexologe, aber … Na, das tut hier nichts zur Sache. Entschuldige, dass ich über mich selbst rede«, seufzt er lächelnd. Gleich darauf verdüstert sich seine Miene.

»Wie du sicher gemerkt hast, bin ich nervös, obwohl ich mich bemühe, positiv zu denken. Es kann ja sein, dass mit Jason alles in Ordnung ist«, erklärt er und faltet die Hände, als wolle er beten.

»Positives Denken ist gut«, sagt Nina und holt ihren Notizblock aus der Tasche. »Und es ist durchaus möglich, dass Jason gesund und munter gefunden wird.«

Dennoch kehrt das Lächeln nicht auf Ponsis Gesicht zurück. »Möglich, aber nicht wahrscheinlich, stimmt’s?«, murmelt er und nimmt einen Füller aus dem Schreibtischständer, als könnte der ihm Sicherheit geben.

Nina blickt ihm in die Augen und wartet, bis die Frage verfliegt und keine Antwort mehr verlangt.

»Wer ist das?« Sie nickt zu einem Schwarz-Weiß-Foto an der Wand, hauptsächlich deshalb, weil sie ein wenig Zeit gewinnen will, bevor sie mit der Befragung beginnt. Das Foto zeigt einen attraktiven, jungen blonden Mann, dessen Militäruniform mit Orden geschmückt ist.

»Das«, beginnt Ponsi gewichtig und presst die Fingerspitzen gegeneinander, »ist Witold Pilecki. Er hat in der Geheimen Polnischen Armee gegen die Nazis gekämpft. Soweit bekannt ist Pilecki der einzige Mensch, der freiwillig in die Gefangenschaft des Konzentrationslagers Auschwitz gegangen ist, um der Widerstandsbewegung im Kampf gegen die Deutschen zu helfen. Gegen alle Wahrscheinlichkeit hat er es geschafft, an diesem gottlosen Ort mehr als zwei Jahre durchzuhalten, ein Funkgerät zu bauen und Informationen über das Lager nach draußen zu schicken. Denk nur an all die Millionen, die in die Konzentrationslager und in den Tod geschickt wurden … Und Pilecki ist von sich aus dorthin, um anderen zu helfen.«

»Was ist aus ihm geworden?«, fragt Nina, die merkt, dass die Geschichte sie fasziniert. Sie hat noch nie von Pilecki gehört.

»Er hat im Lager eine Gruppe gegründet, die das KZ erobern und die Insassen befreien sollte. Aber im entscheidenden Moment konnte die Geheime Polnische Armee doch keine Unterstützung von außen anbieten, und der Plan scheiterte. Der Mann hatte also umsonst seine Freiheit geopfert und gelitten.«

»Ist er im Lager gestorben?«

»Aber nein!« Ponsi lacht auf. »Pilecki ist aus Auschwitz geflohen. Das war eigentlich unmöglich. Und doch hat er es geschafft. Aber die Geschichte hat trotzdem kein glückliches Ende, denn nach dem Krieg betrachteten die Kommunisten Pilecki als Westspion und richteten ihn im Sommer 1948 hin. Ein Justizmord im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Eine interessante Geschichte.«

»Allerdings. Und der Grund, weshalb das Bild dort hängt: Es könnte ebenso gut das Foto von irgendeinem anderen mutigen Menschen sein. Die Geschichte ist übervoll von guten Menschen, die das Gemeinwohl über ihre eigenen Interessen gestellt haben. Für mich vertritt Pilecki dieselben Werte und Tugenden, die auch die Bibel fordert. Und ich sehe gewisse Übereinstimmungen …« Ponsi lächelt geheimnisvoll. Das schwache Licht, das durch das Fenster fällt, zaubert vorübergehend etwas Farbe auf seine blasse Haut.

»Mit Jesus?«, fragt Nina.

Nikolas Ponsi sieht das Foto lange an. »Sagen wir so: Die Welt braucht Menschen wie Pilecki.«

Nina blickt auf ihre Notizen. Es wird Zeit, zur Sache zu kommen. Nikolas Ponsi wirkt nach der kurzen Aufwärmrunde eher bereit, ihre Fragen zu beantworten.

»Ihr seid befreundet, Jason und du?«, beginnt sie.

»Wir stehen uns verdammt nahe, allerdings«, sagt Ponsi und streicht über den Füller. »Er stammt ja ursprünglich aus dem hohen Norden, aus Rovaniemi, und als er hier nach Kallio zog … Wann war das noch gleich, vor vier Jahren?«

»Im Herbst 2014«, liest Nina von ihrem Notizblock ab.

»Genau. Jason war in der Jugendarbeit der Gemeinde aktiv. Dadurch haben wir uns kennengelernt und seitdem viel miteinander zu tun gehabt.«

»Ihr steht euch also nahe?«

»Sehr. Wir haben fast täglich Kontakt.«

»Hast du irgendeine Vorstellung, wo Jason sein könnte?«

Nikolas Ponsi schüttelt den Kopf, seufzt kraftlos und sieht zum Fenster hinaus, vor dem ein großer Ahorn steht.

»Fällt dir irgendjemand ein, der Jason Böses will?«, fragt Nina.

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber die Antwort ist nein.«

»Wann hast du Jason zuletzt gesehen?«, fährt Nina fort. Sie weiß aus Erfahrung, dass es ratsam ist, möglichst viele Fragen so schnell wie möglich zu stellen, ohne dabei den Befragten zu überrollen.

»Am Freitag.«

»Ist dir dabei irgendetwas aufgefallen? Hat Jason dir erzählt, was er am Wochenende vorhat?«

Der Pfarrer blickt nachdenklich vor sich hin. »Er wirkte tatsächlich irgendwie seltsam. Nervöser als sonst. Er hat gesagt, jemand hätte schlecht über ihn geredet.«

»Inwiefern?«

»Nur, dass irgendwer in der Stadt Lügen verbreitet. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass es um etwas Ernstes ging. Ich meine, nach dem, was Jason gesagt hat, glaube ich nicht, dass die Geschichte etwas damit zu tun hat, dass er jetzt unauffindbar ist. Er hat sich einfach nur darüber geärgert, dass irgendwer sich etwas aus den Fingern sog, mehr nicht. Er wollte die Sache am Wochenende klären.«

»Aber du hast nicht erfahren, worum es ging oder mit wem er die Sache klären wollte?«, fragt Nina.

Ponsi schüttelt den Kopf. »Jason hat allerdings erwähnt, dass er versucht hat, Lisa zu erreichen, die aber nicht ans Telefon gegangen ist«, sagt er dann.

»Hat Jason gesagt, warum er mit Lisa reden wollte?«

»Danach habe ich ihn nicht gefragt«, antwortet Ponsi und sieht aus, als hätte er seine Pflicht vernachlässigt.

Nina schluckt ein paar Mal, ihre Kehle fühlt sich rau an. Hoffentlich wird sie nicht krank. Am Abend will sie wieder zum Training gehen, nach einer Woche Faulenzerei.

Sie blickt wieder zu dem Kruzifix an der Wand und erinnert sich an die Bücher, die sie in Jason Nervanders Wohnung vorgefunden hat.

»Ist Jason religiös?«

Ponsi scheint aus seinen Gedanken zu erwachen. Seine Miene verrät, dass die Antwort nicht so leicht ist. »Jason ist offen für verschiedene Deutungen des Lebens. Für alle. Deshalb ist er so ein interessanter Mensch«, sagt er ernst. »Ich habe mit ihm viele tiefschürfende Gespräche über all das geführt: über das Leben und über die Bedeutung der Existenz ganz allgemein.«

»Hat Jason in der Gemeinde Trost gesucht? Hatte er Probleme?«

Ponsi kneift die Augen zusammen, als würde er direkt in die Sonne blicken. »Ich darf eigentlich nicht über Jasons Gemütsleben sprechen«, erwidert er schnell und reibt sich die Stirn.

»Es kann hier um Leben oder Tod gehen. Sehr wahrscheinlich sogar, auch wenn wir das Beste hoffen«, drängt Nina. »Du musst mir alles sagen, was uns helfen kann, Jason zu finden.«

»Das ist mir klar, aber …«

»In welcher Beziehung stand Jason zu Lisa Yamamoto?«

»Zu Lisa? Sie waren eine Zeitlang ein Paar.«

»Warum haben sie sich getrennt?«

Nikolas Ponsi sieht Nina beleidigt an, als wäre er verbittert, weil die Polizistin ihn in eine Situation gebracht hat, in der er eine unangenehme Entscheidung treffen muss. Dann scheint er wieder Unterstützung bei Pileckis Foto zu suchen. Es gibt Schlimmeres, Nikolas.

»Jason war Lisa untreu«, sagt er schließlich und streicht sich den Bart. Er schiebt seinen Stuhl ein Stück zurück und beugt sich halb unter den Tisch. Gleich darauf steigt Nina der Geruch von Fußschweiß in die Nase. Der Pastor oder was immer er ist, Zweiter Pfarrer oder Orakel, hat es sich bequem gemacht und die Schuhe ausgezogen.

»Wer war die dritte Person?«

»Das hat er mir nicht verraten. Er hat nur gesagt, er hätte Lisa betrogen.«

»War Jason jemals gewalttätig?«

Ponsi blickt verwundert von dem Füller auf, den er immer noch in der Hand hält, jetzt aber zurücklegt. »Warum fragst du danach?«

Nina antwortet nicht, sondern sieht Ponsi nur unverwandt an.

Er erwidert ihren Blick, vielleicht eine Sekunde zu lange. »Nein.«

»Nein? Bist du dir sicher?«

»Jason tut keiner Fliege etwas zuleide. Er hat seine Probleme, er trinkt ein bisschen zu viel, und das schadet manchmal seiner Selbstdisziplin. Aber das äußert sich nicht in Gewalt, sondern höchstens in einer Art moralischer Unzurechnungsfähigkeit, die dann Schwierigkeiten in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen schafft«, sagt Ponsi traurig lächelnd.

Nina kann nicht umhin, an die Puppe in Jasons Wandschrank zu denken, die in einen glänzenden Latexanzug gehüllt ist.

»Und mit moralischer Unzurechnungsfähigkeit meinst du …«

»Sexuelle Beziehungen. Da gab es immer eine gewisse Hemmungslosigkeit.«

»Du hast also nie gehört, dass Jason Lisa geschlagen hätte?«

Ponsi verschränkt die Arme, seine Lippen sind ein dünner Strich. »Nein. Nie. Ich glaube nicht, dass so etwas je vorgekommen ist.«

»Okay, danke«, sagt Nina und steht auf. »Ach ja, eine Frage noch. Kannst du dir erklären, warum Jason Samstagnacht in Vuosaari gewesen sein könnte?«

Nikolas Ponsi erhebt sich ebenfalls und wirkt hinter seinem Tisch aus irgendeinem Grund kleiner als zuvor. »Keine Ahnung. Es tut mir leid.«