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Der Zeiger der Wanduhr in Lisas und Essis Wohnzimmer springt auf die volle Stunde. Jusuf und Jessica sitzen auf dem Sofa und blicken ernst vor sich hin.

Helena Lappi hat sich von einem Streifenwagen zur Wohnung bringen lassen, weil sie ihren eigenen Worten nach Gewalt gegen Polizisten – und ganz besonders gegen Polizisten ihrer Einheit – ernst nimmt. Allerdings weiß Jessica genau, dass ihre Chefin die Demütigung, die sie erlebt haben, insgeheim genießt. Hellu ist hier, um persönlich das Messer in der Wunde herumzudrehen, bevor sie ins Polizeigebäude zurückkehrt und sich ihren Papagei Jami Harjula auf die Schulter setzt.

»Gone baby gone. Der Typ ist verschwunden«, sagt Hellu und setzt sich in den Sessel. Sie betrachtet den zerbrochenen Sofatisch, das Blut auf dem Teppich und den weißen Verband um Jusufs rechte Hand. Wie sie so entspannt dasitzt, die Hände auf den Sessellehnen, wirkt sie gefährlich, wie eine unberechenbare Königin, die jederzeit anordnen kann, einem der Anwesenden den Kopf abzuschlagen.

Die Tür zu Essis Zimmer öffnet sich, der junge Mann, den Hellu als Krisenhelfer alarmiert hat, kommt heraus.

»Wie ist die Lage?«, fragt Hellu ruhig.

»Besser. Die Gewissheit, dass die Schlösser heute noch ausgewechselt werden, hilft ihr«, antwortet der Mann und zieht sich den Mantel an. »Aber es ist natürlich ein Schock.«

Hellu nickt und wendet sich an Jessica und Jusuf, während der Mann durch die offene Wohnungstür verschwindet. Im Treppenhaus wird der Rücken eines Polizisten im Overall sichtbar. Die Wohnung wird mindestens für den Rest des Tages bewacht, obwohl es äußerst unwahrscheinlich ist, dass der Typ zurückkommt.

»Ihr habt gesagt, Essi hat es gerochen?«, fragt Hellu schließlich.

»Ja.« Jessica hebt den Blick vom Boden. »Es hing wieder in der Luft.«

»Dasselbe Rasierwasser wie …«

»Vorigen Mittwoch.«

»Das Gespenst, verdammt«, seufzt Hellu. »Und das Gesicht? Habt ihr es gesehen?«

Jessica und Jusuf schütteln den Kopf.

Hellu steht seufzend auf und tritt ans Fenster, die Arme dramatisch in den Rücken gelegt. Am Rücken ihrer Jacke hängen lange weiße Haare. Die locker sitzende Jeans mit den nach unten weiter werdenden Hosenbeinen stammt aus dem vorigen Jahrtausend.

»Seid ihr nicht auf die Idee gekommen, dass das Gespenst in die Wohnung zurückkehren könnte? Wenn der Typ Lisa hat, dann hat er wahrscheinlich auch ihren Hausschlüssel«, sagt Hellu.

Jessica sieht Jusuf an, der gequält wirkt. Der Tag war so ereignisreich, dass man die einfachsten Dinge vergisst.

»Das hört sich jetzt vielleicht dumm an«, seufzt Jessica, »aber es ist wohl nicht besonders wahrscheinlich, dass ein Entführer in die Wohnung der Entführten zurückkommt, wo andauernd die Polizei rumläuft. Er wäre fast geschnappt worden.«

»Ist er aber nicht, zum Teufel«, gibt Hellu in energischem Ton zurück und trommelt mit dem Finger auf den Fensterrahmen. Dann legt sie die Arme wieder in den Rücken und wandert in die Mitte des Wohnzimmers. »Was hat er hier gesucht?«

»Ich weiß nicht. Die Manga-Bilder und Lisas Laptop sind jedenfalls schon auf dem Revier«, antwortet Jessica.

»Hat er womöglich geglaubt, sie wären noch hier?«

»Wohl kaum. Ich vermute, dass er etwas gesucht hat, wovon er wusste, dass Lisa es sorgfältig versteckt hatte.«

»Sah es so aus, als hätte er etwas bei sich, als er wegrannte?«

Jessica schüttelt den Kopf.

Hellu lacht leise auf und lässt ihren Blick enttäuscht an die Decke wandern. »Die KTU kommt nochmal her und sucht nach Fingerabdrücken. Hoffen wir, dass es neue gibt. Und zwar nicht nur von euch beiden«, sagt sie. »Jusuf, was ist mit deiner Hand, kommst du zurecht?«

»Ist nur ein Klacks«, versichert Jusuf. Er gibt sich übertrieben tapfer, wie üblich. Jessica hat den langen Splitter in seinem Daumen gesehen, bevor der Sanitäter ihn herauszog und die Wunde nähte.

Hellu nickt und blickt auf ihre Smartwatch. »Kaum zu fassen. Mit etwas Glück wäre der Fall jetzt gelöst. Aber ihr wart ja nur zwei gegen einen.«

Dann geht sie zur Tür. »Ach ja, Nina hat angerufen. In Jason Nervanders Wandschrank wurde ein ganzes Arsenal an sadomasochistischen Requisiten gefunden.« Hellu lächelt, als Jessica und Jusuf sie verwundert ansehen. »Wer weiß, was dieser Fall noch zu Tage fördert.«