Jessica setzt sich ins Auto, schlägt die Tür zu und schnallt sich an. Jusuf steht mit einer halb aufgerauchten Zigarette draußen und betrachtet den weißen Verband um seine Hand. Die Dunkelheit hat sich klammheimlich über die Stadt gelegt, und die im Wind treibenden Schneeflocken wirken im Licht der Straßenlampen wie gelbe Feuerkäfer. Der Himmel spiegelt sich im nassen Asphalt der leeren Gehwege.
Kurz darauf steigt auch Jusuf ein und lässt den Motor an. Jessica befällt ein Déjà-vu – diese Situation hat sich auch in der Realität viele Dutzend Mal wiederholt. Die Fahrertür geht auf, der Geruch der gerade aufgerauchten Zigarette, gemischt mit Jusufs Rasierwasser, dringt herein, und der Motor des Golfs brummt auf. Musik füllt das Auto wie ein riesiger Wespenschwarm.
»Wir hätten uns denken müssen, dass er zurückkommt«, sagt Jusuf.
»Hinterher ist man immer schlauer«, seufzt Jessica.
»Glaubst du, das Gespenst hat Olga Belousova vergiftet?«
Jessica sieht Jusuf an. »Bist du jetzt zu dem Schluss gekommen, dass sie vergiftet wurde?«
»Wenn sie nun mal nicht ertrunken ist.«
»Schwer zu sagen.«
»Überleg doch mal, die Manga-Bilder, die Klamotten, die Brandmale. Vielleicht handelt es sich um irgendeinen seltsamen Kult, vielleicht hat Olga die Sachen freiwillig angezogen und irgendeine Designerdroge genommen, die das Gespenst aus Japan nach Finnland gebracht hat«, sagt Jusuf und schnallt sich an. »Vielleicht haben wir Glück und Sarvilinna findet in Olgas Blut irgendeine neue Droge, der wir nachspüren können.«
»So ähnlich wie Jiminy Cricket?«
»Genau.«
Jessica zuckt mit den Schultern. Unter dem Namen Jiminy Cricket lief bei der Polizei eine rumänische Bande, die vor ein paar Jahren eine neuartige Designerdroge nach Finnland gebracht hatte und der man auf die Spur kam, nachdem ein junger Mann an einer Überdosis gestorben war. Eine große Rolle spielte dabei eine brandneue Entwicklung in der toxikologischen Forschung: die Vorhersage der Molekülstruktur.
Üblicherweise braucht die Rechtsmedizin eine Referenz, nämlich die fragliche Droge, um sie mit der Probe vergleichen zu können, die dem Toten entnommen wurde. Zoll und Polizei schicken die Stoffe typischerweise in das rechtsmedizinische Labor. In den letzten Jahren ist es den Toxikologen jedoch gelungen, eine Methode zu entwickeln, mit der man bei jedem beliebigen Stoff aufgrund der Molekülmasse die Molekülstruktur ableiten kann. So lässt sich bei einer unbekannten Droge zum Beispiel die Grundstruktur des Amphetamins erkennen, dem der Hersteller irgendetwas hinzugefügt hat. Dadurch ist es leichter als bisher, sowohl die Droge als auch die Distributionskette zu suchen, obwohl der Stoff selbst den Behörden noch unbekannt ist.
»Auf Söderskär wurde nichts gefunden«, seufzt Jusuf und setzt aus der Parklücke zurück.
»Nein. Überhaupt nichts. Obwohl das Ufer sogar von Tauchern abgesucht wurde.«
»Verdammt. Überall nur Sackgassen. Rasmus hat eine Nachricht geschickt, dass in den letzten vier Wochen kein Transportunternehmen ein Paket bei Lisa abgeholt hat. In der umgekehrten Richtung waren dagegen dutzendweise Sendungen unterwegs.«
»Kann ich mir vorstellen. Die ganzen Sachen, die Influencer für Werbezwecke bekommen«, sagt Jessica kopfschüttelnd. Sie erinnert sich noch gut an die vielen leeren Pakete in Lisas Zimmer.
»Und dann noch Jason Nervanders Vorliebe für härteres Zeug. Glaubst du, das hat irgendwas mit den Manga-Geschichten zu tun?«
»Nein. Das sind ganz unterschiedliche Dinge. Wenn Nervander sich an Manga aufgeilen würde, hätte Nina in seinem Schrank Manga gefunden und keinen schwarzen Latex.«
»Wahrscheinlich. Was nun?«
»Ich muss eine Weile die Augen zumachen und nachdenken. Schaffst du es, mich nach Hause zu bringen?«
»Das schaff ich doch immer, verdammt«, sagt Jusuf und lächelt müde.
Irgendwo hinter all dem Grau geht die Sonne unter und färbt die niedrig hängenden Wolken fahlgelb. Es ist vielleicht der schönste Moment des Tages, ein Schimmer Leben und Neuanfang vor der fast zwölf Stunden anhaltenden, gnadenlosen Dunkelheit.