Jessica dreht den Schlüssel im Schloss, öffnet die Tür und betritt die Einzimmerwohnung.
Auf dem Fußboden liegen zwei Briefe und die Lokalzeitung des Stadtteils Töölö.
Sie lauscht einen Moment auf die Geräusche im Treppenhaus, wo jemand in den zweiten oder dritten Stock geht und klingelt. Gleich darauf wird eine Tür geöffnet, und fröhliche Kinderstimmen füllen das Treppenhaus. Dann schlägt die Tür zu, und die Rufe verwandeln sich in leises Murmeln.
Jessica schließt die Tür und zieht ihren Mantel aus. Sie hebt die Post vom Boden auf und geht durch die kompakte Einzimmerwohnung ans Fenster, das auf den Innenhof geht, der so aussieht wie die meisten Höfe in Töölö: Fahrradständer, Mülltonnen und ein aus dicken Rohren geschweißter Ständer zum Teppichklopfen. Verputzte Mauern, die im Licht der Hoflampen und der vielen beleuchteten Wohnungen beige aufleuchten. Schwarze und metallfarbene, gefährlich glatt wirkende Blechdächer, auf denen die gefrorene Feuchtigkeit glitzert. Riesige, mit Blech verkleidete Schornsteine, von denen einige grauen Rauch in den Himmel aufwehen lassen.
Jessica setzt sich auf die Fensterbank und betrachtet ihre kleine Wohnung, deren einzige Funktion darin besteht, als Kulisse für die Außenwelt zu dienen. Im Kühlschrank schimmelt möglicherweise etwas vor sich hin, und im Bett hat lange niemand mehr geschlafen. Genau genommen wurde das Bett zuletzt für etwas anderes verwendet als zum Schlafen: Vor rund fünf Wochen sind Jessica und Fubu gemeinsam zu dem Schluss gelangt, dass sie keine gemeinsame Zukunft haben, und haben zum letzten Mal gevögelt, um ihre Trennung zu besiegeln. Der Sex war nicht besser, schlechter oder dramatischer als sonst, mit Fubu ist er immer gleichbleibend entspannt gewesen. So war es auch, als sie beide wussten, dass es das letzte Mal war.
Im Nachhinein scheint es absurd, dass Fubu so oft hier zu Besuch war, ohne die Wahrheit zu kennen. Als Jessica nach Fubus Abschied auf dem Bett lag, wurde ihr plötzlich klar, dass es nahezu unmöglich sein kann, jemandem die volle Wahrheit zu sagen, den man in einem Geflecht aus Halbwahrheiten kennengelernt hat. Selbst wenn man zu diesem Menschen genug Vertrauen hat, um ihm die Wahrheit zu enthüllen, vertraut man doch nicht darauf, dass er nicht weggeht, nachdem er sie gehört hat. Gerade das treibt einen dazu, sein Geheimnis zu wahren.
Jessicas Handy klingelt in der Tasche ihrer Jeans.
Die Nummer ist unterdrückt.
Jessica zögert einen Moment. Sie ist an diesem Tag vielen neuen Leuten begegnet, unter anderem dem Irren beim Joggen. Wenn sie sich jetzt meldet, hört sie womöglich wieder das Wort, das er gesagt hat: Heiligabend. Andererseits kann sie es sich als Hauptermittlerin momentan nicht leisten, Anrufe unbeantwortet zu lassen, denn jede Information kann wichtig sein.
Also drückt sie auf den grünen Hörer und hebt das Handy ans Ohr. Im Hintergrund läuft Musik.
Dann hört sie eine Männerstimme. Sie spricht Englisch, doch die Worte sind nicht an sie gerichtet.
»Hallo?«, ruft Jessica.
»Sorry! Hi, detective«, antwortet die Stimme, und Jessica braucht nicht lange, um zu begreifen, dass am anderen Ende der Restaurantchef aus dem Fenix ist. Der Mann, der sie früher am Tag auf besondere Art angesehen hat: vielleicht lüstern, zugleich aber warmherzig wie ein alter Freund.
»Hier ist Frank Dominis«, sagt der Mann. In seiner charismatischen Stimme schwingt ein Lächeln mit. »Sorry, die Telefonnummer des Büros wird nicht angezeigt. Ihre Visitenkarte liegt hier auf meinem Tisch.«
Jessica geht, das Handy am Ohr, zurück ans Fenster. Zwei Etagen tiefer auf der anderen Hofseite machen ein Mann und eine Frau in ihrem Wohnzimmer Yoga-Übungen, während in ihrem Fernseher eine Natursendung läuft. Jessica setzt sich auf die Fensterbank und stößt die Luft aus. Sie kann wohl für eine Weile ihre Deckung verlassen und etwas anderes sein als die kühle Polizistin, die Angst hat, sich dem Leben auszusetzen.
»How can I help you, Frank?«