Jusuf betrachtet das Display seines Handys, von dem Jessicas Foto und ihr Name gerade verschwunden sind. Dann steckt er das Telefon in die Brusttasche, zieht den Reißverschluss seiner Lederjacke hoch und atmet die frische Luft des kühlen Waldes ein. Vor einer Viertelstunde war er auf dem Weg zum Parkhaus, hat es sich dann aber anders überlegt und beschlossen, einen kleinen Spaziergang zu machen. Vom Polizeigebäude aus ist er zuerst die Pasilanraitio entlang nach Süden gegangen, von dort weiter zur Winqvistinkatu und schließlich von der Fanninpenger zum Joggingpfad im Wald. Zuerst Lichter, Hupen, brummende Motoren, das Rattern der Straßenbahnen und dann: nichts. Es ist erstaunlich, wie schnell die urbane Umgebung in Natur übergeht, die allen Lärm ausschließt und besonders jetzt, in der Dunkelheit, wie eine andere Welt ist, wie der rabenschwarze Hexenwald im Märchen von Hänsel und Gretel, in dessen Tiefe das Pfefferkuchenhaus steht.
Der schmale Sandweg in dem dichten Tannenwald gleicht einem Pfad in einem Labyrinth: An vielen Stellen stehen die Bäume so nah beieinander, dass ihre untersten Äste vertrocknet sind. Da die Sonne sie nicht erreicht, sind sie zum Tod verurteilt. An diesem Novemberabend hat sich auch auf die toten Äste eine dünne Schneeschicht gelegt: Für eine Weile dürfen sie wie die lebenden einen weißen Schleier tragen.
Jusuf hat sich nie vor dem dunklen Wald gefürchtet. Im Gegenteil, er ist in Söderkulla bei Sipoo zwischen Bäumen aufgewachsen, hat Frösche gefangen, mit einer Schleuder auf einen Wolf geschossen, in einem selbstgebauten Unterstand übernachtet und Würste so schwarz gebraten, dass ihre krosse Haut ausschließlich nach Kohle schmeckte. Jusuf hat Bäche gedämmt und zwischen den Ästen von zwei Eichen eine Baumhütte gebaut, so hoch oben, dass seine in der Stadt wohnenden Cousins sich nicht getraut haben hinaufzuklettern. Jusuf ist ein Junge vom Land, den die pulsierende Stadt sich für eine kurze Lebensphase geliehen hat. An manchen Tagen überlegt er, ob es zu früh ist, die Hektik der Stadt und die schwere Polizeiarbeit hinter sich zu lassen. Zu seinen Wurzeln zurückzukehren und etwas anderes zu tun.
Er schließt die Augen, riecht den erdigen Geruch des Moors, hört den klangvollen Gesang der Kraniche und ist plötzlich wieder acht Jahre alt. Zusammen mit Basse, Sebu und Jeppe radelt er auf dem Sandweg, sie reden darüber, wie das Monster aussieht, das nachts aus dem Morast steigt. Ob es grün oder braun ist. Und ob unter seinem Nacken Glieder mit langen Krallen wachsen wie bei einem Krokodil oder vielleicht die Fangarme eines Tintenfischs.
All das kehrt sekundenschnell in seine Erinnerung zurück: der Fluss Sipoonjoki, der Söderkulla wie ein Schwert durchschneidet und dessen wuchernde Vegetation man bis ins Ruderboot riecht, und der süßliche Duft der mit Holz geheizten Saunen, den die diesige Wasserfläche hartnäckig trägt.
Die Frühlingsblumen und der Blütenstaub. Der Geruch des Weichspülers, den seine Mutter verwendet. Die roten Rosen und das Mädchen. Sie tragen beide Studentenmützen, und die Welt existiert nur für sie.
Annas Familie wohnt nicht weit von Jusufs Haus entfernt. Sie haben sich schon als Kinder gekannt, aber erst in der letzten Zeit auf dem Gymnasium angefangen, miteinander zu gehen. Sind solche Geschichten nicht dazu geschaffen, glücklich zu enden? Zwei Menschen kennen sich, vertrauen sich und finden sich schließlich. Oder sind sie gerade deshalb zum Scheitern verurteilt, weil alles zu früh zu perfekt ist?
Jusuf bleibt stehen, er atmet den Waldgeruch tief ein, als wäre es das letzte Mal. Und das ist es wohl auch für diesen Abend.
Das Feuerzeug klackt in der Dunkelheit, und der Geruch der Zigarette überdeckt alles andere. Vielleicht ist das Jusufs Methode, die Nostalgie auszuschalten, diesem Gefühl, das mehr sein will als reine Erinnerung, die Flügel zu stutzen.
Vielleicht werden Anna und er tatsächlich irgendwann wieder aufs Land ziehen und am Flussufer oder wenigstens in Flussnähe ein weißes Haus bauen, sofern das Geld reicht. Sie werden Kinder bekommen und miterleben, wie die Sprösslinge sich über dieselben Dinge freuen, an denen sie selbst in ihrer Kindheit Spaß hatten, dieselben Fehler machen und mit blauen Flecken davonkommen wie ihre Eltern damals. Sie werden mit einem großen Wagen zu einem großen Supermarkt fahren und unter schlanken Birken im Garten grillen. An der einen Seite des Gartens wird eine Sauna stehen, an der anderen ein Trampolin für die Kinder. Vielleicht. Warum nicht. Aber all das werden sie nicht miteinander tun, sondern getrennt, mit anderen. Mit Menschen, denen sie noch nicht einmal begegnet sind. Und diese Tatsache ist schmerzlicher als jede Erinnerung.