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Jessica betritt ihre Einzimmerwohnung. Ohne die Schuhe auszuziehen, geht sie zum Bett, setzt sich darauf und schließt die Augen. Sie hat kein Licht gemacht, und mit geschlossenen Augen wirkt die Dunkelheit vollkommen. Das Licht aus dem Innenhof dringt nicht durch den Vorhang der Augenlider.

Andere erzählen ungefragt etwas.

Jessica spürt einen eiskalten Stich in der Schulter und steht auf. Hastig geht sie zur gegenüberliegenden Wand, in der sich die zweite Tür befindet.

Komm nach Hause.

Ich komme.

Mit dem Schlüssel in der Hand betritt sie das Treppenhaus.

Das dunkle Treppenhaus, das irgendwann zu Beginn des vorigen Jahrhunderts für die Dienstboten vorgesehen war, ist wie eine Zwischenzone, die zwei Welten voneinander trennt, ein Tor zwischen zwei Wirklichkeiten. Jeden Abend kommt Jessica von der Arbeit, ist einen Moment lang Jessica Niemi, bis sie die Tür zu der anderen Wirklichkeit öffnet und mit dem Namen am Briefschlitz im Treppenaufgang A eins wird. Von Hellens.

Sie betritt die Wohnung, in der Erne seine letzten Tage verbracht hat. Die Wohnung, die sie trotz ihrer Größe als sicher und anheimelnd empfindet.

Als sie den Code in die Alarmanlage eingibt, gehen automatisch die Lampen in der großen Diele an. Sie schließt die Tür hinter sich und legt die Schlüssel auf die Kommode.

Dann geht sie durch die Diele in das Wohnzimmer, dessen riesige Fenster zur hell beleuchteten Innenstadt von Helsinki liegen. Irgendwo in der Nähe des Museums Amos Rex zeigt ein starker Lichtstrahl zum Himmel und scheint den Mond zu suchen, ohne ihn zu finden.

Jessica geht in die Küche, klappt ihren Laptop auf, der auf dem Tisch liegt, und schaltet den Wasserkocher an.

Eine Weile herrscht absolute Stille.

Aus irgendeinem Grund lässt sie Jessica an Erne denken. Sie erinnert sich an sein stoppelbärtiges Gesicht, dem die Falten Verspieltheit und Charisma verliehen. Jessica muss Erne so sehen, wie er gelebt hat, nicht so, wie er gestorben ist. Im letzten Frühjahr war er so mager, dass die Falten in den eingefallenen, hohlen Wangen verschwanden. Seine Arme waren so dünn, dass sie nicht mehr fähig gewesen wären, irgendwen zu retten, die junge Jessica aus der Dunkelheit wieder ins Licht zu heben.

Jessica schließt die Augen und wartet, bis das Wasser im Kocher zu rauschen beginnt.

Dann holt sie einen Beutel Hagebuttentee aus der Holzkiste und legt ihn in eine Tasse.

Das Wasser kocht. Jessica knipst den Kocher aus.

Das Wasser fließt in die Tasse und färbt sich sofort rot, es ist wie das Blut, das sich entschlossen in das Badewasser eines Menschen mischt, der sein Leben mit einer Rasierklinge beendet hat. Jessica denkt oft an die Ähnlichkeit dieser beiden Vorgänge, ohne genau zu wissen, warum. Sie hat nur ein einziges Mal an Selbstmord gedacht, vor langer Zeit. Damals, als pechschwarze Wolken über den Kanälen von Murano hingen und ihr geschändeter Körper wie ihre Seele vor Trauer und Scham zerspringen wollte.

Jessica setzt sich an den Tisch, holt einen USB-Stick aus der Tasche und steckt ihn in den Laptop.

Sie öffnet mehrere Bilddateien. Lisa Yamamoto. Jason Nervander. Die Latexkleidung im Wandschrank. Das Gespenst im Fenix. Akifumi2511946. Das Foto vom Leuchtturm. Lisas Skizze des Leuchtturms. Olga Belousova.

»Zwei Blogs«, flüstert sie und schreibt beide auf.

www.thelisayamamoto.fi

www.masayoshi.fi

»… von denen einer geheim ist.«

In dem Moment klingelt ihr Handy. Die Nummer auf dem Display ist merkwürdig kurz. Jessica erinnert sich, sie schon einmal gesehen zu haben.

Sie hebt das Handy ans Ohr. »Niemi.«

»Du hörst dich aber müde an. Die Bürozeit ist vorbei, aber die Sache eilt doch, oder?«, sagt eine lakonische Frauenstimme.

Im ersten Moment kapiert Jessica gar nichts.

»Sorry. Natürlich«, erwidert sie rasch, sobald ihr klar wird, dass die nasale Stimme, die pikiert und zugleich provozierend klingt, der Rechtsmedizinerin Sissi Sarvilinna gehört, die von ihrem Büro aus anruft.

Im Hintergrund hört Jessica Tasten klicken.

»Ich hab dem Labor Beine gemacht, und das Blutbild ist auch schon analysiert. Die Resultate sind interessant. Allem Anschein nach wurde in die Brandwunden der Toten etwas eingerieben, als sie noch lebte«, erklärt Sarvilinna.

»Was?«, fragt Jessica.

»Es handelt sich um eine Art Cocktail von Peptiden: vor allem Dermorphin und Deltorphin. Beide sind Opioidrezeptoragonisten, wirken also schmerzlindernd wie Morphin, sind aber wesentlich effektiver. Dazu weitere Peptide, wie zum Beispiel Dermaseptin und Adenoregulin. Das sagt einem Laien vermutlich nichts, aber es geht, kurz gesagt, um Folgendes: Diese Peptide oder kleinen Proteine treten in einer interessanten Form auf.«

»In welcher?«

»Im Gift eines Tieres namens Phyllomedusa bicolor

»Einer Meduse?«

»Es ist keine Qualle, sondern ein Frosch, der im Regenwald lebt.«

Jessica trinkt einen großen Schluck Tee und gibt den Namen des Froschs in das Google-Suchfeld ein. Phyllomedusa bicolor.

»Bist du noch dran, Niemi?«, erkundigt sich Sarvilinna, nachdem sie ihr Publikum für zwei Sekunden verloren hat.

»Ja. Ich seh gerade nach …«

»Du liest bestimmt gerade den Wikipedia-Artikel, in dem berichtet wird, wie der Stamm der Marubo das Gift verwendet, um das Jagdglück zu verbessern.«

»… der Schamane brennt mit einem glimmenden Ast ein Loch in die Haut der Männer und gibt das aus dem Frosch entnommene Gift hinein. Das Gift verursacht Erbrechen. Der Schamane wirft die Kinder in den Fluss, aus dem sie bald in besserer Verfassung aufsteigen«, liest Jessica laut vom Bildschirm ab und spürt, wie alles an seinen Platz fällt. »Pfui Teufel.«

»Genau. Was nicht in dem Artikel steht, Niemi, ist der Fakt, dass diese Tradition schon vor Jahren als eine Art Alternativbehandlung in der westlichen Welt Fuß gefasst hat. Ich habe sogar einmal etwas darüber gelesen. Verdammt, ich hätte es sofort begreifen müssen, als ich die Brandlöcher in der Haut der Leiche gesehen hab«, schimpft Sarvilinna leise. »Man glaubt, dass das Froschgift Geist und Körper reinigt. Das Verfahren ist unter dem Namen Kambo bekannt.«

Kambo.

Manche erzählen nichts, obwohl man sie fragt. Andere erzählen ungefragt etwas.

Und jetzt kommen ihr die Worte der Taxifahrerin in den Sinn.

… meine Tochter, die ist gerade zwanzig, schwärmt von so einem neuen Gesundheits-Quatsch. Komba oder Kombo. Irgendwas total Unverantwortliches. Ich glaub, es war gerade diese verschwundene Yoko Ono …

»Scheiße. Lisa hat in den sozialen Medien für Kambo Reklame gemacht«, sagt Jessica leise, eher zu sich selbst als zu Sarvilinna.

»Was?«

»Wie … Ich meine: Kann man daran sterben?«

»Darauf wollte ich gerade kommen, Niemi. Als Medizinerin bin ich strikt gegen so eine Quacksalberei. Es gibt keinerlei wissenschaftliche Beweise für den gesundheitlichen Nutzen von Kambo. Und selbst wenn die Bestandteile möglicherweise Euphorie auslösen, handelt es sich immer noch um ein Gift, das der Frosch absondert, um sich gegen seine natürlichen Feinde zu verteidigen. So ein Zeug würde ich nicht mal in die Nähe meines Blutkreislaufs lassen.«

Jessica hört Sarvilinna zu und gibt gleichzeitig Kambo in das Suchfeld ein. Die Bildsuche liefert dutzendweise Fotos von grünen Fröschen und von dunkelroten Löchern, die mit dünnen Zweigen in die Haut gebrannt wurden. Manche sind in gerader Linie eingebrannt, andere in Kreisform. Um die Wunden herum ist die Haut leicht geschwollen und gerötet, wie in Olga Belousovas Ellbogenbeuge. Jeder Zweifel ist ausgeschlossen: Die Ukrainerin hat an diesem seltsamen Ritual teilgenommen.

»Aber ist es möglich, dass …«

»Hast du es eilig, Niemi?«

Nach dieser Frage herrscht ein paar Sekunden Stille.

»Nein, aber …«

»Die kurze Antwort: Es ist möglich. An Kambo zu sterben, meine ich. Weltweit gibt es vereinzelte Berichte über Todesfälle, die durch die Kambo-Behandlung verursacht wurden. Sie hat bei den Patienten zum Herzstillstand geführt.«

»Genau das scheint Olga Belousova passiert zu sein.«

»Ich habe die Statistiken im Blick, Niemi. Deshalb halte ich es trotz allem nicht für besonders wahrscheinlich. Aber ich habe noch Informationen für dich, die die Frage klären könnten. In den Wunden wurden nämlich auch Spuren von Stoffen gefunden, die keineswegs von einem Frosch stammen. Nicht mal von einer Qualle«, erklärt Sarvilinna, und Jessica hört sie leise auflachen. »Beim ersten handelt es sich um Codein, das als Schmerzmittel verwendet wird. Es wurde dem Cocktail vielleicht hinzugefügt, um den Schmerz zu lindern, den das Ritual verursacht. Ich habe übrigens eine kleine internationale Umfrage veranstaltet und eine Kollegin in London angerufen, die meinen Verdacht im Hinblick auf Kambo und die Zusammensetzung des Giftes bestätigt hat, aber noch nie davon gehört hatte, dass andere Mittel unter das Gift gemischt worden wären. Nicht einmal zur Schmerzlinderung. Aber bei Olga Belousova wurde Codein in die Wunde gerieben, und zusätzlich haben wir in ihrem Blut eine ziemlich große Menge Morphin gefunden.«

»Okay. Was noch?«

»Tja, jetzt wird es interessant. Im Blut wurde auch Buprenorphin festgestellt.«

»Subutex?«, fragt Jessica.

Buprenorphin, der Wirkstoff von Subutex oder Subu, ist Jessica – und allen anderen Polizeikräften – hinlänglich bekannt. In Helsinki bevorzugten die Konsumenten harter Drogen noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Heroin, aber der Krieg in Afghanistan hat die dortige Opiumproduktion reduziert. Bald fanden die Konsumenten einen Ersatz: das hauptsächlich aus Frankreich nach Finnland eingeführte Buprenorphin, das eigentlich als Substitutionsmittel bei der Therapie von Opioid-Abhängigen dienen soll.

»Ja. Wie du vielleicht weißt, führt Buprenorphin wegen des Sättigungseffekts für sich allein nicht zum Tod, aber in Verbindung mit Froschgift und Morphin kann es, denke ich, Atemlähmung und Herzstillstand auslösen«, erklärt Sarvilinna.

Jessica lehnt sich zurück. Schweiß tritt auf ihre Hand, die das Telefon umklammert.

»Dem Cocktail wurden also drei verschiedene Opioide hinzugefügt?«

»Ja.«

»Aber warum?«

»Um der Patientin Euphorie zu bescheren?«

»Oder einfach nur, um sie abhängig zu machen«, sagt Jessica und schließt die Augen.

Sarvilinna murmelt etwas über die Abhängigkeit von Honig, dann beenden sie das Gespräch. Jessica legt das Handy auf den Tisch, umfasst ihre Teetasse mit beiden Händen und betrachtet ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, die als einzigen Hintergrund Dunkelheit bietet. Schwarz in Schwarz.

Draußen legt sich der kalte Wind um das Gebäude und lässt den Rauchabzug des Kamins in der Küche heulen, als wäre er eine große Flöte.