46

Es ist eine Minute vor elf. Jessica sitzt auf der Rückbank eines Streifenwagens an der Ecke der Toinen linja und der Castréninkatu. Der Wind lässt die Zweige der kahlen Bäume auf dem leeren Spielplatz tanzen, und weiter weg, hinter dem Ilola-Park, ragt das Helsinkier Stadttheater weiß vor dem dunkelgrauen Himmel auf. Im Autoradio läuft ausgerechnet die Nummer eins der Charts: Spider’s Web, der Titelsong des neuen Albums von Kex Mace’s.

Der Text ruft Jessica den etwas trotzigen und ungemein selbstbewussten Rapper in Erinnerung, den sie gegen Mittag im Sea Horse getroffen hat. Sie öffnet Instagram auf ihrem Handy und besucht seinen Account. Bei dem Profilbild und dem Namen @kexmaces ist ein kleines blaues Zeichen zu sehen, das Instagram dem Account als Zeichen seiner Authentizität verliehen hat. Im Namen von Superstars werden oft unzählige Fake Accounts eröffnet, und der blaue Punkt verrät den Followern, dass dieses Konto echt ist.

Der Rapper hat fast eine Million Follower. Auf seinem Account sind über tausend Bilder. Fotos von Partys, Galas, Auftritten, Urlaubsreisen, Joggingstrecken, Jachten, Hubschraubern und dem Zuhause des Stars. Viele Bilder zeigen eine Spinne. Wenn man sie anklickt, erfährt man, dass es sich um Escobar handelt, das neue Haustier des Rappers. Jessica überlegt, ob Escobar den Künstler zu seinem Album inspiriert hat oder ob das achtbeinige Haustier nur ein Werbegag für die neue Platte ist.

Jessica blättert weiter, stoppt die über das Display huschenden Bilder aber, als sie Lisas Gesicht entdeckt. Auf dem Schwarzweißfoto posieren Kex und Lisa Wange an Wange, mit strahlendem Lächeln. Die heißeste Bloggerin Finnlands. Folgt ihr! @thelisayamamoto. Die Aufnahme wurde in einem Innenraum gemacht, im Hintergrund sieht man eine dunkelgraue Wand und die Ecke eines gerahmten Gemäldes. Das Foto wurde vor zwei Monaten, im September, gepostet.

»Ruhig hier«, sagt der Polizist, der am Lenkrad sitzt, und dreht seinen Schnupftabak zwischen Daumen und Zeigefinger. Jessica steckt ihr Handy in die Manteltasche.

Dann klappt sie den Spiegel in der Sonnenblende herunter und mustert sich. Sie hat ihre schwarzen Haare zum Pferdeschwanz gebunden und ein dunkelblaues Basecap mit der Aufschrift New York Yankees aufgesetzt. Jetzt merkt sie, dass sie aussieht wie eine der kaltschnäuzigen Polizistinnen in den amerikanischen Serien.

Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite, zwischen einem Gebrauchtwagenhandel und dem Café23, befindet sich ein kleines Geschäftslokal, an dessen Schaufenster in verschnörkelten Buchstaben Alternative & Liebe Helsinki steht. Einige Gäste des Café23 stehen rauchend auf dem Bürgersteig, aber ansonsten ist vor dem Gebäude alles ruhig.

»Gehen wir?«

»Warte noch«, sagt Jessica.

Jusuf ist gerade mit einer zweiten Streife an der Wohnung des Geschäftsinhabers Jose Rodriguez, die sich nur fünfhundert Meter weiter in der Alppikatu befindet.

Als Jusuf endlich anruft, schließt Jessica die Augen.

»Jose Rodriguez scheint nicht zu Hause zu sein«, sagt Jusuf mit müder Stimme. »Wir haben einen Nachbarn getroffen, der sagt, er hätte ihn heute früh zuletzt gesehen.«

»Okay«, seufzt Jessica.

»Hat Hellu die Razzia nicht genehmigt?«

Jessica betrachtet ihre Hand, die rote Verfärbung an den Fingerknöcheln hat wieder eine neue Schattierung angenommen. Für den Einsatz von Zwangsmaßnahmen werden heutzutage strenge Kriterien gefordert, was aus der Sicht der Privatsphäre und Rechtssicherheit der Bürger wohl ganz gut ist. Mitunter ist die Folge aber eine unnötige Verzögerung, selbst dann, wenn es sich um einen bombensicheren Fall handelt, der schnelles Eingreifen erfordern würde.

Gerade jetzt liegt die Genehmigung auf Eis: Überraschenderweise gibt es in Helsinki mehrere Kambo-Praxen, sodass vorläufig keine direkte Verbindung zwischen ALH und Olga Belousova aufgezeigt werden kann. An sich ist alles klar, aber auf dem Papier zu wacklig.

»Nein«, sagt Jessica. »Wir haben die Erlaubnis noch nicht.«

»Was hast du vor?«

Sie schiebt das Basecap hoch und kratzt sich an der Stirn. »Wir gucken mal durchs Fenster. Ruf an, wenn sich was tut«, sagt sie und legt auf.