Rasmus Susikoski wirft einen Blick auf die Uhr am oberen Rand des Monitors. Sie zeigt 00:12, und seine Augenlider werden schon eine Spur schwer. An sich bedeutet Mitternacht in seiner Welt gar nichts, manchmal sitzt er selbst werktags bis zwei oder drei Uhr morgens vor seinen Internetspielen. Er war nie besonders athletisch, nicht einmal annähernd. Aber er besitzt eine nützliche Superkraft: minimalen Schlafbedarf. Während viele andere im Ermittlungsteam sich bei rund um die Uhr andauernden, intensiven Arbeitseinsätzen in Zombies verwandeln, kommt Rasmus notfalls eine Woche lang mit einigen Stunden Schlaf aus und bleibt trotzdem einigermaßen wach und denkfähig. Und dazu braucht er nicht einmal unbedingt Energy Drinks, die er allerdings unter normalen Umständen literweise trinkt.
In dieser Nacht hat er auf seinem Computer allerdings nicht Apex Legends oder Call of Duty gestartet. Stattdessen hat er Unmengen an Informationen und Bildern über Frösche, Kambo, Jose Rodriguez und Manga-Kleidung über den Bildschirm laufen lassen.
Durch das kleine Zimmer wabert der Geruch des säuerlichen Energy Drinks und der kalt gewordenen Suppe.
Aus dem Bluetooth-Kopfhörer kommt ein leiser Signalton, und Rasmus öffnet das Browserfenster für Messenger. Die Nachricht kommt von Nina.
Von Nina!
Rasmus spürt, dass sich sein Puls beschleunigt. Er öffnet das Chatfenster.
Nina Ruska: Wach?
Rasmus Susikoski: Ja. =)
NR: Ich hab gesehen, dass du online bist. Hast du schon von der Sache in der Toinen linja gehört?
RS: Ja. Hellu hat eine Nachricht geschickt.
NR: Mir auch.
Rasmus lehnt sich zurück und trinkt einen Schluck Limo aus Mate-Extrakt. Es ist strengstens verboten, sich in den sozialen Medien über berufliche Dinge zu unterhalten, selbst in privater Kommunikation. Aber die Kommunikation ist genau das: privat, und niemand hat das Recht oder auch nur die Möglichkeit, sie zu kontrollieren.
RS: Jessi und Jusuf fahren offenbar gerade da weg. Und die technische Untersuchung geht los.
NR: Okay. Himmel nochmal, was für ein chaotischer Fall.
RS: Ja.
NR: Ich hab über diesen Akifumi nachgedacht. Über die Nummer.
RS: 2511946?
NR: Anfangs dachte ich, es wäre eine rein zufällige Ziffernreihe. Sicherheitshalber eine lange, damit bestimmt niemand dieselbe Chiffre hat. Es gibt nämlich wahnsinnig viele Akifumis. Aber ich hatte das Gefühl, dass doch irgendwas dahintersteckt.
RS: Ich weiß, was du meinst.
NR: Aber dann ist mir gerade eine Idee gekommen. Unsere Trainingsgruppe hat ihren eigenen Hashtag. #stralö010720, was bedeutet, dass wir am ersten Juli alle fit für den Strand sind. Stralö wie Strandlöwe. LOL.
RS: Und?
NR: Und weil diese ganze Sache auf Instagram läuft, hab ich da nach der Ziffernreihe gesucht.
RS: Was hast du gefunden?
NR: Hashtags. #2511946. Es gibt fast zwanzig.
Rasmus spürt einen Stich im Herzen. Hashtags? Wieso hat er nicht daran gedacht?
Sofort öffnet er Instagram und gibt als Suchbegriff 2511946 ein. Es gibt 18 Fotos mit dem Hashtag #2511946.
Die Sache ist zu heiß, um sie im Chat zu besprechen. Rasmus greift nach seinem Handy und wählt Ninas Nummer. Gleich darauf meldet sich seine Kollegin mit munterer Stimme.
»Sorry, ich weiß nicht, ob du reden kannst …«
»Ich hab mir schon gedacht, dass du anrufst«, sagt Nina.
»Hast du dir die Bilder angesehen?«, fragt Rasmus und scrollt über die Seite.
»Ja. Auf den ersten Blick haben sie nichts Gemeinsames, sie sind alle an verschiedenen Orten aufgenommen und von verschiedenen Nutzern gepostet worden. Aber wenn man sie eine Weile untersucht, merkt man, dass …«
»Dass sie alle Bars zeigen?«
»Genau, und Restaurants, Hotels, Motels. Und auf keinem einzigen sieht man Menschen. Außerdem ist zu jedem Foto der Ort vermerkt.«
»Sind sie alle …«
»In Schweden«, sagt Nina, und Rasmus spürt eine gewisse Enttäuschung.
»In Schweden?«, fragt er und rückt die Lehne seines Stuhls in eine bequemere Position.
»Ja. Die meisten in Stockholm, aber auch in Uppsala, Örebro, Helsingborg, Malmö, Göteborg. Es sind sowohl Bruchbuden dabei als auch hochkarätige Lokale. Schäbige Motels und Fünf-Sterne-Hotels. Einfache Bars und feine Nachtclubs. Ich hab mir die Bilder ziemlich lange angesehen und überlegt, warum die Leute solche nichtssagenden Fotos von Gebäuden und ihren Namenschildern machen, den Ort taggen und ein Bündel Hashtags hinzufügen, unter anderem #2511946. Das steht immer am Schluss«, erklärt Nina. Dann macht sie eine längere Pause.
»Immer am Schluss … Das weist ja ganz klar darauf hin, dass es sich um eine Art Protokoll handelt.«
»Genau. Ich dachte mir sofort, dass irgendetwas diese Orte verbindet und sie deshalb mit dieser Ziffernreihe markiert wurden. Denk doch mal nach, Rasmus. Wenn das zutrifft, kann der Instagram-User eine Liste dieser Orte suchen …«
»Wenn er die Ziffernreihe kennt«, ergänzt Rasmus. Er nimmt die Brille ab, und im selben Moment bekommt das Rätsel in seinem Kopf eine neue Bezeichnung. »Es ist ein Suchbegriff.«
»Ja«, sagt Nina. »Es ist verdammt nochmal ein Suchbegriff, Rasse!«
Rasse spürt, wie die Spannung vom Nacken her zu seinen Fingerspitzen wandert. Die Entdeckung beweist eigentlich gar nichts, und die in Schweden getaggten Orte haben bisher keinerlei Verbindung zu ihrem Fall. Dennoch wirkt gerade jetzt alles klar und deutlich.
»Vielleicht ein geheimer Suchbegriff, dann wäre er gleichzeitig auch …«
»Ein Kennwort«, führt Nina Rasmus’ Satz zu Ende.
»Aber wofür?«
»Das kommt gleich. Ich bin nämlich noch einen Schritt weitergegangen.«
Wundervolle Nina. Kluge, schöne, scharfsinnige Nina. Starke Nina. Nina, die ihre Erkenntnisse einzig und allein mit ihm teilen will.
»Na?«
»Ich hab überlegt, warum nur Schweden. 18 Fotos von schwedischen Gaststätten und Hotels. Und dann hab ich es kapiert: 46.«
»46?«
»Die beiden letzten Ziffern. 2511946. Vier. Sechs. Das ist die Vorwahl von Schweden. Ich hab sie durch die 358 für Finnland ersetzt, rate mal, was dabei herauskommt.«
Rasmus hält die Luft an und tippt 25119358 in die Instagram-Suchleiste.
Als er auf Enter drückt, erscheinen neue Fotos auf dem Bildschirm: 10 Stück, um genau zu sein.
»Ansonsten dasselbe Schema, aber diese Orte sind in Finnland. Und rate mal, welcher Nachtclub dabei ist«, sagt Nina.
»Das Fenix.«
»Genau.«
»Herrje«, stößt Rasmus hervor. »Und … Und die anderen Vorwahlnummern? Hat jedes Land seinen eigenen Hashtag?«
»Genau das hab ich auch überlegt. Ich hab es auf die Schnelle mit einigen ausprobiert, und allem Anschein nach funktioniert das System zumindest in Skandinavien, mit Ausnahme von Island. In Norwegen gibt es fünf Tags und in Dänemark 14. Mit demselben System habe ich zum Beispiel in Deutschland, Frankreich oder Estland nichts gefunden.«
»Ein skandinavisches … was? Hat das irgendwie mit Kambo zu tun?«
»Meines Wissens ist Kambo in keinem dieser Länder illegal.«
»Mit Drogen?«
»Alles ist möglich, Rasse«, sagt Nina, womit sie ausgesprochen recht hat.
Rasmus denkt an das TOR-Netzwerk, an die Untersuchungen der letzten Jahre, die gezeigt haben, dass man im Internet alles Mögliche suchen kann, ob Drogen, Elfenbein, Waffen oder Kinderporno, wenn man das richtige Suchwort eingibt, das nur den Mitgliedern des Rings bekannt ist. Deshalb ist es für die Polizei schwierig, ihnen auf die Spur zu kommen.
»Weiß Jessica schon davon? Oder Hellu?«, fragt er.
»Noch nicht. Ich wollte erst mit dir reden.«
Rasmus spürt Wärme aufsteigen. Er ist Ninas ICE-Person. In case of emergency.
»Ich würde vorher gern wenigstens einen kleinen Hinweis darauf finden, wer Akifumi ist. Und warum er die Vorwahl von Schweden in seinen Instagram-Namen aufgenommen hat«, seufzt Nina.
»Vielleicht ist er ein Whistleblower? Jemand, der die Polizei auf etwas aufmerksam machen will?«
»Warum hat er der Polizei dann nicht einfach eine Nachricht geschickt und erklärt, worum es geht? Warum sollte er so einen vagen Hinweis geben, den womöglich niemand richtig deutet?«
»Ich weiß nicht. Aber das Gute an der Sache ist, dass wir nur einen einzigen von denen aufzuspüren brauchen, die diese Fotos gepostet haben, und aus ihm herausholen, worum es hier …«
»Daraus wird nichts, Rasse.«
»Wieso denn nicht. Wir …«
»Alle Accounts sind Fake-Accounts. Und auf jedem wurde nur ein einziges Foto geladen«, erklärt Nina, und Rasmus fühlt sich plötzlich unsäglich müde. Vielleicht hat ihn bisher die Hoffnung wachgehalten, aber Ninas Worte lassen sie schlagartig erlöschen. Je tiefer sie in dem Rätsel versinken, desto trüber scheint die Sicht um sie herum zu werden.