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Im Autoradio laufen die Nachrichten. Jusuf lehnt den Kopf ans Lenkrad und tut so, als ob er schnarcht. Die Bauarbeiten am Flughafen Helsinki-Vantaa beeinträchtigen den Verkehr, und in den Stoßzeiten bilden sich lange Autoschlangen. Es geht quälend langsam vorwärts. Der Lärm der startenden und landenden Flugzeuge dringt in den Wagen.

Jessica entnimmt der App auf ihrem Handy, dass das Flugzeug, in das Lisas Eltern nach einer Zwischenlandung in London eingestiegen sind, vor fünf Minuten gelandet ist. Zum Glück pünktlich.

Aus dem Wagen vor ihnen steigen ein älterer Mann und eine junge Frau. Der Mann holt einen Koffer aus dem Kofferraum. Vielleicht Vater und Tochter, vielleicht etwas anderes. Jessica beobachtet, wie sie sich zum Abschied umarmen und die Hände des Mannes kurz auf den Schultern der verweinten Frau liegen bleiben.

»Alles geht gut«, sagt Erne und drückt sanft ihre Schultern. Jessica hat einen Kloß im Hals und bekommt kaum Luft. Sie sind gerade am internationalen Terminal des Flughafens Venedig-Tessera aus dem Taxi gestiegen. »Hörst du, Jessica. Alles geht gut«, wiederholt Erne und blickt sich verstohlen um. Weiter weg, beim zweiten Eingang, stehen zwei Männer in schlechtsitzenden Uniformen. Polizia. Ihr Anblick hat der 19jährigen Jessica den Atem verschlagen.

»Sie wissen nichts«, flüstert Erne, tritt einen Schritt zurück und zündet sich eine Zigarette an. Jessica spürt den stechenden Geruch in der Nase. Er beruhigt sie. Genauso sehr wie das Wesen des estnischen Mannes, der vor ihr steht.

»Der Mann war … Er war überhaupt kein Mann, Jessica«, sagt Erne, während der Zigarettenrauch aus seiner Nase entweicht und sich mit der frischen Luft des norditalienischen Frühherbstes mischt.

»Ich will nach Hause«, murmelt Jessica und zieht ihre Strickjacke enger um sich.

»Gut.« Ein freundliches Lächeln legt sich auf Ernes Gesicht. »Aber zuerst frühstücken wir.«

Jessica schließt die Augen, von irgendwoher dringen das Rauschen der automatischen Türen und Durchsagen in italienischer Sprache an ihre Ohren. Sie spürt Ernes Hand auf ihrer Schulter. Dann hört sie Jusufs Stimme. Jessica.

»Hallo, Jessica?«

»Was?«

»Dein Handy klingelt.«

Jessica sieht Jusuf an und blickt dann auf ihr Handy. Die Nummer kennt sie nicht.

»Niemi«, meldet sie sich. Die junge Frau ist inzwischen vor dem Terminal angekommen. Der Mann ist verschwunden. Die Schlange ruckelt ein Stück voran.

»Hallo.«

»Wer ist da?«, fragt Jessica.

»Krista.«

Jessica braucht einen Moment, um zu begreifen, dass es sich um die Tochter der Taxifahrerin handelt. Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr. So früh am Morgen ist es unwahrscheinlich, dass Krista schon im Labor gewesen ist.

»Hallo, Krista.«

»Ich bin gerade auf dem Weg zur Blutprobe.«

»Gut.«

»Aber eigentlich ruf ich aus einem ganz anderen Grund an.«

»Ja?«

»Ich hab doch gestern gesagt, dass Lisa Yamamoto die Kambo-Fotos auf ihrem Account gelöscht hat.«

»Ja. Haben Sie was gefunden …«

»Eher im Gegenteil«, sagt Krista. »Ich hab gemerkt, dass sie auch andere Bilder entfernt hat.«

»Was für welche?«

»Das weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, dass sie so ungefähr tausend Fotos auf ihrem Account hatte. Aber jetzt scheinen es bloß neunhundert zu sein.«

»Okay, danke für den Anruf«, sagt Jessica, wünscht alles Gute für die Blutprobe und legt auf. Dann starrt sie nachdenklich vor sich hin.

»Na?«, drängelt Jusuf und lenkt den Wagen in eine Parkbucht.

»Von Lisas Account sind vor Kurzem hundert Fotos entfernt worden«, sagt Jessica langsam.

»So viele Kambo-Sachen waren da doch wohl nicht?«

Jessica schüttelt den Kopf.

»Es wurde also noch anderes gelöscht.« Jusuf lässt die Stirn wieder auf das Lenkrad sinken. »Aber was?«

»Wir müssen Rasse fragen, ob Instagram gelöschte Bilder zurückholen kann«, meint Jessica und betrachtet eine Frau im Overall von Finavia, die vor den Türen des Terminals eine lange Reihe von leeren Gepäckkarren schiebt, wie einen riesigen, klappernden Tausendfüßler.

»Gehen wir«, sagt sie dann, und Jusuf hebt den Kopf vom Lenkrad.

»Auf zu neuen Abenteuern«, brummt er, steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und öffnet die Tür. Der kalte Wind zieht durch den Wagen, als Jessica die Beifahrertür öffnet.

Seite an Seite gehen sie zum Ankunftsterminal. Jusuf raucht in kurzen Zügen und zieht den Reißverschluss seiner Lederjacke zu. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann er auf sie verzichten und einen weniger schicken, aber warmen Wintermantel anziehen muss.

Jessica wirft einen raschen Blick auf den schwarzen Skoda, der auf der Parkfläche vor dem Terminal steht, und auf die beiden Männer auf den Vordersitzen.

»Wie geht’s deiner Hand?«, fragt sie, als sie das Terminal betreten.

»Mit dem Gewichtheben muss ich wohl ein oder zwei Wochen pausieren.«

»Das tut dir gut. Geh stattdessen joggen«, sagt Jessica und weicht einer Touristengruppe aus, die den Gang in voller Breite für sich beansprucht.

Jusuf räuspert sich skeptisch.

»Ich hab mich noch nie so toll gefühlt«, sagt er.

Jessica antwortet nicht. Sie glaubt Jusuf nicht ganz. Aber es steht ihr nicht zu, über die Hobbys anderer Leute zu urteilen.

Im Gehen bindet sie sich die Haare zum Pferdeschwanz und vergewissert sich, dass ihre blau-weiß gestreifte Bluse nicht aus der Jeans gerutscht ist.

Sie bleiben in der Ankunftshalle stehen, durch deren Schiebetüren eine scheinbar endlose Menschenschlange kommt. Die Passagiere, die man als Finnen identifizieren kann, sehen erholt und ein wenig niedergeschlagen aus. Der Urlaub ist vorbei. Draußen wird sie gleich die nördliche Dunkelheit empfangen. Die vielen ausländischen Touristen erwarten vermutlich, die verschneite Landschaft zu sehen, die sie von Ansichtskarten kennen, und sind enttäuscht, weil sie sich mit der hauchdünnen Schneeschicht begnügen müssen, die sich in der Nacht gebildet hat und schmelzen wird, noch bevor die Sonne aufgeht. Die Vorausschauendsten sind nur nach Helsinki geflogen, um mit der nächsten Maschine nach Levi oder Ylläs oder in ein anderes Urlaubsressort in Nordfinnland weiterzureisen. Dort können sie das Winterwunderland sehen. Und den Weihnachtsmann. Sogar die Mumins, wenn sie Glück haben.

»Jessi«, sagt Jusuf leise und nickt zur Schiebetür hin. »Da sind sie.«

Jessica blickt hin und sieht das Ehepaar, dessen Bild sie auf ihrem Handy gespeichert hat. Zwischen den beiden, die auf Lisas Foto zufrieden lächeln, und den blassen, unverkennbar erschöpften Gestalten, die jetzt in die Ankunftshalle treten, besteht ein ziemlicher Kontrast.

Jusuf und Jessica folgen den beiden, die große Koffer hinter sich herziehen.

»Entschuldigung«, sagt Jessica, die neben den Mann getreten ist, und zieht ihren Dienstausweis hervor. Jusuf tut es ihr gleich.

Der Mann und die Frau sehen sie verwirrt an. Sie wirken unendlich müde, denn sie waren vierundzwanzig Stunden unterwegs, ohne Neues über den Verbleib ihrer Tochter zu erfahren. Jessica versteht, was für ein Gefühl es ist, im Flugzeug aus dem Fenster zu starren in dem Wissen, dass man seinen liebsten Menschen verloren hat. Wie klein sich der Mensch in zehn Kilometer Höhe fühlen kann, ohne die geringste Möglichkeit, auf den Ablauf der tragischen Ereignisse Einfluss zu nehmen.

Lisas Vater nickt knapp. Er ist ein breitschultriger Mann mit großem Gesicht und einem enormen Brustkorb. Das weiße Hemd, der Pullover und der dunkle Anzug sind sicher nicht die bequemste Kleidung für einen langen Flug, aber der Mann scheint auch auf Reisen nicht von seinem Stil abweichen zu wollen.

»Wissen Sie, wo …«, beginnt Lisas Mutter – oder Stiefmutter – und lässt ihren Koffer los. Ihr Blick ist unruhig und besorgt. Sie ist blond, zierlich und erheblich alltäglicher gekleidet als ihr Mann.

Jessica presst die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf.

»Noch nicht. Aber jede Stunde ist wertvoll. Deshalb würden wir gern jetzt gleich mit Ihnen sprechen. Genauer gesagt, mit jedem einzeln«, sagt sie dann.

In den Augen des großen Japaners flackert Wut auf, aber er bleibt äußerlich ruhig.

»Ich verstehe. Wo? Hier?«, fragt er. Er hat einen fremden Akzent, doch seine Aussprache ist klar und deutlich. Jessica hatte bis jetzt keine Vorstellung davon, wie Finnisch mit japanischem Akzent klingt.

»Nein, nicht hier. Wir dürfen die Räume des Zolls nutzen, sodass wir uns in aller Ruhe unterhalten können«, sagt sie. »Bitte folgen Sie uns.«