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Jessica hört einen Schuss. Dann einen zweiten. Und kurz darauf noch acht weitere in immer kürzerem Abstand. Jeder neue Schuss folgt schneller auf den vorigen, bis das Magazin mit den zehn Patronen leer ist und der Schieber der Waffe geöffnet bleibt. Dichter Pulvergeruch umgibt sie.

Jessica nimmt ihren Gehörschutz ab.

»Viel zu hastig. Du wirst es nie so eilig haben, zehn Schüsse abzugeben«, sagt sie, während Jusuf das Magazin entfernt und die Waffe auf den Tisch legt. Seine Hand ballt sich kurz zur Faust.

»Alles Treffer«, erwidert er gleichgültig und macht sich auf den Weg zur Scheibe. Außer ihnen beiden ist niemand da. Auf dem Schießstand im Polizeigebäude in Pasila gibt es keine Zielscheiben, die sich auf Knopfdruck auf Schienen dem Schützen nähern wie in amerikanischen Fernsehserien. Stattdessen findet man hier bewegliche und sich drehende Scheiben, die man an das jeweilige Training anpassen kann.

Jessica bindet ihre Haare zum Pferdeschwanz und folgt Jusuf, wobei sie seinen muskulösen Rücken betrachtet. Jusuf war immer sportlich, doch in den letzten Monaten hat er mehr Zeit im Kraftraum zugebracht als gewöhnlich. Den Anstoß zum aktiven Training gab vermutlich seine Krankschreibung, die von Ende Februar bis in den Mai dauerte und während der seine langjährige Beziehung in eine Sackgasse geriet.

Seit Jusuf seine Arbeit wieder angetreten hat, ist er zurückhaltend und distanziert. Vielleicht ist die Trennung der Grund. Oder das, was im Februar in Kulosaari geschehen ist. Wahrscheinlich ist es eine Summe aus beiden oder noch mehr Faktoren.

»Guck doch mal«, sagt er, zieht eine kleine Rolle aus der Tasche und überklebt die Einschusslöcher mit braunen Aufklebern. »Kopf, Kopf, Brust, Kopf, Brust, Kopf …«

Die lakonische Art, wie er die Treffer in der entfernt an einen menschlichen Torso erinnernden Scheibe aufzählt, ist gruselig. Jessica weiß, dass Jusuf nicht er selbst ist und dass es ihm nicht besonders gut geht. Er ist zwar fähig, seine Arbeit zu tun und auch genau genug zu schießen, aber durch das Polizeigebäude geht nicht mehr der alte Jusuf, dessen sprudelndes Lachen mitunter andere im Großraumbüro in der oberen Etage angesteckt hat. Für einen flüchtigen Moment denkt Jessica wehmütig daran, wie sehr sich die Dinge in diesem Jahr verändert haben. Und doch ist vieles gleich geblieben. Nur Erne und Mikael sind nicht mehr da. Beide sind tot, sowohl der Engel als auch der Dämon.

Schweigend kehren sie zum Schießstand zurück.

Jusuf bückt sich, um die Hülsen der Neun-Millimeter-Patronen vom Steinfußboden aufzusammeln. Die Leuchtröhren an der Decke verbreiten die einzige ihnen bekannte Farbe: Klinikweiß.

»Wie geht’s dir, Jessi?«

»Ein seltsamer Morgen. Irgendein besoffener Irrer hat mich beim Joggen angegriffen«, sagt Jessica kopfschüttelnd. Jusuf wirkt plötzlich besorgt.

»O Gott, Jessi. Bist du okay?«

Jessica hebt ihre rechte Hand, deren Fingerknöchel aussehen, als hätte sie sie einige Male gegen eine Backsteinmauer geschlagen. »Ich schon. Aber dem Mistkerl fehlt jetzt mindestens ein Schneidezahn.«

»Du lieber Himmel«, seufzt Jusuf und sieht Jessica prüfend an.

»Ich bin okay«, wiederholt sie nachdrücklich. »Und der Bekloppte wird sicher irgendwo gefunden.«

»Willst du auch schießen?«

»Nein«, antwortet Jessica. Im selben Moment fällt irgendwo auf dem Flur eine schwere Tür zu. Jessica streicht sich die Haare aus der Stirn. »Ich hab vorhin mit Hellu gesprochen.«

»Hauptkommissarin Lappi«, murmelt Jusuf. »Erne hatte Krebs. Die Frau ist Krebs.«

»Ja. Sie scheint mich nicht besonders zu mögen.«

»Die mag bestimmt keinen.«

»Da hab ich aber anderes gehört«, sagt Jessica und legt lächelnd den Kopf schräg.

»Was denn?«

»Dass sie dir immer auf den Hintern starrt, wenn du vorbeigehst. Oder wenn du im Besprechungsraum vom Stuhl aufstehst. Und dass du manchmal nur deshalb aufstehst.«

»Soweit ich weiß, ist sie mit einer Frau verheiratet.«

»Hintern ist Hintern.«

»Na, soll sie gucken. Ich tu mein Bestes«, sagt Jusuf und wischt sich den Schweiß von den Schläfen. Die Adern über den Oberarmen, die unter dem T-Shirt hervorlugen, treten durch das neue Trainingsprogramm und die Diät stärker hervor. Jessica hofft, dass Jusuf es mit dem Krafttraining nicht übertreibt. Leichtes Pumpen und Geschmeidigkeit passen besser zu ihm als breite Schultern und steife Riesenbizepse.

»Du bist doch jetzt frei, oder?«, fragt Jessica.

»Frei?«

»Ich meine, du hast gerade keine Ermittlungen am Laufen.«

»Ach so, ich dachte, du hättest eine Frau für mich. Nein, nichts am Laufen. Ich hab jetzt ein paar Tage Nina geholfen, einen Baustellenfall aufzudröseln, versuchter Totschlag.«

Jessica betrachtet die auf dem Tisch liegende Waffe und überlegt, ob Jusuf vorhat, noch eine zweite Runde zu schießen.

»Was hast du da?«, fragt Jusuf, der die Mappe unter ihrem Arm offenbar erst jetzt bemerkt. Eine der Hülsen rutscht ihm aus der Hand und rollt über den Boden.

»Die Blogger«, sagt Jessica.

Jusufs Miene hellt sich auf. Er richtet den Blick auf Jessica. »Sag bloß.«

»Du weißt von dem Fall?«

»Natürlich. Alle glauben ja, es wäre ein PR-Trick.«

»Das hatte ich auch gehört.« Jessica reicht Jusuf ihr Handy, auf dessen Display die Instagram-App mit dem Account der 25-jährigen Lisa Yamamoto zu sehen ist.

»Sieh dir den neuesten Post an«, sagt sie und zeigt auf das Bild mit dem Leuchtturm.

Jusuf klickt es an. Jessica beobachtet seine Reaktionen, sie hofft, das vertraute Aufleuchten in seinen Augen zu sehen. Die Verblüffung, die sich auf sein Gesicht legt, ist jedoch nicht so groß, wie sie erwartet hat. Sie will nicht glauben, dass Jusuf gleichgültig geworden ist, wahrscheinlich ist er nur chronisch müde. Jedenfalls ist es, als hätte die Palette seiner Gesichtsausdrücke einige ihrer Farben verloren, die hellsten und reinsten.

»In ewigem Schlaf liegt sie so kalt, Eis und Schnee bedecken sie bald. Was zum Teufel soll das heißen?«

Jusuf gibt ihr das Handy zurück.

»Für sich allein könnte es ein seltsamer Witz sein, Teil eines Pranks. Aber es gibt noch etwas, das hier ist noch merkwürdiger«, sagt Jessica und klickt auf Lisas Profilseite, auf der alle ihre Fotos zu sehen sind. »Sieh dir das an.« Sie zeigt auf die Biographie, die mit dem Pseudonym verlinkt ist.

Lisa Yamamoto

Promi

Blogger/Influencer

R. I. P.

1994–2019