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Jessica richtet den Tisch auf und schiebt ihn an seinen Platz. Sie ist allein im Zimmer, aber die explosive Stimmung liegt weiterhin in der Luft. Immer noch spürt sie das Adrenalin, das durch ihren Körper rauscht. Zu viel action innerhalb kurzer Zeit. Zuerst wurde sie beim Joggen angegriffen, dann auf der Treppe in Töölö. Und jetzt ist sie wieder physisch bedroht worden, von einem 140 kg schweren, wütenden Mann, einem nach seiner Tochter suchenden Vater, den sie mit ihren Fragen auf die Palme gebracht hat.

Jusuf kehrt ins Zimmer zurück und schließt die Tür hinter sich. Er lehnt sich mit verschränkten Armen an die Wand.

»Was zum Teufel war los, Jessica? Bist du okay? Wir hätten ihn festnehmen können«, sagt er ruhig.

»Dafür, dass ihm der Kragen geplatzt ist? Und was dann?«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Ich hab sein Gedächtnis ein bisschen aufgefrischt.« Jessica reibt sich die Schläfen. »Und die Mutter?«

Jusuf schüttelt den Kopf.

»Gar nichts?«, fragt Jessica und setzt sich hin.

»Nein.« Jusuf tritt an den Tisch und legt die Finger um die Lehne des zweiten Stuhls.

Jessica betrachtet die gerahmten Vorschriften an der Wand. Sie informieren darüber, was man in die Koffer packen darf und ab welcher Menge was verzollt werden muss. Man könnte sagen, dass es für Passagiere, die in diesem Raum sitzen, zu spät ist, die Vorschriften zu lesen.

»Hirokazu Yamamoto ist ein ehemaliger Krimineller«, sagt Jessica rasch, als hätte sie kurz den Atem angehalten.

»Hast du das aus Japan erfahren?«

»Nein.«

Jusuf runzelt die Stirn. »Woher denn dann? Hat er dir etwa erzählt, dass er in Japan zur Mafia gehört hat?«

Jessica hebt die rechte Hand, greift nach dem kleinen Finger und tut so, als würde sie ein Stück davon abschneiden.

»Yubitsume. Ein alter Brauch der Kriminellen in Japan. Wenn ein Mitglied der dortigen Mafia, der Yakuza, einen Fehler macht, muss er sich den kleinen Finger abschneiden. Der Brauch ist heute wohl nicht mehr so verbreitet, aber Ende der Neunziger war er es bestimmt noch.«

»Ihm fehlt ein Stück vom Finger?«

Jessica nickt. »Anfangs war ich sicher, dass er vor der Polizei geflohen ist. Oder vor dem Finanzamt oder so. Er scheint wahnsinnig viel Geld gehabt zu haben, als er nach Finnland kam. Vielleicht hat er ja die Yakuza übers Ohr gehauen.«

Jusuf setzt sich an den Tisch.

»Ist das Gespenst ein Abgesandter der Yakuza? Hat sie Lisa entführen lassen, um sich an ihrem Vater zu rächen?«, überlegt er. »Vielleicht hält das Gespenst Lisa als Geisel, um ihren Vater hervorzulocken.«

Jessica nickt. »Ich finde, das ist gut möglich.«

»Herr im Himmel.« Jusuf lächelt zufrieden, wird dann jedoch wieder ernst. »Aber warum hat das Gespenst zuerst ein Bild bei Lisa bestellt? Und sie immer wieder angerufen? Und was hat Jason Nervander mit dem Ganzen zu tun?«

»Oder Olga Belousova. Oder Kambo«, sagt Jessica und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.

»Andererseits, wenn das alles stimmt … Wenn das Gespenst wirklich hinter Lisas Vater her ist, müssen wir ihn im Auge behalten! Jetzt kann es ja …« Jusuf zeigt mit dem Daumen zur Tür.

»Tun wir ja«, antwortet Jessica und hebt den Kopf.

Jusuf breitet fragend die Arme aus.

»Ich hab Leute von der Sicherheitspolizei vor das Terminal bestellt«, erklärt Jessica. »Sie observieren Hirokazu den ganzen Tag.«

Jusuf nickt beeindruckt. Er holt eine Schachtel aus der Tasche und steckt sich ein paar Pfefferminzdrops in den Mund. »Woher wusstest du es?«

»Was?«

»Dass bei Lisas Vater was faul ist.«

Jessica antwortet nicht.

»Hallo? Was hat dieser Frank Dominis dir gestern erzählt?«

»Er hat gesagt, dass Hirokazu versucht hat, Lisa unter Druck zu setzen, damit sie die sozialen Medien aufgibt. Es schien mir irgendwie klar, dass er irgendwas zu verheimlichen hat. Lisas Job ist in seinen Augen zu öffentlich. Und zu riskant«, sagt Lisa und steht auf.

Sie überlegt, ob sie den Fußboden putzen sollten, bevor sie das Zimmer wieder dem Zoll überlassen.

»Das hat Dominis gesagt? Und er wusste es, weil …«

»Lisa hatte es ihm anvertraut.«

Jusuf schlägt triumphierend die Hände zusammen. »Dominis hat Lisa gefickt.«

»Angeblich nicht.«

»So naiv kannst du nicht sein, Jessi.«

»Ob Dominis und Lisa miteinander geschlafen haben, ist ihre Privatsache. Wir müssen jetzt weiterarbeiten«, sagt Jessica und geht zur Tür.

Kopfschüttelnd folgt Jusuf ihr auf den Flur.

»Verdammt nochmal. Du hast dich auf die dunkle Seite begeben, Jessi. Das Scheusal hat dich im Griff!«, lacht er, aber Jessica hört ihm nicht zu. Sie hat Tim Taussis Nummer gewählt und hält sich das Handy ans Ohr. Nach einer Weile meldet er sich mit müder Stimme.

»Jessica Niemi hier.«

»Ich weiß. Ich habe Ihre Nummer gespeichert. Bei unbekannten Anrufern melde ich mich nicht«, sagt Tim Taussi. Er klingt, als würde er gleichzeitig Dehnungsübungen machen.

»Eine kurze Frage: Auf Ihrem Instagram ist ein Selfie von Ihnen und Lisa. Von September.«

»Was ist damit?«

»Wo wurde es gemacht?«

»Bei Lisa.«

»In Töölö?«

»Ja, in ihrem Zimmer. Was hat das mit irgendwas zu tun? Brauch ich einen Anwalt?« Tim Taussi lacht auf.

»Nein. Vorläufig nicht«, sagt Jessica und legt auf.

Sie gehen durch das Terminal zum Ausgang. Jusuf muss sich beeilen, um mit Jessica Schritt zu halten.

»Wer war das?«

»Der Slim Shady des Nordens.«

»Kex Mace’s? Gibt’s was Neues?«

Jessica bleibt bei den Schiebetüren stehen und betrachtet die Männer in gelben Westen, die draußen den Taxiverkehr dirigieren.

»Ich hab gestern auf seinem Instagram ein Foto von ihm und Lisa gefunden. Darauf sehen sie irgendwie zu eng miteinander aus. Keine Ahnung, warum es mich gestört hat. Aber ich wollte Kex selbst danach fragen.«

»Jessica, auf Fotos zu posieren gehört für die Typen zum Beruf. Daraus kannst du keine …«

»Ich weiß, aber der Rapper hat mich trotzdem gerade angelogen. Er hat gesagt, das Foto wäre in Lisas Zimmer gemacht worden, aber das hat weiße Wände, keine dunklen«, entgegnet Jessica und zeigt Jusuf das Foto. Er betrachtet es, wirkt aber nicht überzeugt.

»Ziemlich wacklig, Jessi. Außerdem hat du doch selbst gesehen, dass bei Lisa und Essi massenhaft weiße Farbe rumsteht. Wahrscheinlich hat sie die Wände in der Zwischenzeit gestrichen«, meint er. Jessica merkt, dass sie wütend ist, weiß aber nicht, auf wen.

»Rasse kann es auch bei diesem Bild mit seinem Metazauber versuchen«, sagt sie und geht hinaus.