Anhand von Ninas Beschreibung erkennt Jessica den Mann schon von Weitem. Allerdings wirkt Nikolas Ponsi in ihren Augen nicht ganz so klein, wie Nina gesagt hat. Er trägt einen langen Talar, unter dem schwarze Schuhe mit Gummisohlen hervorschauen. Unter den Arm hat er sich einen schwarzen Mantel geklemmt.
Ponsi steht ganz oben auf der Steintreppe an der Südwand der Kirche von Kallio, von wo man anderthalb Kilometer weit über die Straßen bis zum Universitätshügel sieht.
»Jessica Niemi, Kriminalhauptmeisterin«, sagt Jessica und gibt ihm die Hand.
»Richtig, deine Kollegin habe ich ja schon kennengelernt. Ist es okay, wenn wir uns duzen?«
»Klar. Danke, dass du so kurzfristig Zeit für mich hast.«
»Kein Problem, allerdings fängt gleich der Gottesdienst an.«
»Es dauert nicht lange. Und ich muss von Anfang an eine ehrliche Antwort bekommen, auch wenn sie eventuell gegen die Schweigepflicht verstößt.«
Nikolas Ponsi wirkt peinlich berührt. Er blickt zum Himmel auf, von dem Eisregen fällt, und schlüpft in seinen Mantel.
»Worum geht es?«, fragt er und steigt die Treppe hinunter, als wolle er auf Distanz von dem heiligen Gebäude gehen. Vielleicht wird es dann nicht an die Ohren seines Herrn dringen, dass er über Jasons Angelegenheiten spricht.
»Bei der Polizei verlassen wir uns nicht auf Gerüchte, gerade darum muss ich dich direkt danach fragen«, erklärt Jessica und folgt dem Mann. »In welcher Eigenschaft hast du Jason kennengelernt, als Pfarrer oder als Sexualtherapeut?«
Ponsi beißt sich auf die Lippe.
»Wir wissen, dass Jason Atheist ist«, fügt Jessica hinzu.
»Als Sexualtherapeut«, antwortet Ponsi. »Aber in die Einzelheiten werde ich auf keinen Fall gehen.«
»Na gut«, sagt Jessica. »Gesetzt den Fall, ich würde deine Ansicht als Sexologe brauchen – nicht auf Nervander bezogen, sondern allgemein – könntest du mir dann helfen?«
Nikolas Ponsi sieht Jessica an, als hätte sie ihm gerade eine Falle gestellt.
»Außerdem dachte ich, dass Gottesdienste nur sonntags stattfinden«, fährt sie fort und nickt zur Kirche hin. »Du hättest eine bessere Ausrede erfinden sollen.«
Ponsi wirkt betroffen.
»Es tut mir leid«, sagt er schließlich mit gesenktem Kopf. »Aber ich habe das Gefühl, dass ich falsch handle, wenn ich mit der Polizei über etwas spreche, was ein junger Mensch mir anvertraut hat.«
»Das verstehe ich. Aber wenn wir auf allgemeiner Ebene über das Thema sprechen …«, schlägt Jessica vor, während Ponsi auf eine Parkbank zeigt. Sie setzen sich.
»Über welches Thema?«
»Fetischismus«, sagt Jessica. Ponsi verzieht keine Miene. »Kennst du dich damit aus?«
Er nickt und richtet den Blick auf die Straße, wo ein langbärtiger Penner steht und lauthals den Teufel anruft.
»Fetischismus. Witzig, dass du jemanden danach fragst, der sowohl Sexologe als auch ein Mann der Kirche ist. Ich habe nämlich einen Fetisch hier unter meinem Hemd.« Ponsi lacht auf, als er Jessicas verwunderten Blick bemerkt. »Das Wort Fetisch war ursprünglich die Bezeichnung für einen Zaubergegenstand oder ein heiliges Objekt, wie dieses hier«, erklärt er und zieht ein goldenes Kreuz unter seinem Talar hervor.
»Auch bei sexuellem Fetischismus, den du sicher meinst, handelt es sich um das Interesse an einem Gegenstand, wobei das Interesse sich allerdings auch zum Beispiel auf einen Körperteil oder eine andere Eigenschaft richten kann. Das Spektrum ist sehr breit.«
»Auch auf die Kleidung?«
»Zum Beispiel.«
»In gewisser Weise sind Fetische also ein normaler Bestandteil der menschlichen Sexualität?«
»Ganz so simpel ist es nicht«, meint Ponsi und streicht sich über den Bart. »Man kann wohl von Dingen sprechen, die generell als sexuell erregend gelten. Das sind zum Beispiel bei Frauen Brüste und Beine, bei Männern Bauchmuskeln und Bizeps. Aber manchmal sind die Gegenstände des Fetischismus so speziell, dass die große Mehrheit sie als seltsam betrachtet. Und deshalb hält der Besitzer seinen Fetisch oft absolut geheim. Ein Beispiel für eine eher seltsame, wenn auch sehr häufige Spielart ist der Windelfetischismus, bei dem ein erwachsener Mensch eine Windel trägt, um sich sexuelle Befriedigung zu verschaffen.«
»Und das gibt es oft?«, fragt Jessica stirnrunzelnd.
»Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wie oft«, antwortet Ponsi.
»Als Sexualtherapeut bist du also vielen Menschen begegnet, deren Vorlieben vom Mainstream abweichen.«
Ponsi nickt nachdrücklich und schlägt die Beine übereinander. »Wie soll ich es ausdrücken … Abweichung ist nicht ganz das treffende Wort. Ich habe meine Ausbildung zum Sexologen 1999 abgeschlossen. Damals war die Welt anders als heute, wie du dich sicher erinnerst. Die sexuellen Minderheiten waren absolute Randgruppen, und meine Aufgabe bestand weitgehend darin, Gesprächspartner zu sein und die jungen Leute davon zu überzeugen, dass mit ihnen alles in Ordnung ist. Dass sie so sein dürfen, wie sie sind. Denk nur daran, dass gerade Fetischismus in Finnland bis 2011 als Krankheit klassifiziert wurde, ebenso wie Sadomasochismus und Transvestitismus. Es kam also vor, dass Menschen verzweifelt nach Medikamenten gegen etwas suchten, das auf keinen Fall eine Behandlung erfordert hätte. Das ist wirklich schlimm für die geistige Gesundheit und das Selbstbild.«
Jessica sieht Ponsi in die Augen, doch sie sind völlig neutral. Er hat gerade den Sadomasochismus erwähnt, doch nichts deutet darauf hin, dass ihm ungewollt etwas entschlüpft wäre. Vielleicht weiß er einfach nicht alles über Jason Nervanders Vorlieben. Vielleicht ist die ganze Sache für die laufende Ermittlung völlig irrelevant.
Aus ihrer Manteltasche holt sie ein Foto, auf dem das von Lisa Yamamoto gezeichnete Schulmädchen zu sehen ist.
»Und das hier?«, fragt sie.
Nikolas Ponsi greift nach dem Foto, und Jessica hat den Eindruck, dass irgendein Gedanke oder eine Erinnerung ihn einen Augenblick lang gefangen nimmt.
»Was … Was ist damit?« Er reicht ihr das Bild zurück.
»Bist du beruflich auf Manga-Fetischismus gestoßen?«
»Ich denke schon.«
»Ist er weit verbreitet?«
»Meines Wissens ist er in Asien üblicher als hier.«
»In der Manga-Kunst werden oft Schulmädchen dargestellt. Verbindet sich mit dem Manga-Fetischismus eine Art pädophile Nuance?«
Ponsi blickt wieder in die Ferne. Der Penner ist verschwunden, aber sein Gebrüll schallt noch gedämpft zu ihnen herauf.
»Ich würde sagen, es geht nicht um Pädophilie. Eher um Ephebophilie, also um sexuelles Interesse an jungen Menschen an der Schwelle zur Volljährigkeit. Dafür gibt es einen gewaltigen Markt, wenn man bedenkt, wie viel Pornografie unter den Stichworten young und teen verkauft und angeschaut wird. Über das Thema gibt es viele interessante Untersuchungen.«
»Sind die auf Manga-Kunst fixierten Ephebophilen ausschließlich Männer?«
Ponsi schüttelt den Kopf. »Zum überwiegenden Teil ja, aber auch Frauen haben vielerlei Vorlieben. Manchen Schätzungen zufolge stellen Frauen auch ein Fünftel aller Pädophilen.«
Jessica denkt eine Weile über das Gehörte nach, dann steckt sie das Foto wieder in die Tasche.
»Danke, dass du dir die Zeit genommen hast«, sagt sie. »Und vergiss nicht: Wenn du etwas weißt, das im besten Fall dazu beitragen kann, ein Menschenleben zu retten, bist du gesetzlich verpflichtet, es uns mitzuteilen.«
Nikolas Ponsi sieht traurig lächelnd Jessica an und nickt. »Das weiß ich nur zu gut, glaub mir.«
Er wendet den Blick ab, was Jessica die Gelegenheit gibt, sein zerfurchtes Gesicht zu mustern. Die Narben an seinen Wangen sind klein, aber tief. Vermutlich hat er irgendwann unter schwerer Akne oder Pocken gelitten. Der Bart passt schlecht zu seinem kleinen Gesicht, was die Vermutung nahelegt, dass er ihn sich als eine Art Maske stehen lässt, um die Narben zu verdecken.
»Jetzt muss ich gehen.«
»Natürlich«, sagt Jessica. Ponsi steht auf, zieht sich die Kapuze über den Kopf und geht die Granittreppe hinauf. Als Jessica ihm nachblickt, sieht sie unter seinem Talar die Lederschuhe hervorblitzen, deren Gummisohlen auffällig dick sind. Vielleicht sollen sie dem Mann Selbstsicherheit verleihen.
Sie holt ihr Handy aus der Tasche, um Rasmus anzurufen, aber im selben Moment ruft er bei ihr an.
»Hallo, ich wollte dich gerade …«
»Wir haben Informationen über Lisas Handy.«