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Jessica stützt sich auf Rasmus’ Schreibtisch und klopft mit den Fingern darauf. Auf dem Tisch stehen zwei Monitore und einige Plastikfiguren, am Wandschirm ist ein gerahmtes Bild befestigt, das einen Mann in viktorianischer Kleidung zeigt, auf dessen Hals anstelle des Kopfes ein Bündel Tintenfischarme sitzt. Was soll das, Rasse?

»Hast du was gefunden?«, fragt sie ungeduldig und merkt, dass das Pfefferminzkaugummi seinen Geschmack verloren hat. Eigentlich mag sie kein Kaugummi, aber vor lauter Aufregung hat sie zugegriffen, als Jusuf ihr vor fünf Minuten auf dem Flur seine Packung hingehalten hat.

»Was willst du zuerst, die gute oder die schlechte Nachricht?«

»Ganz egal, Rasse. Nun schieß schon los.«

»Die schlechte Nachricht ist, dass Lisas Handy nicht eingeschaltet ist. Über den Operator erfahren wir zwar, mit welcher Funkzelle es zuletzt verbunden war, aber das dauert etwas.«

»Immer dieselbe Leier! Verdammt nochmal, wir warten jetzt schon fast zwei Tage auf Informationen von den Operatoren und von Facebook«, schimpft Jessica.

»Die gute Nachricht«, sagt Rasmus schnell, als stünde er einer impulsiven und seiner Erklärungen überdrüssigen Kleopatra gegenüber und müsse sich beeilen, um nicht den Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden, »ist, dass wir über das Prepaid den IMEI bekommen haben, den International Mobile Equipment Identity-Code. Es handelt sich um ein Nokia 3210 aus dem Jahr 1999. Außerdem habe ich beim Operator eine Liste der ein- und ausgegangenen Anrufe bestellt, die wir in allernächster Zeit bekommen sollten.«

»Das ist tatsächlich eine gute Nachricht«, seufzt Jessica, während Rasmus ein Bild von einem alten Nokia-Handy auf den Bildschirm holt. So eins hat sie vor langer Zeit auch besessen. Gilt das nicht für fast alle?

»Und das ist noch nicht alles«, fährt er fort und tippt irgendetwas ein. »Ich habe über Lisas masayoshi.fi-Seite nachgedacht. Und darüber, dass sie sich wirklich angestrengt hat, um den gesamten Inhalt von der Seite zu entfernen. Das wurde so gründlich getan, dass es unmöglich ist, den Inhalt wiederherzustellen, was auch immer es war. Aber dann …«

»Was?« Jessica zieht einen Bürostuhl vom benachbarten Schreibtisch heran und setzt sich.

»Ach, die Sache war so einfach. Ich hatte viel zu kompliziert gedacht. Wir brauchen nichts wiederherzustellen oder Daten zum Leben zu erwecken. Im Internet gibt es Lösungen, die gerade für solche Situationen geschaffen wurden: eine Art Zeitmaschinen«, erklärt Rasmus lächelnd.

»Zeitmaschinen?« Jessicas Knie bewegen sich unruhig, und ihre Fersen trommeln auf den Boden. Die Spannung hat ihren Körper erfasst: Die Lösung scheint ganz nah zu sein.

»Oder eher Fotoalben aus vergangenen Zeiten. Eine Seite namens archive.org scannt Webseiten und sammelt zu verschiedenen Zeitpunkten ihre Daten. Guck mal.« Als Rasmus archive.org eintippt, erscheint in großen Buchstaben der Text Internet archive wayback machine auf dem Bildschirm. Rasmus gibt www.masayoshi.fi in das Suchfeld ein.

»Das Programm hat die Seite also einige Male jährlich so gespeichert, wie sie zu dem Zeitpunkt war?«, fragt Jessica.

»Genau. Ich kann den Juni dieses Jahres wählen und mir anschauen, wie die Seite damals ausgesehen hat. Was Lisa danach entfernt hat, spielt keine Rolle, das hier ist wie das Foto von einer toten Person«, erklärt Rasmus.

»Das Internet vergisst nichts«, flüstert Jessica beeindruckt. Plötzlich wird das, wovor so viele warnen, vollkommen konkret. Wenn du etwas ins Netz stellst, ist es für immer und ewig dort.

»Guck mal.« Auf dem Monitor erscheinen Fotos von jungen Frauen.

»Was zum Teufel«, murmelt Jessica leise, während Rasmus mit der Maus nach unten scrollt und weitere junge Frauen sichtbar werden, die in die Kamera lächeln und alle ähnlich gekleidet sind: in Manga-Kleidung.

»Das ist ein Katalog«, sagt Rasmus und rückt seine Brille zurecht. »Und das da, die dritte von links, ist Olga Belousova.«