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Jessica steigt aus dem Auto und betrachtet den großen Garten. In der Mitte ist ein Gemüsebeet, dahinter steht ein großes hellgelbes Blockhaus. Ein überdachter Grillplatz, ein Gewächshaus und ein Whirlpool. Den Garten bedeckt eine dünne Schneeschicht, die aber immer noch beeindruckender ist als das bisschen Weiß im Hauptstadtgebiet.

Zwei dumpfe Töne sind zu hören, als sie die Autotüren fast synchron zuschlagen.

»Das Reinigungsgeschäft scheint einiges abzuwerfen.« Jusuf steckt sich, seinem Laster getreu, eine Zigarette an. »Für das hier schuftet man sich ab.«

»Bis man sich die Schrotflinte in den Mund steckt?« Jessica tritt zur Seite, um dem Qualm zu entfliehen.

Im Hinterland ist die Luft trockener und kälter und riecht sauberer als in Helsinki. Am Haus läutet eine Windharfe, und die Umgebung wirkt weihnachtlich. Doch der Grund für ihren Besuch drückt auf die Stimmung.

»Ihr wart schnell«, sagt eine Stimme hinter ihnen. Aus dem Streifenwagen, der am anderen Straßenrand parkt, ist jemand ausgestiegen. Etwas weiter weg sieht Jessica den Wagen der Sicherheitspolizei. Ironischerweise sind die Männer, die darin sitzen, erst auf die Situation aufmerksam geworden, als die Einsatzfahrzeuge, die die Notrufzentrale losgeschickt hat, vorfuhren.

»Hauptmeister Teppo Kajo«, sagt der leicht gekrümmt gehende, schnurrbärtige Mann in Zivilkleidung und streckt die Hand aus. Um seinen Hals hängt der Dienstausweis der Polizei von Järvenpää. »Die Frau ist im Haus«, fährt er fort und putzt sich mit einem blauen Taschentuch die Nase. Obwohl er allem Anschein nach verschnupft ist, hat er es für angebracht befunden, die Ankömmlinge mit Handschlag zu begrüßen. Jessica wischt sich verstohlen die Hand am Mantel ab. Die Haut unter der Nase des Mannes ist vom vielen Schnäuzen trocken und schorfig.

»Lebt der Mann?«

»Ja. Aber sein Zustand ist kritisch«, sagt Kajo und runzelt die Stirn, die ohnehin schon zerfurcht ist.

Jessica und Jusuf betreten das große Wohnzimmer, durch dessen riesige Fenster man den Garten und dahinter die Straße sieht, an der sie geparkt haben. Die aus langen Balken gebauten Wände sind voll von Wandteppichen, Ziergegenständen, Fellen und ausgestopften Tierköpfen. Paula Yamamoto sitzt auf einem ausladenden Sofa unter einem wütend die Zähne fletschenden Wolfskopf. Dem Anblick scheint eine seltsame Symbolik innezuwohnen.

»Hirokazu lebt«, sagt Jusuf beruhigend und tritt einen Schritt näher.

»Ich müsste bei ihm sein«, antwortet die Frau mit bebender Stimme und betrachtet ihre blau lackierten Fingernägel.

Jusuf schüttelt den Kopf und nähert sich langsam dem Sofa. Er hat Paula am Flughafen befragt, sie kennt seine weiche Stimme.

»Im Moment können Sie nichts für ihn tun«, sagt er. Traurig und verwirrt blickt die Frau auf. Aus glasigen Augen sieht sie Jusuf unsicher an, erhebt aber keinen Widerspruch.

»Entschuldigung«, sagt Jessica laut genug, dass die Frau sie hören muss. »Ich werfe mal einen Blick in das Zimmer, in dem …« In das Zimmer, in dem Ihr Mann sich in den Kopf geschossen hat, denkt sie und hofft, dass sie die letzten Worte nicht auszusprechen braucht.

Die Frau nickt und deutet auf die Tür neben der Küche.

Als Jessica an der Küche vorbeigeht, steigt ihr Meeresgeruch in die Nase. Auf dem Tisch sieht sie ein Küchenbrett mit einem aufgeschnittenen Fisch, den Paula wohl gerade zubereiten wollte, als im Arbeitszimmer ein Schuss fiel. Die Wände sind voller Kunstwerke, aber anders, als man glauben würde, sind keine Gemälde von Lisa darunter.

Am Ende des Flurs steht eine Tür offen.

Jessica zieht blaue Schutzhüllen aus der Tasche, zieht sie über die Schuhe und betritt das Arbeitszimmer. Das Blut auf dem gemusterten Teppich sieht beinahe so aus, als ob es dazugehört, als ob es Teil des Musters wäre. Rechts vom Schreibtisch liegt ein Jagdgewehr auf dem Boden, auf den ersten Blick ein Sako Bespoken oder Prestige. Das Merkwürdigste an dem Ganzen ist vielleicht, dass Hirokazu, der sich als ehemaliger Krimineller garantiert mit Waffen auskennt, sich den Lauf in den Mund geschoben und abgedrückt hat, aber immer noch lebt.

Jessica geht über den blanken Fußboden neben dem Teppich, um nicht auf das Blut zu treten, das aus dem Kopf des Mannes geströmt ist. Die Sanitäter waren natürlich nicht so vorsichtig, aber das ist kein Grund, nachlässig zu sein. Unvorsichtigkeit kann man sich nie leisten, Jessica. Das hat Erne immer gesagt.

Auf dem Schreibtisch aus massivem Eichenholz liegt ein dicker Stapel Briefe. Zwei Wochen in Brasilien. Geöffnete Umschläge und Rechnungen. Obenauf ein Briefbogen und ein offener schwarzer Umschlag.

Jessica greift nach dem Bogen und entfaltet ihn.

japanisch.jpg

Rasch macht sie ein Foto von dem Brief und schickt es an Rasmus. Übersetz das sofort, please!

Sie wartet, bis er die Nachricht bestätigt, und steckt das Handy in die Manteltasche. Sie betrachtet die Schriftzeichen, von denen sie angesichts der Umstände annimmt, dass es japanische sind. Einige der mit dunkelblauer Tinte geschriebenen Zeichen sind leicht verwischt, als hätten sie sich mit Wasser vermengt. Und da begreift sie, dass Tränen die Tinte verlaufen ließen. Hirokazus Leid hat die Schriftzeichen zum Leben erweckt.