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Jessica steckt den Brief in die Tasche und kehrt ins Wohnzimmer zurück. Es kommt ihr vor, als wäre der Fischgeruch in der Küche in den wenigen Minuten intensiver geworden, ihre Sinne sind aufs Äußerste gespannt. Paula Yamamoto spricht ruhig und leise, Jusuf macht sich Notizen.

»Entschuldigung«, sagt Jessica. »Wir gehen gleich. Wenn ich richtig informiert bin, kommt jemand zu Ihnen.«

»Eine Freundin.« Paula wischt sich eine Träne von der Wange. »Zuerst verschwindet Lisa, und jetzt das … Ich will nicht allein sein.«

Jessica geht langsam zum Sofa und sieht, dass der Kamin brennt. Offenbar hat Jusuf Feuer gemacht, um ein wenig Wärme in das Zimmer zu bringen. Nur jemand, der auf dem Land geboren ist, kann das Kaminholz so schnell zum Brennen bringen.

Jessica spürt den Brief in der Gesäßtasche ihrer Jeans. Sie weiß nicht, ob Paula ihn gesehen hat, als sie ihren Mann auf dem Fußboden seines Arbeitszimmers gefunden hat. Und wenn ja, ob sie ihn gelesen und verstanden hat. Es ist vielleicht besser, den Brief nicht zu erwähnen, solange sein Inhalt unbekannt ist.

»Wir wissen jetzt alles Wesentliche«, sagt Jusuf und steht auf.

»Verstehen Sie Japanisch?«, wendet Jessica sich an Paula. Jusuf sieht sie fragend an.

Paula Yamamoto richtet ihren erschrockenen Blick auf Jessica.

»Wieso?«

Jessica wiederholt ihre Frage nicht und präzisiert sie auch nicht. Nach kurzer Stille antwortet Paula mit bebender Stimme: »Nein. Ich habe es nie gelernt. Hiro spricht immer Finnisch. Anfangs natürlich etwas mehr Englisch, aber … Nie Japanisch. Er will es nicht sprechen. Es ist ein Teil seiner Vergangenheit, an die er sich nicht erinnern möchte.«

»Wie ist das Verhältnis zwischen Hirokazu und Lisa?«, fragt Jessica. Paula Yamamoto sieht sie an, als hätte sie die Frage nicht verstanden. Sie blickt auf ihre Hände, die immer noch zittern. Doch dann geht eine Veränderung in ihr vor, als hätte sie sich plötzlich anders besonnen.

»Nicht besonders gut. Sie haben kaum etwas miteinander zu tun. Es gibt irgendwelche Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen, die ich nie verstanden habe«, antwortet sie.

»Sie sprechen kein Japanisch, haben Sie gesagt.« Jessica zieht den Brief aus der Tasche. »Dann verstehen Sie also nicht, was hier steht.«

Verblüfft betrachtet Paula Yamamoto die Kanji-Schriftzeichen auf dem weißen Papier. »Nein. Was ist das?«

»Diesen Brief habe ich auf dem Schreibtisch Ihres Mannes gefunden. Dem Stempel nach wurde er vorgestern abgeschickt. Hirokazu muss ihn also nach Ihrer Rückkehr gelesen haben.«

»Was steht da?«, fragt die Frau leise. Ihre gepresste Stimme klingt besorgt. Und dann beginnen ihre Hände noch heftiger an zu zittern. »Sagen Sie mir, was da steht!«

»Das wissen wir noch nicht«, antwortet Jessica. »Aber ich fürchte, dass es irgendwie mit Hirokazus Selbstmordversuch zu tun hat.«

Im selben Moment hört sie den Signalton ihres Handys im Mantel. Sie steckt die Hand in die Tasche, ohne die schluchzende Frau Yamamoto aus den Augen zu lassen, die gerade die leider allzu selbstverständliche Gleichung gelöst hat. Hirokazu hat schlechte Nachrichten bekommen. So schlechte, dass er in der Abenddämmerung in Järvenpää seinem Leben ein Ende setzen wollte.

Jessica öffnet die Nachricht. Sie stammt von Rasmus.

Und obwohl sie es schon seit mehreren Minuten geahnt hat, wird es erst jetzt konkret, als sie Paula Yamamotos wachsenden Schmerz sieht.

Wir haben das Mädchen gefunden.

Wir haben das Mädchen benutzt.

Wir haben das Mädchen getötet.

(Und ihren Freund.)