Mit dem Schlüssel in der Hand bleibt Jessica vor der Haustür stehen. Jahrelang ist sie durch diese Tür gegangen, hat das schmale Treppenhaus und den engen, kleinen Lift betreten, der sie zu ihrer Einzimmerwohnung im sechsten Stock gebracht hat. Die Wohnung war eine Kulisse und die Tür zum Treppenaufgang C eine Art Tor zu der Welt, an die sie die anderen glauben lassen wollte. Wäre die Illusion zerbrochen, wenn jemand sie beobachtet oder zufällig gesehen hätte, dass sie das Haus durch eine andere Tür betrat?
Ist sie selbst die Zauberkünstlerin, von der ihre Mutter gesprochen hat? Und sind die Türen zu den Treppenaufgängen zwei Karten, von denen die eine nur zur Täuschung dient?
Jessica schüttelt den Schlüsselbund und nimmt einen anderen Schlüssel in die Hand. Es ist ebenfalls ein Schlüssel mit schwarzem Griff, aber nicht mit einem blauen, sondern mit einem gelben Anhänger markiert.
Sie steigt die Stufe, die zur Tür führt, wieder herunter und geht weiter zur Kreuzung von Museokatu und Töölönkatu, zu einer anderen Tür. Sie steckt den Schlüssel ins Schloss und steht gleich darauf in dem weitläufigen Treppenhaus, das sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat, an dessen musealen Geruch sie sich aber immer noch erinnert.
Jetzt brauchst du nichts mehr vorzutäuschen, Jessica. Keinem mehr, mein Schatz.
Die Tür fällt zu, und Jessica geht vorsichtig weiter, als wäre sie in einer mittelalterlichen Kirche, in der ein Unsichtbarer über jeden Schritt des Ankömmlings zu wachen scheint.
In diesem Treppenhaus würde sie niemand erkennen, obwohl sie die größte Wohnung im ganzen Gebäude und die benachbarte Einzimmerwohnung besitzt. Sie ist die mysteriöse Jessica von Hellens, die sich bei den Sitzungen der Wohnungseigentümer seit Jahren von einem Juristen vertreten lässt.
Kein Hereinschleichen durch den Treppenaufgang C mehr. Keine Einzimmerwohnung mehr.
Jessica öffnet die Aufzugtür.
Ihr Handy klingelt wieder, Jusuf hat schon vier Mal angerufen.
Sie muss sich melden, Jusuf soll es unbedingt von ihr selbst erfahren.
»Hallo, Jusuf«, sagt Jessica und merkt, dass der Kloß in ihrem Hals beim Sprechen größer wird.
»Wo bist du abgeblieben, Jessica?«
Jessica hört, wie Jusuf den Rauch seiner Zigarette auspustet.
»Ich bin nach Hause gegangen, Jusuf, weil …«
»Vor einer Stunde hat mich eine Augenzeugin angerufen, die gesehen hat, wie eine dunkel gekleidete, nicht sehr große Gestalt aus dem Kambo-Studio von Jose Rodriguez gekommen ist, genau um die vermutliche Tatzeit.«
Jessica hört den Eifer in Jusufs Stimme, sie betrachtet die Muster an den Marmorwänden, die so aussehen, als hätte man ein paar Tropfen Tinte in klares Wasser gegossen.
Sie schließt die Augen. »Jusuf …«
»Verdammt nochmal, hör mir zu, Jessi! Gerade eben hat Rasse auf einem Video jemanden entdeckt, der am Dienstag um Viertel nach zwölf an der U-Bahnstation am Tallinn-Platz einen schwarzen Briefumschlag eingeworfen hat. Schwarze Daunenjacke und Kapuze, Cargohose und Springerstiefel.«
»Jusuf …«
»Das Gesicht ist nicht zu sehen, aber die Größe stimmt überein. Circa 165 Zentimeter und ziemlich schlank.«
»Jusuf!«, fällt Jessica ihm ins Wort. Ihre Stimme hallt durch den Aufzug, der Platz für mehr als einen Menschen bietet. Und jetzt verstummt Jusuf endlich. Jessica kann sich seine verdutzte Miene lebhaft vorstellen.
»Ich bin gegangen, weil ich bei dem Fall nicht mehr dabei bin«, sagt sie nach einer kurzen Pause.
»Was redest du da, Jessi?«
»Ich erklär’s dir später.«
»Wieso nicht mehr dabei? Hat Hellu dir was anderes zugeschoben?«
»Ich bin keine Polizistin mehr, Jusuf«, sagt Jessica mit zitternder Stimme.
Dann holt sie tief Luft und drückt die Aufzugtaste. Sie muss sich zusammenreißen.
»Wieso bist du …«
»Sag den anderen noch nichts davon. Ich will es ihnen morgen selbst erzählen«, sagt Jessica und legt auf.
Sie wischt sich über die Augen. Jusuf hätte eine bessere Erklärung verdient. Er hätte es verdient, die ganze Wahrheit zu erfahren. Vielleicht wird sie ihm alles erzählen, nachdem sie eine Nacht darüber geschlafen hat.
In dem Moment, als der Aufzug im sechsten Stock anhält, wird Jessica klar, dass sie, so sehr der Bruch auch schmerzt, nun endlich frei ist. Ab jetzt kann ihr niemand Befehle erteilen oder ihr Tun kontrollieren. Sie ist frei, aber einsamer als je zuvor. Und heute kann sie nicht in ihrer eigentlichen Wohnung übernachten, denn gerade jetzt erinnert sie dort zu viel an Erne und an die große Leere, die sein Tod in ihrem Inneren hinterlassen hat.
Der Aufzug ruckelt wieder nach unten. Jessica scrollt auf ihrem Handy durch ihre Kontakte und wählt den einzigen Menschen, der ihr aufgewühltes Gemüt vielleicht beruhigen kann.