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»Du bist heute aber elegant«, sagt Jessica, als Frank Dominis an ihrem Tisch stehenbleibt. Er trägt ein blaues Hemd mit Krawatte zum dunklen Anzug. Sie spürt ihr Herz auf eine Art schlagen, die sie seit längerer Zeit nicht mehr erlebt hat.

Frank Dominis macht eine übertrieben verdutzte Miene und zieht das Jackett aus.

»So ziehe ich mich immer an, wenn der Club geöffnet ist«, sagt er. »Das ist meine Uniform in der Nacht.«

»Natürlich. Allerdings hast du gesagt, heute wäre dein erster freier Abend seit … seit zwei Jahren?«

»Ich hatte gerade ein Treffen mit den Besitzern des Fenix. Sie haben vor, zwei weitere Restaurants zu eröffnen, in Helsinki und in Turku. Und sie möchten, dass ich beide Projekte leite«, erklärt Dominis lächelnd, öffnet die Manschettenknöpfe und rollt die Ärmel auf. »Offenbar beherrsche ich mein Geschäft.«

»Herzlichen Glückwunsch, Frank«, sagt Jessica und winkt der Kellnerin. »Auch das muss gefeiert werden.«

»Auch das?«

Jessica sieht den Mann an, als wäre ihr etwas Peinliches entschlüpft. »Na, sagen wir es so: Mein Job nähert sich dem Ende.«

»Was heißt das? Ist der Fall geklärt? Ist Lisa …«

»Frank. Ich bin nicht mehr an den Ermittlungen beteiligt.«

Dominis nickt und verschränkt seine Finger auf dem Tisch. Die aufgerollten Ärmel enthüllen seine dunkel behaarten, tätowierten Unterarme.

Jessica bestellt ein Glas trockenen Weißwein, Frank Dominis eine Cola. Aus den Lautsprechern kommt My Place von Nelly, ein Song, den Jusuf neulich als Flirtsong bezeichnet und damit für immer verdorben hat.

»Dann reden wir nicht weiter darüber. Hoffen wir, dass Lisa gefunden wird, ganz gleich, wer den Fall untersucht«, meint Dominis.

»Ich hatte heute ein paar Stunden Zeit, um über Verschiedenes nachzudenken. Dabei haben mich zwei Dinge überrascht.«

»Was denn?«

»Erstens, dass ich das seltsame Bedürfnis hatte, dich anzurufen. Und über dies und das zu plaudern.«

Dominis lächelt sanft. »Ich fühle mich geschmeichelt, detective

»Und das Zweite … Das hat mit dem zu tun, was du gerade gesagt hast.«

»Dass ich mich geschmeichelt fühle?«

»Detective«, sagt Jessica und verdreht die Augen. Die Art, wie Dominis sie ansieht, verrät, dass er genau weiß, wovon sie spricht.

»Meinst du … Das tut mir leid.«

»Egal. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch Ermittlerin oder Polizistin sein möchte.«

Frank Dominis wirkt interessiert. Die Kellnerin bringt die Getränke und zündet die Kerze an, die auf dem Tisch steht. Als Jessica sich umblickt, stellt sie fest, dass auch auf den Nachbartischen Kerzen brennen. Das Kerzenlicht sagt also nichts darüber aus, wie die Bedienung das Verhältnis zwischen ihnen einschätzt.

»Warum möchtest du nicht Polizistin sein?«

»Ich habe im Frühjahr einen guten Freund verloren. Eine Art Mentor. Krebs.«

»Mein Beileid«, sagt Dominis und gießt langsam Cola über die Eiswürfel in seinem Glas, ohne Jessica aus den Augen zu lassen.

»Er war auch Polizist, für mich eine Art Anker in dieser Welt. Und nun, wo er weg ist, weiß ich nicht, ob der Job jemals eine Berufung für mich war. Oder nur eine Art, die Familie in meiner Nähe zu haben. Und mit Familie meine ich die Kollegen, weil …«, Jessica unterbricht sich, sie fürchtet, idiotisch zu klingen, und spürt plötzlich bodenloses Selbstmitleid, »… sie die einzige Familie sind, die mir noch geblieben ist.«

»Denk positiv, Jessica«, rät Dominis. »Es ist schön, dass du ein gutes Verhältnis zu deinen Kollegen hast.«

»Ich hatte es. Vergangenheitsform. Genau das meine ich. Und deshalb ist es wohl Zeit zu gehen.«

Fröhliches Lachen kommt von der Theke.

Frank Dominis grinst: Er hört den Lärm, schenkt ihm aber keine Beachtung. In seiner Welt ist angetrunkener Radau eine Art Hintergrundmusik, die zeigt, dass alles in Ordnung ist. Erst tiefe Stille weckt den Verdacht, dass etwas nicht stimmt.

»Okay, du bist nicht mehr Polizistin. Deshalb hast du dich getraut, mich anzurufen«, lächelt er.

»Wie meinst du das?«

»Wenn du den Fall noch untersuchen würdest, wenn du wirklich das Gefühl hättest, deinem Arbeitgeber etwas schuldig zu sein, hättest du mich nie zu einem Drink eingeladen. Du hättest es für unpassend gehalten.«

»Bilde dir nicht zu viel ein, Frank. Du bist nur als eventueller Augenzeuge befragt worden«, entgegnet Jessica. Frank Dominis lacht.

»Trotzdem. Wissen deine Kollegen – oder besser gesagt, deine ehemaligen Kollegen –, dass du mit mir hier sitzt?«

Jessica antwortet nicht sofort. Sie sieht ihrem Gegenüber eine Weile in die Augen, die Empfindsamkeit und Scharfsichtigkeit verraten. Vielleicht ist gerade Frank Dominis in der falschen Branche gelandet. Sie kann sich gut vorstellen, wie er mit einer Palette vor einer leeren Leinwand steht, in einem weißen Hemd, das Farbspritzer abbekommt, wenn auf der Leinwand ein Universum entsteht.

»Nein«, sagt sie schließlich und belohnt Frank mit einem Lächeln.

»Dann habe ich also recht.«

»Meinst du, ich hätte mich selbst für befangen erklärt? Nur, damit ich dir zusehen kann, wie du an einem Donnerstagabend Limo trinkst?«

»Der menschliche Geist ist seltsam«, sagt Dominis, wischt sich die Mundwinkel an der dunkelroten Serviette ab und fährt fort: »Ich bin sicher, dass du eine wirklich gute Polizistin bist. Aber ich glaube auch, dass du in jedem anderen Job wirklich gut sein kannst, ganz gleich, wofür du dich entscheidest, Jessica.«

Jessica hat zu viel gesehen und erlebt, um sich durch Schmeichelei blenden zu lassen. Dennoch empfindet sie Franks Worte als echt und ehrlich. Schon am Vortag ist ihr der Gedanke gekommen, dass er es nicht nötig hat, ein Spiel zu treiben: Vielleicht haben ihm Siege früher einmal Befriedigung verschafft, doch diese Zeit ist vorbei.

»Moment mal, Frank«, sagt sie und versucht, die weitere Entwicklung zu bremsen, indem sie sich gelangweilt gibt. »Ich glaube, das war das erste Mal, dass du meinen Namen aussprichst.«

Dominis lockert seine Krawatte und verschränkt die Arme. Ein Krankenwagen im Einsatz rast am Restaurant vorbei. Beim leiser werdenden Ton der Sirene denkt Jessica, dass sie gerade hört, wie ihr früheres Leben verschwindet.

»Gone detective

Jessica betrachtet den Mund des Mannes, die rauen Bartstoppeln und das dichte schwarze, an den Schläfen leicht ergraute Haar. Frank und Erne haben tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit, sie sind charismatisch, spröde und ungefähr im gleichen Alter. Zwischen Erne und ihr hat es nie irgendeine romantische Spannung gegeben, aber sie erkennt in ihrem Innern etwas, das sich mit der Zeit zu echter Zuneigung entwickeln könnte. Genau wie früher bei Erne hat sie das Gefühl, dass sie Frank schon vor langer Zeit kennengelernt hat, dass sie sich immer gekannt haben.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich noch so eins brauche«, sagt sie und legt den Finger an den Rand ihres Weinglases.