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Jessica öffnet die Tür zu ihrer Einzimmerwohnung, zieht ihre Schuhe aus und stellt sie unter die Mäntel an der Garderobe.

»Gemütlich«, sagt Frank Dominis. Er bleibt an der Schwelle zum einzigen Zimmer stehen und sieht sich um.

»Findest du? Ich hab schon gemütlichere Wohnungen gesehen.« Jessica geht zum Kühlschrank. »Hier müssten ein paar Flaschen Bier«, beginnt sie, begreift ihre Gedankenlosigkeit und schlägt sich vor die Stirn. »Sorry. Ich hab wieder nicht …«

Frank Dominis lacht freundlich und winkt ab.

»Kein Problem, Jessica. Ich habe mir selbst im Lauf der Jahre immer mal einen doppelten Whisky bestellt, nur um mich dann an die Realität zu erinnern und ihn jemand anderem anzubieten.«

»Mineralwasser?«

»Danke, gern.« Frank zieht seine braunen Lederschuhe aus und stellt sie neben Jessicas.

Jessica holt zwei Gläser aus dem Schrank und füllt beide mit Mineralwasser. Sie nimmt ihr Glas und leert es in einem Zug. Nein, ich brauche jetzt was Stärkeres.

»Ich könnte doch was anderes trinken, wenn es dich nicht stört«, sagt sie. Frank schüttelt lächelnd den Kopf. Er ist zu Jessica gegangen und greift nach dem Wasserglas.

»Eine schöne Aussicht auf den Innenhof«, meint er scheinbar beeindruckt, nachdem er einen Schluck getrunken hat, und zeigt auf das Fenster. Jessica räuspert sich skeptisch. Dieses leere Geschwafel ist sinnlos. Frank Dominis bewirtet seit mehr als zehn Jahren die Elite von Helsinki und hat bestimmt schon alles gesehen, von den exklusivsten VIP-Lokalitäten im Zentrum bis zu den größten Lofts im Stadtteil Eiranranta und den Villen im Vorort Kulosaari. Zweifellos ist er mit Promis in Privatjets geflogen und hat auf Jachten in Monaco gefeiert, wenn auch seinen eigenen Worten nach ohne Alkohol.

Die anspruchslose Einzimmerwohnung kann ihn ganz sicher nicht beeindrucken. Gemütlich. Schöne Aussicht auf den Innenhof. Was für ein Stuss. Sie möchte Frank an die Hand nehmen, ihn durch die Hintertür ins Treppenhaus und von dort in die grandiose Wohnung führen, die vier Millionen wert ist. Ihm zeigen, dass man auch in Polizeikreisen das Leben zu genießen weiß. Sie würde ihn an dem riesigen Wohnzimmer mit den wertvollen Gemälden vorbei zur Treppe ziehen, ihn durch den Aufenthaltsraum im Obergeschoss in das mit schwarzem Teppichboden ausgelegte Schlafzimmer führen, in das Kingsize-Bett, und ihn vögeln, bis er nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Wie sehr würde sie die entgeisterte Miene genießen, die der Kaiser des Nachtlebens aufsetzt, wenn er alles sieht, was Jessica Niemi besitzt und wovon niemand etwas ahnt.

Warum eigentlich nicht? Was hindert sie daran, die Wahrheit zu enthüllen, da ihre Karriere bei der Polizei ohnehin beendet ist? Wozu braucht sie die Kulisse jetzt noch?

Tief drinnen weiß Jessica jedoch, dass sie es nicht tun kann. Sie hat ihre Rolle so lange gespielt, dass eine spontane Eingebung nicht reicht, um die Kulissen zu verbrennen. Das muss stilvoll geschehen, mit genauer Abwägung, ebenso sorgsam wie die Lüge jahrelang aufgebaut und gepflegt worden ist.

Jessica wird aus ihren Gedanken gerissen, als Dominis sein Glas auf die Fensterbank stellt und seine Hand auf ihre Schulter legt.

»Jessica, ich bin nicht sicher … Ich möchte nicht, dass du denkst …«, beginnt er.

»Was meinst du?«, unterbricht Jessica ihn. Die Worte klingen unfreundlicher, als sie gemeint waren. Dominis wirkt überrascht und zieht die Augenbrauen hoch.

»Was?«

»Ja«, fährt Jessica fort, mit strenger Miene, aber in etwas ruhigerem Tonfall. »Was redest du hier von netten Innenhöfen und davon, was du möchtest oder nicht möchtest? Was soll ich nicht denken?«

Frank lacht ungläubig auf. »Wow«, sagt er und lässt seine geraden Zähne sehen.

»Ich bin kein kleines Mädchen.«

»Jessica …«

»Jessica was? Ich dachte, du würdest mir das ganze schleimige Gequassel ersparen.«

Frank lässt ihre Schulter los und tritt einen Schritt zurück. »Sorry. Ich dachte nur …«

»Sorry, sorry. Sorry! Wo zum Teufel steckt Mr. Dominis, der angeblich schlimmste Frauenheld der ganzen Stadt? Derjenige, der neun von zehn vögelt?«

Dominis steht eine Weile still da, die Hände in die Hüften gestemmt, und sieht Jessica an. Dann schnaubt er und macht einen Schritt in Richtung Diele.

»Willst du, dass ich gehe?«

»Du gehst nicht«, sagt Jessica und packt ihn am Kragen. »Du vögelst mich jetzt hier in dieser verschwitzten Bude. Du vögelst eine einsame, künftige Ex-Polizistin, die nicht um neun Uhr allein sein, sondern eine der neun sein will.« Die letzten Worte flüstert sie beinahe. Frank Dominis wirkt erschrocken: Man könnte meinen, sein Ruf als Liebhaber wäre eine aus der Luft gegriffene Geschichte, eine Fantasie, die sich selbst erfüllen soll.

»Du bist verrückt, Jessica.« Dominis legt die Arme um sie. Er hat sich in Sekundenschnelle von seiner Verblüffung erholt, in seinem Blick liegt wieder lockere Selbstsicherheit.

Jessica muss plötzlich lächeln, sie schmiegt sich an den Mann, legt ihr Gesicht an seins, öffnet den Mund und lässt ihre Zunge zwischen seine Zähne gleiten.

Und nun beginnt Dominis endlich, seine Versprechungen einzulösen. Jessica fühlt seine Finger im Nacken, dann wandern sie nach vorn, öffnen die Knöpfe und helfen ihr, die Bluse auszuziehen.

Jessica bekommt eine Gänsehaut. Sie spürt Franks Zunge über ihren Hals wandern und stöhnt erregt auf. Ihr BH wird routiniert geöffnet und landet auf dem Boden, dann hebt Dominis sie hoch und wirft sie auf das Bett.

Als er sein Hemd auszieht, werden sein tätowierter Oberkörper und eine große Narbe am Unterleib sichtbar. Die Muskeln haben schon vor langer Zeit ihre jugendliche Straffheit verloren, aber wie sein Gesicht strahlt auch sein ganzer Körper Erfahrung und jene Sicherheit aus, die nur jemand verströmen kann, der alles gesehen und seinen Anteil an den Schlägen, die die Welt austeilt, empfangen hat. Frank ist wie eine von einem anderen Planeten gekommene Verkörperung von Gerüchen, Geräuschen und Empfindungen, die sich hier und jetzt für Jessica entschieden hat. Nichts anderes zählt. Alles andere ist morgen.

Jessica spürt, wie der Kopf des Mannes über ihren Bauch gleitet und wie ihr Slip verschwindet. Seine weiche, feuchte Zunge kreist um ihre Klitoris, während seine rauen, aber zärtlichen Finger wieder und wieder tief in sie eindringen. Jessica weiß, dass ihr Körper so schnell zum Höhepunkt kommen wird wie seit Langem nicht mehr.

»O Gott«, stöhnt sie, als die Finger des Mannes sich immer schneller in ihr bewegen. »Ich komme gleich …«

»Nein, noch nicht«, sagt Dominis und hört auf, sie zu lecken. »Nicht ohne mich.«

Gewandt wie ein Panther gleitet er auf Jessica, dunkelgraue Haarsträhnen sind über seine Augen gefallen. Und bald spürt Jessica, wie Frank Dominis in sie eindringt, ihre Beine spreizt und sich in rhythmischen Stößen bewegt, von denen keiner genau so ist wie der andere. Dominis erkundet seine Grenzen, wechselt das Tempo und macht zugleich mit dem Daumen da weiter, wo kurz zuvor seine Zunge war.

»Hör nie auf«, flüstert Jessica, als sie spürt, dass der Orgasmus sich nähert. Und dann schlägt er zu, brennend, tief aus der Wirbelsäule, und erobert ihren ganzen Körper, so wie der entsetzliche Schmerz, mit dem Unterschied, dass das, was sie jetzt spürt, nie enden sollte.