Die Ampel springt auf Grün, und Jusuf biegt von der Veturitie auf die Nordenskiöldinkatu ab. Jessica wirft einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk, eine Lady Panthère Vendôme von Cartier. Zwar sticht das Prunkstück aus sechzehnkarätigem Gold, das sie von ihrer Mutter geerbt hat, von ihrem ansonsten eher schmucklosen Stil ab, aber eigentlich ist es nicht einmal besonders teuer. Im Internet hat Jessica herausgefunden, dass man für die Uhr vielleicht zweitausend Euro bekommen könnte, vor allem wegen ihres Vintage-Status. Sicher auch mehr, wenn Jessica verraten würde, wem die Uhr früher gehört hat. Die Namen berühmter Ex-Besitzer treiben die Preise kräftig in die Höhe: Beispielsweise wurden vor ein paar Jahren für die Rolex Daytona des legendären Paul Newman fast achtzehn Millionen Dollar bezahlt. Jessicas Mutter war nicht so berühmt wie Paul Newman, ist aber bis heute die einzige finnische Schauspielerin geblieben, die den Aufstieg an den hellsten Sternenhimmel von Hollywood geschafft hat.
Starring Theresa von Hellens.
Der Geruch von Jusufs neuer Lederjacke steigt Jessica in die Nase.
Ein als Oldtimer registrierter Chevrolet Camaro rast mit dröhnendem Motor an ihnen vorbei.
»Oje, überhöhte Geschwindigkeit und bestimmt noch mit Sommerreifen.« Jusuf steckt sich ein Stück Kautabak in den Mund und fährt fort: »Wenn wir jetzt ein Radargerät und freie Zeit hätten …«
»Wahrscheinlich 137«, meint Jessica.
»Was?«
Jessica mustert Jusuf und runzelt die Stirn. Er scheint nicht zu begreifen, wovon sie spricht.
»Erinnerst du dich etwa nicht an die 137? Als die Verkehrspolizei für jede zweite Geschwindigkeitsüberschreitung einen Strafzettel verteilt hat, auf dem ein Tempo von 137 Stundenkilometern angegeben war. Und aus irgendeinem Grund wurden die Dinger immer bei Regen verteilt.«
Jusuf schüttelt verwundert den Kopf.
»Es stellte sich heraus, dass die neuen Radargeräte die Geschwindigkeit der Scheibenwischer maßen. Immer 137 Stundenkilometer. Du glaubst nicht, wie viele Klagen deswegen eingereicht wurden«, sagt Jessica lächelnd.
Jusuf lacht schallend, dann hält er vor dem Zebrastreifen.
Jessica dreht am Knopf ihrer Uhr, während ihr Blick den in reflektierende Westen gekleideten Vorschulkindern folgt, die aufgereiht wie kleine Enten die Straße überqueren.
»Schön, dass wir zusammen ermitteln dürfen«, sagt Jusuf.
»Solange es nicht so läuft wie beim letzten Mal.«
Jessica beobachtet, wie die Kinder auf der Verkehrsinsel zwischen den beiden Zebrastreifen postiert werden. Die Kindergärtnerinnen schieben sie behutsam näher aneinander wie kleine Puppen, deren Vertrauen in die Erwachsenen und in die Gerechtigkeit des Lebens unerschütterlich ist. Die Köpfchen unter den Bommelmützen bleiben zum Glück noch viele Jahre von der Beklemmung verschont, die die Sinnlosigkeit der Welt auslöst. Ihre Schutzhülle würde platzen, wenn sie wüssten, dass Kindergärtnerinnen, Lehrer, Mütter, Väter, dass niemand der Erwachsenen den geringsten Schimmer vom Sinn des Lebens hat.
»Bist du okay?«, fragt Jusuf, als er wieder anfährt.
»Bist du’s?«
»Na ja, es war … Es war eine ziemliche Mangel.«
Jessica blickt zum Fenster hinaus. Über das Thema zu reden fiel ihr im Frühjahr schwer, im Sommer erschien es ihr fast lustig und jetzt irgendwie überflüssig. Der Hexenbande, die zahlreiche Menschen getötet hat, war etwas gelungen, was ihr nie im Leben hätte gelingen dürfen: Sie hat sich wie eine giftige Schlange in den Kern der Ermittlungen gewunden und ihre Zähne in sie alle geschlagen. Obendrein hat sie es geschafft zu entkommen.
Jessicas Handy klingelt. Rasmus ruft an.
»Hallo, seid ihr schon in Lisas Wohnung?«
»Wir sind doch gerade erst losgefahren, Rasse«, seufzt Jessica.
»Vermisst er uns schon?«, fragt Jusuf und klammert die Finger um das Lenkrad. Jessica schaltet die Lautsprecherfunktion ein.
»Ich wollte mich gleich melden, weil ich auf Instagram was Interessantes entdeckt hab.« Rasmus spricht schneller als sonst, was in der Regel auf besonderen Eifer hindeutet.
»So schnell?«
»Na ja, eigentlich hab ich ja noch gar nicht richtig angefangen, aber …«
»Spuck’s aus.«
»Zu dem neuesten und letzten Bild von Lisa Yamamoto …«
»Mit dem Leuchtturm?«
»Genau. Zu dem sind viel mehr Kommentare gekommen als zu irgendeinem der früheren, fast tausend. Hauptsächlich erschütterte und ungläubige, die Follower haben wahrscheinlich das Gedicht und den RIP-Eintrag gelesen und sind entsetzt und nehmen Anteil und …«
»Was hast du gefunden, Rasse?«, fragt Jessica. Jusuf stoppt an der nächsten Ampel und sieht sie neugierig an.
»Er stach mir ins Auge, als ich die Kommentare zu dem Leuchtturm-Bild überflogen habe. Er ist der einzige, der nicht auf Finnisch oder Englisch geschrieben ist, sondern auf Japanisch in der Kanji-Schrift.«
»Was steht da?«
»Ich hab die Zeichen in den Google-Übersetzer kopiert und rausgefunden, dass sie das Wort Masayoshi ergeben. Das bedeutet Gerechtigkeit.«
»Gerechtigkeit?«
»Ja. Gerechtigkeit, so wie justice.«
»Meint der Kommentator etwa, dass das, was Lisa zugestoßen sein könnte, gerecht ist? Dass sie es verdient hat?«
»So würde ich es verstehen«, sagt Rasmus.
»Wer ist der Kommentator?«
»Sein Pseudonym lautet Akifumi2511946. Das Profil ist nicht öffentlich, aber das Icon zeigt einen japanisch aussehenden jüngeren Mann.«
»Schick mir den Link zu dem Profil.«
»Okay.« Rasmus legt auf. Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung, was Jessica, die ungeduldig auf das Display ihres Handys starrt, kaum registriert.
»Na sowas, Schneeregen«, sagt Jusuf und schaltet die Scheibenwischer ein. Als Jessica aufblickt, sieht sie große Schneeflecken, die schmelzen, sobald sie auf der Windschutzscheibe landen. Vor der Helsinkier Eishalle findet trotz des miserablen Wetters eine Art Basar statt. Zwischen den Buden laufen Scharen von Menschen herum, von denen viele die Kapuze über den Kopf ziehen. Die große Leuchttafel verkündet, dass die Eishockeymannschaft HIFK heute Abend gegen Ilves spielt. Jessica erinnert sich an die 90er-Jahre, als auch die zweite Helsinkier Mannschaft, Jokerit, ihre Heimspiele noch hier austrug. Damals gingen ihre Adoptiveltern regelmäßig mit ihr in die Eishalle, wenn die beiden Helsinkier Mannschaften gegeneinander spielten. Schon vor langer Zeit ist Jessica klargeworden, dass diese Jahre die einzigen waren, in denen sie ein normales Kinderleben führte. Davor lag die frühe Kindheit mit dem großen Haus und dem Chauffeur, den Palmen von Bel Air und dem trockenen Wind aus der Steppe. Und nach den wunderschönen Jahren mit den Niemis kehrte all das in ihr Leben zurück. Die Volljährigkeit und das Erbe. Der Tod der Adoptiveltern. Gerade, als wäre das Geld die Wurzel allen Übels, als läge ein Fluch auf den Summen, die auf ihre Konten überwiesen wurden.
»Jusuf«, sagt Jessica und sieht ihren Kollegen an.
»Ja?«
»Hast du jemals daran gedacht, dir Kinder zuzulegen?«
»Hä? Anna und ich haben uns doch gerade erst getrennt … So schnell geht das nicht.«
»Ja, ich weiß. Sorry.«
»Warum fragst du überhaupt?«
»Ich weiß nicht. Gerade jetzt habe ich das Gefühl, es wäre nicht fair, am allerwenigsten gegenüber dem Kind. Die Welt ist so krank«, sagt Jessica genau in dem Moment, als die Nachricht von Rasmus eintrifft.