»Gestern Abend hast du mich gefragt …«, sagt Dominis und schwenkt sein Glas. »Ja. War ich.«
»Was warst du?«
»Soldat. In Alaska. Vor langer Zeit.« Er legt die Waffe auf den Tisch. Dann leert er sein Glas.
Eine Weile starrt er auf das leere Glas in seiner Hand und lächelt euphorisch, als wäre ihm ein alter Freund begegnet, den er lange aus den Augen verloren hatte. Und genau das ist wohl auch geschehen. Einige Deziliter von dem goldbraunen Gift haben gereicht, um seinen Körper schwerelos zu machen. Jessica wirft einen Blick zur Wohnungstür: Wenn sie schnell ist, schafft sie es vielleicht, ins Treppenhaus zu flüchten, bevor der Mann zielt und feuert. Oder er drückt ab, schießt aber daneben.
»4th Brigade Combat Team, 25th Infantry Division, Ma’am«, sagt Frank. Er ahmt den Akzent des Mittleren Westens nach, doch Jessica weiß nicht, wen oder was er imitiert.
Jessica macht einen kurzen, fast unmerklichen Schritt zur Tür, aber Dominis greift nach der Waffe und torpediert ihren Plan.
»Geh nicht, Jessica«, sagt er. Es klingt eher nach einer Bitte als nach einem Befehl.
Jessica holt Luft. Ihre Augen gewöhnen sich allmählich an das Halbdunkel; das Gesicht und der nackte Oberkörper des Mannes sind in dem schwachen Licht, das durch das Fenster fällt, nun deutlicher zu sehen.
»Was hast du getan, Frank?«, fragt sie. »Du warst dabei.«
»Ich dachte mir schon, dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann mir die ganze Sache ins Gesicht knallt wie eine Granate, die man für einen Blindgänger gehalten hat«, antwortet Dominis und füllt sein Glas, diesmal bis fast an den Rand. Die Waffe legt er nicht aus der Hand.
»Setz dich zu mir, Jessica«, sagt er, und als Jessica nicht gleich reagiert, wiederholt er seine Aufforderung nachdrücklicher, fügt zum Schluss aber hinzu: »Sei so lieb.«
Jessica blickt zur Tür und begreift die Aussichtslosigkeit ihrer Lage. Und gleichzeitig wird ihr klar, dass sie Jusuf ebenfalls in Lebensgefahr gebracht hat. Wenn Frank Dominis sie erschießt, wird er auch Jusuf nicht verschonen, der inzwischen schon unterwegs sein muss. Wäre es besser, dem Ganzen jetzt ein Ende zu setzen, damit niemand anders zu Schaden kommt?
»Sie sind unterwegs, stimmt’s?«, sagt Dominis und verzieht das Gesicht. Er hat das Glas zu einem Drittel geleert.
Jessica nickt, dann geht sie langsam zu dem Tisch, an dem er sitzt.
»Das ist nicht das Ende, Frank«, sagt sie. »Es muss nicht das Ende sein.«
Dominis lacht ungläubig auf und mustert die Pistole in seiner Hand.
»Eine Walther P99. Eine Waffe, die ihrem Träger sozusagen vertraut: keine äußerliche Sicherung.« Er richtet den Lauf der Pistole an die Decke. Dann fordert er Jessica mit einem Nicken auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Hast du gehört, Frank?«, fährt Jessica fort und setzt sich an den kleinen Tisch. Trotz ihrer Anspannung bewegt sie sich langsam und beherrscht. »Erzähl mir die ganze Geschichte. Ich kann dir helfen.«
»Sieh mich an, Jessica.« Dominis hebt sein Glas. »Acht Jahre, fünf Monate und drei Tage. Lebe ich lange genug, um das noch einmal sagen zu können? Wäre ich dann wieder frei … im Jahr 2028.«
»Du musst jetzt …«
»Was? Dir die Waffe geben? Am Morgen in der Zelle aufwachen, mit dem schlimmsten Kater meines Lebens? In dem Wissen, dass ich jahrelang kein Tageslicht sehen werde?« Dominis leert das Glas. Sein Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, die den alle Sinne betäubenden Genuss sichtbar macht. »Erinnerst du dich, wie ich gesagt habe, dass ich in Helsinki Dunkelheit gesucht habe, dieselbe Dunkelheit, in der ich in Anchorage aufgewachsen bin? Na, die habe ich wahrhaftig bekommen. Ich habe die Nacht in ihrer wahren Bedeutung gesehen. Meine Seele an den Teufel verkauft. Mich in Geschichten verwickeln lassen, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. Und warum? Einzig und allein wegen Geld. Und das, Jessica, ist verdammt nochmal die reine Dunkelheit.«
»Erzähl es mir«, wispert Jessica und legt ihre zitternden Hände auf den Tisch.
Eine Weile sieht Frank Dominis Jessica aus tränenden Augen an. Er hat etwas Böses getan, aber im Grunde ist er nicht böse. Davon ist Jessica immer noch überzeugt. Frank ist nicht wie Colombano oder wie die kaltblütigen Soziopathen, die sie in ihrer Laufbahn dutzendweise hinter Schloss und Riegel gebracht hat. Frank Dominis’ Gesicht erzählt Tausende Geschichten. Es erinnert immer mehr an Erne. An Erne, der ebenfalls eine Schatzkiste voller Geheimnisse war. An Erne, der Jessica begreiflich gemacht hat, dass ein schwarzweißes Weltbild ein Privileg ist, das nicht alle haben. Ein Luxus, den sich nur die wenigen leisten können, denen alles fertig vorgesetzt wird. Und auch sie nicht immer.
Jessica greift vorsichtig nach Franks Glas, gießt sich einen Schluck Whisky ein und kippt ihn herunter. Sie hat lange keinen Whisky mehr getrunken, der rauchige, torfige Geschmack raubt ihr den Atem.
Frank lächelt, wahrscheinlich deutet er die Geste als Ausdruck von Solidarität. Trinken wir gemeinsam.
»Als ich den Japaner kennengelernt habe … Ich wusste, dass die Sache in die Hose geht, dass mein Kartenhaus einstürzt«, sagt er und leckt sich die Lippen ab. Er legt die Waffe wieder auf den Tisch, lässt sie aber nicht los.
»Hilf mir, es zu verstehen. Ich verspreche, dir zu helfen.«
»Es war wohl nicht vorgesehen, dass ich ungeschoren davonkomme. Und irgendwie ist es ja auch poetisch. Dass ich, Entschuldigung, dass wir hier in deine Wohnung gekommen sind, uns geliebt haben … Vielleicht wollte ich ja unbewusst in dieser Nacht kapitulieren. Wer weiß.« Dominis stützt sich am Tisch ab und steht langsam auf.
»Erzähl es mir, Frank«, bittet Jessica.
Er tritt zu ihr und streichelt ihre Wange mit dem Handrücken. Über sein Gesicht fliegt ein zärtliches Lächeln, verführerisch und väterlich zugleich.
»Du bist nicht neun von zehn, Jessica. Du bist die eine in einer Million«, sagt er leise, greift nach der Whiskyflasche und geht, die Walther P99 in der Hand, an Jessica vorbei zur Tür. Seine Schritte sind sicher, das goldbraune Gift hat die Wirkung, auf die er mit seinem zügigen Trinken abgezielt hat, noch nicht erreicht.
Jessica spürt einen dicken Kloß im Hals.
»Frank«, sagt sie und denkt fieberhaft über ihre Alternativen nach. Der Mann greift nach der Türklinke. Sie muss etwas tun.
Frank Dominis nimmt einen langen Schluck aus der Flasche und betritt in Unterhose das Treppenhaus. Das vertraute Rumpeln erklingt, als die dicken Drahtseile des Aufzugs sich in Bewegung setzen. Kurz darauf erscheint die Aufzugkabine im Blickfeld.
»Frank, was hast du …«, sagt Jessica, steht auf und geht langsam auf den Mann zu.
Der Aufzug hält, Dominis öffnet die Tür. Jessica folgt ihm ins Treppenhaus, aber er zieht die gusseiserne Tür zu und blickt durch die Ösen.
Jessica spürt keine Angst mehr, sondern unerklärliche Wehmut.
»Frank!«
»Ich bin schon seit Tagen verdammt glücklich. Weil ich Anfang der Woche beschlossen habe, aus dieser Welt zu gehen. Seitdem schwebe ich geradezu. Und das«, sagt Frank Dominis und zeigt mit der Waffe zuerst auf sich, dann auf Jessica. »Das war echt.«
Dann setzt er die Flasche an den Mund und drückt auf den Knopf für das Erdgeschoss.
Die Aufzugkabine setzt sich langsam in Bewegung, und bald ist Franks intensiver, trauriger Blick nicht mehr zu sehen.
»Frank! Warte!«, ruft Jessica, schnappt sich ihren Mantel von der Garderobe und rennt los.
Ihre nackten Füße laufen immer schneller die Stufen hinunter, sie spürt den kalten Marmor unter ihren Fußsohlen und hört, wie der alte Aufzug auf seiner Fahrt nach unten poltert.
»Frank!« Ihr Schrei hallt durch das Treppenhaus.
Im vierten Stock öffnet einer der Nachbarn die Tür, als Jessica vorbeiläuft. Was in aller Welt geht hier vor?
Jessica hört die Flasche scheppernd auf den Boden der Kabine fallen und beschleunigt ihre Schritte. Als sie die dritte Etage erreicht, kann sie kurz in den Aufzug sehen, den sie nun fast eingeholt hat.
Dann hört sie einen Schuss, der in dem düsteren Treppenhaus ohrenbetäubend nachhallt. Hinter den Türen bellen Hunde fordernd und erschrocken.
Als sie die beiden letzten Etagen hinuntergeht, kann Jessica an nichts mehr denken. Ihre Schritte werden langsamer, plötzlich gibt es keine Eile mehr.
Endlich kommt sie ins Erdgeschoss, spürt den roten Filzteppich unter ihren Füßen. Als sie die Aufzugtür öffnet, sieht sie auf dem Boden der Kabine den leblosen, halbnackten Mann, der halb an der Wand lehnt und ein zerfetztes Loch in der Schläfe hat. Der Spiegel an der hinteren Wand der Kabine ist blutbefleckt, in der Mitte Jessicas ratloses Gesicht.
Sie spürt eine Hand auf ihrer Schulter. Die Finger sind knochig und kalt.
Schau in den Spiegel, Jessica.
Jemand macht Licht im Treppenhaus, und die Hand verschwindet. Draußen heult die Sirene eines Streifenwagens. Jusuf hat die Kavallerie alarmiert.
Im selben Moment schlägt der Schmerz zu. Die kleinen Nadeln wandern von der Wirbelsäule durch jede Nervenbahn, dringen durch die inneren Organe in Arme und Beine vor und versuchen, bei den Fingern und Zehen hinauszukommen. Und bald darauf spürt Jessica den Fußboden unter ihrer Wange und begegnet Franks friedlichem Blick, der um Vergebung zu bitten scheint.