Eine halbe Stunde ist vergangen, seit Frank Dominis abgedrückt hat, aber in Jessicas Welt scheint die Zeit stillzustehen, sie hört immer noch den Schuss und riecht den süßlichen Geruch des Pulvers. Sie sieht zum Fenster hinaus und hält das Glas in der Hand, in dem ein paar Tropfen Whisky zurückgeblieben sind. In der Fensterscheibe sieht sie Franks Gesicht, die hellen, ein wenig melancholischen Augen, die mit der Dunkelheit des Innenhofs verschmelzen. Das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge auf der Straße fällt durch die Einfahrt in den Hof und flackert in den Fenstern der unteren Etagen.
Jusuf sitzt auf dem Bett, die Hände auf dem Schoß.
Beide haben seit Minuten nichts gesagt. Die Wohnungstür ist zu, aber aus dem Treppenhaus dringen Geräusche: Frank Dominis’ Leiche wird aus dem Aufzug in einen Wagen getragen, der sie zu Sissi Sarvilinna bringt.
Jessica spürt einen Druck auf der Brust, als läge ein großer Stein darauf, es ist, als wäre sie eine lange Strecke gelaufen, das Atmen fällt ihr schwer. Sie trauert nicht um den Mann, den sie kaum gekannt hat. Sie trauert um sich selbst, darüber, dass sie wieder in dieselbe Mine getreten ist, sich in ein Monster verguckt hat, obwohl sie Erne versprochen hat, es nie wieder zu tun. Mit ihr stimmt etwas nicht. Sie ist böse, und deshalb sucht sie die Gesellschaft böser Menschen. Es war Jessicas Bosheit, die ihre Mutter dazu getrieben hat, ihre Familie zu töten. Und dass Jessica Colombano umgebracht, ein Messer in seinen Hals gestoßen hat, beweist, dass es stimmt. Jessica ist eine giftige Spinne, in deren Netz sich die Menschen verfangen. Genau wie in dem Song von Kex Mace’s.
Nichts als Tod, Jessica.
Jessica reagiert nicht, sie weigert sich, auf die tadelnde Stimme ihrer Mutter zu hören, doch die Mutter rückt näher an sie heran, sodass die kalte Luft aus ihrem Mund in Jessicas Ohr strömt.
Du ziehst ihn an, Jessica …
»Sei still!« Jessica schleudert das leere Whiskyglas an die Wand, die Scherben fallen auf den Boden. Jusuf springt vom Bett auf wie ein durchgehendes Pferd.
»Scheiße, was soll das, Jessica?«, ruft er. Er hat die Hände auf die Ohren gelegt, merkt aber offenbar, dass er lächerlich aussieht, und stemmt sie schnell in die Hüften. »Ich hab doch gar nichts gesagt!«
Jessica spürt kalten Schweiß auf der Haut, ihr Herz rast, sie schnauft.
Ich bin verrückt, Jusuf. In meinem Kopf sind alle Schrauben locker.
»Sorry, ich …«, beginnt sie, merkt aber, dass es ihr unmöglich ist, Jusuf alles zu erklären. Vielleicht kann sie es irgendwann einmal, aber nicht hier und nicht jetzt.
»Was hast du denn?«, fragt er und tritt ein paar Schritte näher. Eine Glasscherbe knirscht unter seinem Schuh. Jessica ist immer noch barfuß, nur der schwarze Mantel umhüllt ihren nackten Körper.
»In Pasila wissen es alle, Jusuf«, sagt sie leise. »Und jetzt halten mich alle für eine Hure.«
Jusuf bleibt stehen und schüttelt den Kopf, antwortet aber nicht gleich. Jessica dreht sich der Magen, sie möchte kotzen. Jusuf bückt sich und hebt zwei große Glassplitter auf.
»Ist doch so, oder?«, hakt Jessica müde nach. Sie weiß nicht, was ihr mehr Erleichterung bringen würde: dass Jusuf ihre Worte bestreitet oder dass er durch sein Schweigen bestätigt, was sie schon weiß.
»Niemand hält dich für eine Hure, Jessica. Natürlich nicht«, seufzt er und richtet sich auf. Er legt die Scherben auf die Spüle, macht einige Schritte zum Fenster hin und setzt sich an den Tisch. Auf den Stuhl, auf dem Frank erst vor einer Stunde die Whiskyflasche geöffnet hat. Sein letztes Gift vor dem selbst verhängten Urteil.
»Ich weiß, dass du mich gewarnt hast«, beginnt Jessica leise.
»Scheiß drauf, was ich gesagt hab, Jessi. Was weiß ich denn schon … Wer bin ich, dass ich irgendwem in diesen Dingen einen Rat geben könnte. Ich hab seit Monaten keine Frau gesehen. Außerdem bezog sich das, was ich gesagt habe, einzig und allein auf Dominis’ Ruf als Frauenheld. Ich hätte auch nicht gedacht, dass er ein Teil dieser irrsinnigen Geschichte ist.«
»Ich hätte es kapieren müssen«, sagt Jessica und sieht Jusuf an.
»Du hast viele Fähigkeiten, Jessi. Aber du bist kein Orakel. Und kein Nostradamus.«
Jessica betrachtet das Bett, in dem sie sich vor einigen Stunden der Leidenschaft hingegeben hat. In dem sie im Arm des Mannes eingeschlafen und aus dem sie mit dem Handy ins Badezimmer geschlichen ist. Dominis. So hat Jusuf das Gespräch begonnen. Es muss das Einzige gewesen sein, was Frank in dem stillen Zimmer gehört hat. Als er von seinem eigenen Namen geweckt wurde, ist er aufgestanden, hat überlegt, ob er sich anziehen und in die dunkle Nacht fliehen oder lieber seinem Leben ein Ende setzen soll. Vielleicht hat er zuerst Jessicas Pistole entdeckt und sich Mut antrinken müssen, um sie zu benutzen. Oder er ist zuerst auf die Flasche gestoßen. Über die Reihenfolge der Ereignisse kann man nur spekulieren.
Jessica lauscht auf die Geräusche aus dem Treppenhaus. Sie sind nicht deutlich zu erkennen, aber in Gedanken hört sie das Zischen der Blitzlichter, das Gespräch der Tatortermittler und das Klingeln der Handys. Sie stellt sich vor, wie Franks Haut sich bläulich verfärbt. Die Haut des Mannes, dessen warmen Körper sie gerade noch an ihrem eigenen gespürt hat und dessen Blick sie erforscht hat, als er auf ihre Haut ejakulierte.
Jessica wirft einen Blick auf ihr Handy. Seltsam, dass Hellu noch nicht angerufen hat. Vielleicht ist es nur logisch, wenn man bedenkt, dass sie Jessica praktisch gefeuert hat. Andererseits verpasst die blöde Kuh ihre letzte Chance, Jessica zu demütigen, wenn sie nicht anruft.
Gerade in dem Moment klingelt Jessicas Handy auf dem Tisch.
Der Anruf kommt jedoch nicht von Hellu, sondern von Rasmus.
»Willst du nicht antworten?«, fragt Jusuf, als Jessica reglos auf das blinkende Telefon starrt.
Er ahnt nicht, dass er gerade eine ausgezeichnete Frage gestellt hat. Vielleicht braucht Jessica sich tatsächlich nicht zu melden. Andererseits hat sie noch keinem von ihrer Kündigung erzählt. Also muss sie ihre Arbeit wohl zu Ende führen.
»Hallo?«, sagt sie müde.
»Bist du okay, Jessica? Ich habe gehört, dass …«
»Ja, Rasse. Rufst du deshalb an?«
»Was? Nein. Es ist so: Wir haben das zweite Handy von Lisa Yamamoto gefunden«, antwortet Rasse. »Wir haben es nicht, aber wir konnten es lokalisieren.«
Jessica spürt, wie ihre Gedanken sich klären. Plötzlich steckt sie wieder mitten in dem Fall, obwohl sie gerade erst akzeptiert hat, dass sie von den Ermittlungen ausgeschlossen wird.
»Wo ist es?«
»Das ist ja das Komische«, sagt Rasmus, und Jessica hört, wie er die Tür schließt. Dann fährt er fort: »Ich habe vom Teleanbieter einen Link zur Live-Lokalisierung bekommen. Ich sehe also die ganze Zeit mit zwanzig Metern Genauigkeit, wo sich das Handy befindet. Es ist in Konala.«
»Ja?«
»Bei der Adresse von Helena Lappi.«