Jessica und Jusuf sitzen auf dem braunen Sofa in Hellus Wohnzimmer und starren misstrauisch auf den Mann, der an der anderen Seite des runden Glastisches Platz genommen hat. Um seinen geschwollenen Knöchel ist ein kalter Umschlag gewickelt, seine Stirn ist aufgeschürft.
Jessica schaudert. Das Bild des Gespenstes hängt seit Mittwoch am Flipchart im Besprechungsraum der Einheit. Das ganze Team war überzeugt, dass dieser Mann hinter Lisa Yamamotos und Jason Nervanders Verschwinden steckt und wahrscheinlich auch in die Tätigkeit der Zuhälterbande verstrickt ist.
»Ihr habt also Lisas zweites Handy verfolgt.« Hellu stellt ein Tablett mit Gläsern und Mineralwasser auf den Tisch. Im Zimmer riecht es nach dem Zitrus-Rasierwasser, das sie selbst im Schlaf wiedererkennen würden.
»Rasmus hat es verfolgt«, erwidert Jusuf lustlos. »Würdest du uns jetzt mal erzählen, wer zum Teufel dieser Typ ist?«
Hellu setzt sich hin und seufzt.
»Es ist wohl nur höflich, dass wir in einer gemeinsamen Sprache reden«, sagt sie auf Englisch und nickt dem Gespenst zu.
Das Gespenst holt Luft, und als es schließlich spricht, klingt es ganz anders, als sie erwartet hatten: Seine Stimme ist ein wenig heiser und belegt, aber überraschenderweise ist sein Akzent unverkennbar britisch.
»Mein Name ist Nathan Reddick. Ich arbeite bei Europol und untersuche internationalen Menschenhandel«, sagt der Mann. »Der Grund für mein geheimnistuerisches Verhalten ist ganz simpel, ich ermittle undercover in Helsinki.«
Jessica und Jusuf sehen sich ungläubig an.
»Es stimmt. Ich habe es heute in Den Haag überprüft«, bestätigt Hellu und gießt Wasser in die Gläser.
Nathan Reddick verschränkt die Finger und verzieht sein abweisendes Gesicht zu einem versöhnlichen Lächeln.
»Du untersuchst also die Morde an den Prostituierten?«, fragt Jusuf.
»Ja. Und deshalb musste ich undercover ermitteln und mich benehmen wie ein Verbrecher«, erklärt Reddick und zeigt der Reihe nach auf Jessica und Jusuf. »Zu Gewaltmitteln greifen. Es tut mir leid, dass ich euch Schmerzen und Ärger bereitet habe, aber für die Lösung des Falls war es extrem wichtig, dass ich nicht gefasst wurde.«
»Du hättest uns die Situation erklären können«, meint Jessica. »Es wäre nicht nötig gewesen, mich mitten in der Stadt niederzuschlagen. Und Jusuf auf den Tisch …«
»Hätte ich wirklich etwas erklären können? Wärt ihr vorhin bereit gewesen, mir zuzuhören, wenn eure Chefin nicht nebenan wohnen würde? Mit Erklärungen hätte ich auf jeden Fall wertvolle Zeit verloren.« Reddicks versöhnliche Miene verschwindet, sein Gesichtsausdruck wird strenger und ein wenig arrogant. »Wie gesagt, es tut mir leid. Ich weiß nicht, ob ihr jemals Undercover-Einsätze mitgemacht habt, aber dabei gelten ganz eigene Regeln. Wenn man glaubhaft einen Verbrecher spielen will, muss man auch denken wie ein Verbrecher, sich so verhalten und handeln wie ein Verbrecher. Bis zu einem gewissen Punkt. Selbst dann, wenn die Gefahr besteht, verletzt zu werden.«
»Okay«, sagt Jessica, schlägt die Beine übereinander und lehnt sich zurück. »Dann erzähl uns, was du herausgefunden hast.«
Nathan Reddick beugt sich vor und sieht Jessica geheimnisvoll an.
»Europol hat sich im Hinblick auf diese Operation heute der Polizeibehörde von Helsinki offenbart. Der Dank für die Lösung des Falles gebührt vor allem deinem Team, Niemi.«
»Meine Neugier wächst.« Jessica zieht verdrossen die Augenbrauen hoch.
Nathan Reddick lacht trocken und sucht mit einem raschen Blick Unterstützung bei Hellu, die sich damit begnügt, mit den Schultern zu zucken. So ein Miststück ist Niemi eben.
Reddick nimmt sich ein Glas vom Tablett.
»Es ist eine lange Geschichte, aber ich versuche, mich möglichst kurz zu fassen. Hinter dem Ganzen steckt eine weißrussische Bande namens Sinija Skarpijony, die sich im Gegensatz zu vielen anderen Organisationen der Ost-Mafia bisher einzig und allein auf Prostitution konzentriert hat. Die Hintermänner der Sinija Skarpijony sind extrem einflussreich und intelligent. Die Bande nutzt die sozialen Medien und die neueste Technologie, und das Kundensegment ist exakt begrenzt«, erklärt Reddick und dreht das Glas in der Hand. »Hebephil oder ephebophil orientierte, in den skandinavischen Ländern wohnende gutsituierte Männer, die Manga-Fantasien und sadistische Neigungen haben.«
»Also Pädophile?«, fragt Jusuf.
»Nicht ganz, unter Pädophilie versteht man sexuelles Interesse an nicht geschlechtsreifen Kindern. Hebephile interessieren sich für pubertierende Kinder, Ephebophile für postpubertäre Jugendliche im Alter von 17–19 Jahren.«
Jessica hört Reddicks Worte und erinnert sich daran, wie sie selbst mit 19 war, wie sie glaubte, erwachsen zu sein, während sie in Wahrheit noch ein naives Kind war, das von einem schmeichlerischen Psychopathen in einer nach Schimmel stinkenden Wohnung an einem venezianischen Kanal vergewaltigt wurde.
»Was ist der Hauptgedanke, den das, was ich gerade berichtet habe, bei euch weckt?«, fragt Reddick.
Jessica und Jusuf sehen sich an.
»Das Segment ist wirklich genau abgegrenzt«, sagt Jessica.
Reddick lächelt breit. »Richtig, Niemi. Und wie kann man so genau aussieben?«
Jessica überlegt.
»Wie bringen Firmen generell es fertig, dir im Internet genau das anzubieten, was du dir wünschst?«, hilft Reddick ihr auf die Sprünge.
»Das Internet sammelt Informationen über mich.«
»Genau. Sinija Skarpijony ist eine gut finanzierte Organisation, in deren Hintergrund ganz legale Geschäftstätigkeit zu finden ist, kleine Läden, App-Unternehmen und sogar ein Start-up-Accelerator, der zahlreiche Hacker und Developer beschäftigt, die Plattformen nicht nur für legale, sondern auch für illegale geschäftliche Aktivitäten schaffen. Und gerade dadurch ist Europol diesem extrem schlau und vorsichtig geschaffenen Prostitutionsring auf die Spur gekommen.«
»Wie meinst du das?«
»Unsere Cyber-Kontrolleure, die guten Hacker, haben zufällig entdeckt, dass auf den Servern fast aller großen Porno-Webseiten diverse Schadprogramme installiert worden waren, die Suchwörter und Informationen darüber gesammelt haben, von welcher IP-Adresse welche Art von Porno angeschaut wurde. Stellt euch vor, dass ein Nutzer der Seite, selbst ein unregistrierter, im Lauf eines Jahres zig Stunden Porno mit den Suchwörtern manga, young, teen, choking, punishing, petite ansieht – soweit ich mich erinnere, sind das die häufigsten – und außerdem im Netz nach weiterem Material in diesem Bereich sucht. Die Hacker von Sinija Skarpijony haben Trigger geschaffen, die die IP-Adresse herausfischen, sobald die Bedingungen erfüllt sind. Und weil man nur wohlhabende Männer als Kunden haben will, überprüft man ihre finanzielle Situation, indem man ihre Internet-Bestellungen, Mitgliedsbeiträge und sozialen Medien verfolgt. Der Rest ist ein Kinderspiel. Die Bande hat Tausende solcher Männer lokalisiert und Kontakt zu ihnen aufgenommen, vorsichtig und sondierend, ohne zu viel preiszugeben. Und Hunderte interessierte Kunden gewonnen«, erklärt Reddick und leert sein Glas.
Jessica sieht Hellu an, die mit den Fingern auf die Armlehnen ihres Sessels trommelt.
»Anfangs wussten wir natürlich nicht, wie das Ganze abläuft. Wir hatten nur die Information, dass in Weißrussland Daten über die Porno-Vorlieben von Leuten gesammelt werden«, fährt Reddick fort.
»Wie seid ihr der Sache auf die Spur gekommen?«
»Die verdeckte Operation begann in der Sekunde, als ich eine Wohnung in Helsinki gemietet und …«
»Und angefangen hast, dir Pornos anzusehen?«, fragt Jusuf mit einem Anflug von Lächeln. »Es gibt schlimmere Jobs.«
»Offiziell war ich aus Tokio über Den Haag nach Helsinki geflogen, um bei der Fusion von zwei Datenverkehrsunternehmen als Berater zu fungieren. In Wahrheit habe ich die Zeit genutzt, um abends mit den betreffenden Suchbegriffen Pornos zu suchen. Viel und schnell. Außerdem habe ich massenhaft Aktivitäten gestartet, die auf einen prallen Geldbeutel hindeuten: Ich habe Ferienwohnungen und die PDF-Preislisten teurer Autos gesucht, einen Trading Account eröffnet, um mit Aktien zu spekulieren, ein Instagram-Account erstellt und mich dort auf teure Marken konzentriert und so weiter.« Reddick betrachtet seinen bandagierten Knöchel. »Dasselbe haben zwei weitere Europol-Ermittler getan, einer in Stockholm und einer in Göteborg.«
»Aber der Fisch hat bei dir angebissen?«, fragt Jessica.
Reddick nickt.
»Schon acht Tage später bekam ich auf Instagram eine private Nachricht, eine, die man nur einmal ansehen kann, bevor sie verschwindet. Aber ich habe einen Screenshot gemacht«, sagt er, tippt auf seinem Handy herum und reicht es Jessica.
Jessica dreht es hin und her.
»Wir haben uns alle Mühe gegeben, dieses Telefon aufzuspüren.«
»Jetzt wisst ihr, warum ihr es nicht geschafft habt«, sagt Reddick. Jessica hält das Handy so, dass auch Jusuf das Display sieht.
Ich weiß, was du willst, großer Junge.
masayoshi.fi
#25119358
Komm in gepflegter Kleidung und frag, ob James unterwegs ist.
Jessica gibt ihm das Handy zurück. »Von wem kam die Nachricht?«
»Wie man sich denken kann, von einer schönen jungen Frau in Manga-Kleidung, Username Aluna25119358«, sagt Reddick, blickt kurz durch das hohe Wohnzimmerfenster und korrigiert dann mit beiden Händen die Position seines verletzten Beins. »Und wie ihr wisst, erscheinen zehn Fotos, wenn man die Ziffernreihe auf Instagram eingibt. Zwei Hotels, einige Restaurants. Und der Nachtclub Fenix.«
Jessica nickt.
»Was ist dann passiert?«, fragt sie.
»Ich habe Anzug und Krawatte angezogen und bin in das kleine Hotel gegangen, das als Erstes auf der Liste stand. Dort habe ich gefragt, ob James unterwegs sei. Der Rezeptionist wusste ganz offensichtlich nicht, worum es ging, bat mich aber, im Hotelrestaurant zu warten. Nach einer halben Stunde hielt ein großer Mercedes-Jeep vor der Tür. Der Chauffeur, der Englisch mit osteuropäischem Akzent sprach, holte mich aus dem Restaurant. Er stellte sich als James vor. Als wir im Auto saßen, erkundigte er sich nach dem Namen meines Instagram-Profils, wie um sich zu vergewissern, dass die Initiative wirklich von ihnen ausgegangen war: Sie hatten mich gefunden und nicht umgekehrt. Dann erklärte er mir, dass ich ein Mädchen aus einem Katalog aussuchen dürfe, dessen Inhalt mit dem der masayoshi.fi-Seite identisch war.«
»Der Katalog lag also im Auto?«, fragt Jessica.
»Ja. Mit Ledereinband und allem Drum und Dran. Ein echtes High-End-Konzept, Luxus für wenige Auserwählte«, antwortet Reddick. »Alle Mädchen auf den Fotos waren ähnlich gekleidet, einige sahen asiatisch aus, aber die meisten europäisch. Ich habe zuerst ein Mädchen namens Kasumi ausgesucht, bekam aber zu hören, dass sie nicht mehr zu haben war. Schließlich habe ich mich für Miyamoto entschieden. Und die habt ihr in Vuosaari am Ufer gefunden.«
»Olga Belousova«, sagt Jusuf. »Was ist mit ihr passiert?«
Reddick hebt einen Finger, als bitte er sein Publikum um Geduld.
»James nannte mir die Preise. Die Grundpreis war tausend Euro. Dafür bekäme ich eine Stunde mit dem Mädchen. Aber für zwanzigtausend bekäme ich das Mädchen und ein Zimmer für fünf Tage. Und am fünften Tag könnte ich mit ihr machen, was ich nur wollte. Sie würden hinterher saubermachen«, sagt Reddick und wirkt aufgebracht, gerade so, als würde er die Geschichte hören, statt sie selbst zu erzählen.
»Was meinte der Fahrer damit? Dass sie saubermachen …«, murmelt Jessica. »Willst du damit sagen …«
Reddick blickt zum Fenster hinaus.
»Ja, dass ich sie schlagen könnte. Erwürgen. Ihr die Kehle aufschlitzen. Sie töten«, sagt er. Tiefe Stille legt sich über das Zimmer.