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Jessica lässt sich kaltes Wasser über das Gesicht laufen. Von Nathan Reddicks Bericht ist ihr schlecht geworden.

Das Badezimmer ist blütenweiß und glänzt. Jede Fläche ist strahlend rein, was ganz und gar nicht überrascht, wenn man Hellu kennt. Jessica trocknet sich Gesicht und Hände ab und überlegt, ob Hellus Frau womöglich auch so ein penibler Kontrollfreak ist. Oder etwas ganz anderes? Und warum will irgendwer mit einem hinterhältigen Miststück wie Helena Lappi zusammenleben?

Jessica öffnet die Tür und kehrt ins Wohnzimmer zurück. An den Wänden hängen bunte Serigraphien, die offenbar die militärische Atmosphäre der Wohnung mildern sollen. Die berechnend genaue Aufhängung verrät allerdings, dass die Bilder nicht angeschafft wurden, weil sie der Käuferin gefallen, sondern weil es sich gehört, Bilder an der Wand zu haben.

»Sorry. Machen wir weiter.« Jessica setzt sich wieder zu Jusuf auf das Sofa.

»Ich weiß, dass es schwer ist, sich das anzuhören«, sagt Reddick.

Jessica sieht den Europol-Mann an. Ich habe schon viele schwierigere Dinge gehört, gesehen und erlebt.

»Erzähl weiter«, wiederholt sie ausdruckslos.

»Schon beim Einsteigen hatte ich ein Anti-Positioning-Gerät mit Antenne bemerkt, das die GPS-Signale blockt. Daher war mir klar, dass ich nicht wissen sollte, wohin wir fahren. Ich erklärte James, dass ich zwei Stunden möchte und mir alles Weitere später überlege. James reagierte gelassen auf meine Entscheidung und erklärte mir dann die Regeln. Ich musste mein Handy ausschalten und es ihm für die Dauer der Fahrt aushändigen. Dann reichte er mir eine große Sonnenbrille, die an den Seiten abgedeckt war, sodass ich nichts sehen konnte.«

Reddick öffnet seine Manschettenknöpfe und krempelt die Ärmel bis zu den Ellbogen auf.

»Die Fahrt dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Anfangs gab es viele Stopps. Dann fuhren wir eine längere Strecke etwas schneller, und ich dachte mir, dass wir die Innenstadt verlassen. Irgendwann stellte James den Motor ab und sagte, ich könne die Sonnenbrille abnehmen. Wir waren in einer fensterlosen Tiefgarage. Sie war nicht besonders groß, vielleicht zwei- bis dreihundert Quadratmeter. Hinter dem Kipptor waren das Brummen eines großen Motors und das Geräusch von Autoreifen zu hören. James öffnete die Tür und führte mich zu einem Lastenaufzug. Im Aufzug bat er mich um Erlaubnis zu einer Leibesvisitation, und ich gab sie ihm. In der nächsten Etage stiegen wir aus und gingen durch einen kurzen Flur zu einer schwarzen Tür. James klopfte. Ein Mann öffnete die Tür, dem Aussehen und dem Akzent nach ein Finne. Er sagte, er heiße Sam. Er zeigte mir das Zimmer, es war eine geräumige, vielleicht sechzig Quadratmeter große Suite mit allem Komfort. Luxuriöse Küche, Bad, Barschrank, Fernseher, ein großes Bett, aber hinter den Vorhängen waren keine Fenster. Sam erklärte, mir stehe ein 24/7-Roomservice zur Verfügung, die Speisekarte liege neben dem Fernseher. Und wenn ich gehen wolle, müsse ich auf den Knopf neben der Tür drücken. Zum Telefonieren könne ich den Festnetzanschluss im Zimmer benutzen. Mein eigenes Handy bekäme ich erst zurück, wenn ich gehe.«

»Was passierte dann?«, erkundigt sich Jusuf.

»Sam sah mir in die Augen und fragte, ob ich die Hausregeln akzeptiere. Ich nickte. Und dann sagte er: Genießen Sie Ihren Aufenthalt, Herr Watanabe. Ich begriff sofort, dass die scheinbar höflichen Worte eine versteckte Botschaft enthielten: Wir kennen deinen Namen. Wir wählen unsere Kunden aus. Wir wissen alles über dich.«

»Watanabe?«, fragt Jessica.

»Ein Deckname, dessen Hintergrund Europol sorgfältig aufgebaut hat«, erklärt Reddick und streicht über den Ringfinger seiner linken Hand, an dem er unter normalen Umständen vielleicht einen Ring tragen würde. »Diese Typen akzeptieren keinen Kunden, über den sie nicht genügend Informationen finden. Sie brauchen den Namen, die Adresse, ein Foto, den Arbeitsplatz, die Namen der Kinder und die Adresse der Kita … So stellen sie sicher, dass niemand wagt, der Polizei von ihnen zu erzählen.«

»Unabhängig davon, dass die Kunden ohnehin kein Beweismaterial haben«, wirft Jessica ein.

»Genau. Unabhängig davon.« Reddick richtet sich im Sessel auf. Einen Moment lang sieht es so aus, als würde er aufstehen und sich die Beine vertreten, wenn er nur könnte.

»Du hast Miyamoto getroffen. Also Olga«, stellt Jessica fest, während Jusuf ein weiteres Kaugummi aus der Tüte angelt.

Reddick nickt.

»Ja«, sagt er, blickt Jessica in die Augen und wirkt nun zum ersten Mal irgendwie verletzlich. Ihm ist offensichtlich klar, worauf Jessica hinauswill. »Für so eine Situation gibt es keine klaren Anweisungen. Natürlich werden diese Fragen vor Beginn des Einsatzes besprochen, die verschiedenen Szenarien … Dass wir richtig handeln, zugleich aber auch das Gesamtbild im Auge behalten müssen. Den Erfolg des Einsatzes. Das Schicksal, das diesen Frauen droht, wenn der Einsatz abgebrochen wird und misslingt.«

Jessica räuspert sich skeptisch und schüttelt den Kopf. »Du hattest Sex mit Olga.«

Es folgt eine kurze Stille, während Reddick sie der Reihe nach ansieht. Hellu wirkt nicht überrascht, sie hat die Geschichte bereits gehört.

»Ich hatte gerade erst einen Fuß in die Tür bekommen und musste mich so verhalten, dass sie mich wieder gehen ließen, Niemi. Sonst hätten sie erraten, dass ich Polizist bin.«

»Hätte Olga den Zuhältern etwa erzählt, dass du keinen Sex wolltest?«, fragt Jessica schnell.

Reddick fährt mit beiden Zeigefingern durch die Luft. »Denk doch mal nach! Sie hatten die Location extra für dieses Geschäft aufgebaut. Glaubst du im Ernst, dass die Arschlöcher nicht jede meiner Bewegungen mit Kameras und Mikrofonen überwacht haben? Das wahre Ertragsmodell der Bande beruht nämlich – wie mir später aufging – gerade auf der Beobachtung.«

»Wie meinst du das?«

»Sie wollten zwanzigtausend Euro dafür, dass der Kunde die Frau, die er gekauft hat, schlagen darf, wenn er will. Oder sie im schlimmsten Fall umbringen. Zwanzigtausend ist keine besonders hohe Summe, wenn man bedenkt, wie viel Geld und Mühe es kostet, eine Prostituierte zu suchen und nach Finnland einzuschleusen, ganz abgesehen von dem Einnahmeverlust durch den Tod der Prostituierten. Wäre es da nicht vernünftiger, an dem Tausender für eine Stunde festzuhalten und alles andere zu vergessen? Wenn das Ganze tatsächlich das wäre, wonach es aussieht.«

Jessica spürt, wie ihr Herz einen Schlag auslässt. »Es sei denn …«, sagt sie leise.

»… das Hauptgeschäft ist nicht Prostitution, sondern Erpressung.«