»Es handelt sich also um eine Falle, in die man reiche Psychopathen lockt. Die Summe für eine Stunde ist hoch genug, um Kunden auszusieben, die nicht blutrünstig genug sind, um einen Schritt weiter zu gehen. Und früher oder später macht die Gelegenheit Diebe, der Druck wird zu groß. Ein Kerl, der ordentlich Kohle auf den Tisch legt, bekommt die Chance, seine krankhaftesten Fantasien zu verwirklichen, ohne geschnappt zu werden. Die ganze Geheimnistuerei, das Aushändigen des Telefons, die Fahrt, während der man nichts sieht … All das ist nicht nur eine Vorsichtsmaßnahme, sondern weckt beim Kunden auch die Illusion, dass alles, was in diesem Zimmer passiert, in diesem Zimmer bleibt.«
»Obwohl die Wahrheit das genaue Gegenteil ist«, sagt Jessica.
»Richtig«, seufzt Reddick.
Jessica sieht Jusuf an, der in Gedanken versunken neben ihr sitzt. Das Gespenst, das sich als Europol-Ermittler Nathan Reddick entpuppt hat, hat ihnen viele Antworten geliefert, doch die größten Fragen sind immer noch offen.
»Ja, ich hatte Sex mit Olga Belousova«, sagt Reddick. »Ich bin nicht stolz darauf, aber ich musste mir eine Hintertür offenlassen, um wieder dorthin zurückkehren zu können.«
»Aber irgendwie musstest du herausfinden, wohin man dich gebracht hatte, oder?«, meint Jusuf.
»Ich habe über verschiedene Alternativen nachgedacht. Unter anderem darüber, die Helsinkier Polizei zu kontaktieren und um Unterstützung zu bitten. Eure Leute hätten zum Beispiel dem Wagen folgen können, mit dem James mich zum Bordell gebracht hat.«
»Klingt ganz vernünftig. Warum hast du das nicht gemacht?«, fragt Jusuf.
»Bei genauerem Nachdenken kam ich zu dem Ergebnis, dass die Bande diese Möglichkeit bestimmt berücksichtigt hatte. Und dass ein misslungener Polizei-Einsatz das Leben der Frauen gefährden würde. Deshalb beschloss ich, es allein auszuprobieren: Ich habe ein Auto gemietet, in der Nähe des Hotels Wache gehalten und auf James und seinen schwarzen Mercedes gewartet. Einige Tage vergingen, und ich war fast schon so weit zu kapitulieren. Aber dann sah ich an einem Nachmittag, wie James vor dem Hotel parkte.«
»Um einen Kunden zu holen?«, fragt Jessica.
»Ich war weit weg und konnte den Kunden nicht genau sehen. Aber es bestand kein Zweifel daran, wohin die Fahrt gehen sollte.«
»Erzähl weiter.«
»Als ich mich gerade in den Verkehr einfädeln wollte, fuhr ein riesiger Jeep an mir vorbei. Ein Chevrolet Suburban aus dem vorigen Jahrzehnt. Ich war mir sicher, dass es derselbe Wagen war, dessen Motor ich in der Tiefgarage des Bordells gehört hatte. Da wurde mir klar, dass es zwei Autos gibt, von denen das eine die Aufgabe hat, Beschatter zu suchen und in die Irre zu führen.«
»Also hast du aufgegeben?«
»Sonst hätte man mich entdeckt und die Operation wäre vorbei gewesen.«
»Und die Kennzeichen der Wagen? Konntest du sie notieren?«, fragt Jusuf.
»Die Wagen sind in Finnland zugelassen, gehören aber einem ukrainischen Unternehmen. Europol hat Nachforschungen angestellt, ohne Erfolg. Auf diesem Weg war nichts zu finden, woran wir uns festhalten konnten.«
»Aber deine Ermittlung ging trotzdem voran?«, fragt Jessica.
Reddick nickt.
»Ich bin wieder in das Hotel gegangen. Derselbe Satz. Eine halbe Stunde Warten. Und dann kam James mich holen. Aber diesmal hatte sich etwas verändert.«
»Was?«
»Wir setzten uns in den Wagen. Ich sagte, ich wolle eine Stunde. James erinnerte mich an die verschiedenen Optionen. Er sagte, auf das nächste Level käme ich nur, wenn ich ein Mädchen für fünf Tage nehme.«
»Begreift ihr, worum es geht?« Hellu mischt sich zum ersten Mal in das Gespräch ein und sieht Jessica und Jusuf grimmig an. »Der Fahrer hat den Kunden aktiv das Paket für zwanzigtausend Euro verkauft. Alles andere war nur eine Kostprobe, ein Lockangebot.«
»Ich habe Interesse geheuchelt«, erklärt Reddick, »bin aber bei meiner Entscheidung geblieben. Vielleicht später, habe ich gesagt. Und bald darauf war ich wieder mit Olga im Zimmer.«
»Was war dein Plan?«
»Informationen zu bekommen. Fragen zu stellen, die keinen Verdacht wecken würden, wenn man uns belauschte.«
»Was für Informationen?«, hakt Jessica ungeduldig nach. Es fällt ihr immer noch schwer, dem Mann zu vertrauen, zumal er offenbar ohne vernünftigen Plan mit seinem Tausender ins Bordell zurückgekehrt ist.
»Wenn ich nichts Wichtiges herausfand, würde ich bald …«
»… die Huren aus der eigenen Tasche bezahlen müssen?«, fällt Jessica ihm ins Wort und trinkt einen Schluck Wasser. Reddick wirkt verwundert. Hellu dagegen sieht so aus, als würde sie sich gleich auf Jessica stürzen.
»… nach Den Haag melden müssen, dass die Ermittlung nicht vorankommt. Dass es die beste unter den schlechten Alternativen wäre, James in einen Hinterhalt zu locken und zur Vernehmung zu holen. Und auch das würde kaum gelingen. Ich hatte nämlich gemerkt, dass James immer etwas ins Telefon sprach, wenn der Wagen abfuhr und wenn wir in die Tiefgarage kamen. Jede Abweichung von der Routine wäre sofort aufgefallen«, sagt Reddick, befeuchtet sich die Lippen und fährt schneller als zuvor fort: »Aber bald entdeckte ich etwas, worauf ich beim vorigen Mal überhaupt nicht geachtet hatte. Wahrscheinlich, weil sie damals noch nicht da waren.«
»Die Brandmale in der Ellbogenbeule?«, fragt Jusuf. Reddick nickt.
»Ich habe sie danach gefragt, aber Olga sagte, sie wolle nicht darüber reden. Erst dachte ich, die Male wären das Werk eines sadistischen Freiers, aber dann wurde mir klar, dass das nicht ins Bild gepasst hätte. Den Mädchen durfte man ja nur Gewalt antun, wenn man sie ganz für sich kaufte. Die Sache blieb also ein Rätsel für mich.«
»Wie bist du dann weitergekommen?«
»Ich begriff, dass ich erfahren musste, welche Nummer der Hotelangestellte anruft, um James zu kontaktieren. Das war der einzige Weg, das Ganze aufzudröseln, aber zugleich war es absolut unmöglich. Wenn ich dem Hotelmann das Handy gestohlen hätte, wäre die Bande aufgeschreckt und hätte ihre Tätigkeit unterbrochen. Ich steckte in einer Sackgasse. Kennt ihr den von Leonardo da Vinci entworfenen Kasten, der mit einem Nummerncode verschlossen ist und in dem ein wichtiges Pergament liegt? Man kann den Verschluss zwar gewaltsam aufbrechen, aber dabei zerbricht auch eine Essigröhre, die in ihm steckt, und das Pergament wird vernichtet. Hier war es ja genauso. Man musste extrem vorsichtig sein, um den Fall zu lösen.«
»Aber du hast Lisa gefunden?«, fragt Jessica.
»Masayoshi.fi«, antwortet Reddick. »Obwohl der Betreiber der Seite mit Hilfe des Tor-Netzwerks genial anonymisiert worden war, fanden unsere Techniker bald heraus, dass die Analytics-ID der Seite auch für die Analyse einer anderen Adresse verwendet worden war.«
»www.thelisayamamoto.fi«, sagt Jessica.
Reddick nickt und beugt sich vor.
»Das war eine seltsame Entdeckung. Sie wies darauf hin, dass eine der populärsten Bloggerinnen Finnlands irgendwie in die Sache verwickelt war.«
»Also hast du Verbindung zu ihr aufgenommen?«
»In den sozialen Medien hatte ich gesehen, dass sie nicht nur Bloggerin, sondern auch eine begabte Künstlerin war. Ich habe sie kontaktiert und ihr eine kommerzielle Zusammenarbeit vorgeschlagen. Angeblich war ich der Vertreter einer japanischen Kunstgalerie, in dieser Rolle habe ich ihr mitgeteilt, dass wir gut für Bilder bezahlen und dass ich ihre Werke gern sehen würde. Ich dachte mir, die Tatsache, dass wir beide japanische Wurzeln haben, könnte jedenfalls nicht schaden. Außerdem wurde in Den Haag in weniger als einem Tag eine Webseite mit Hintergrundstory geschaffen, für den Fall, dass meine Kontaktaufnahme Verdacht weckte. Ich habe über Instagram Verbindung zu ihr aufgenommen.«
»Und Lisa hat den Köder geschluckt und dich zu sich nach Hause eingeladen?«, fragt Jessica. Die Puzzlesteinchen fallen an ihren Platz, vielleicht sogar merkwürdig leicht.
»Genau. Ich habe Lisa am 20. November kurz nach fünf Uhr besucht. Wir haben vereinbart, dass sie ein Auftragsbild für mich malt. Dass ich fünftausend Euro dafür bezahle. Und dass wir unsere Zusammenarbeit später fortsetzen können.«
»Ein Leuchtturm, vor dem ein Mädchen in Schuluniform steht?«, meint Jusuf. Reddick nickt.
»Das hat Lisa selbst vorgeschlagen«, sagt er.
»Aber was war dein eigentlicher Plan?«, fragt Jessica skeptisch.
»Ich habe ein Abhörgerät unter Lisas Arbeitstisch befestigt«, antwortet Reddick und breitet versöhnlich die Arme aus. »Schon gut. Ich gebe zu, dass meine Methoden ein bisschen zwielichtig sind.«
»Die Geschichte ist erst am Anfang, aber du hast schon zweimal Sex mit einem Menschenhandelsopfer gehabt und illegal, ohne Gerichtsbeschluss, Lisa Yamamotos Wohnung abgehört. Außerdem hast du in Helsinki offiziell nicht einmal Amtsbefugnis«, stellt Jessica fest. »Aber erzähl nur weiter, ich möchte wissen, wie es ausgeht. Hat Lisa dir im Fenix auf der Toilette einen runtergeholt? War auch das für die Ermittlung relevant?«
Reddick scheint zum ersten Mal die Beherrschung zu verlieren. »Was zum Teufel ist dein Problem? Wir sind auf derselben Seite! Ohne mich hättet ihr noch viel weniger …«
»Reißt euch zusammen!«, sagt Hellu so streng, dass Reddick zusammenzuckt. Seine Augen sind so seelenlos geworden, wie Jessica sie von den Aufzeichnungen der Überwachungskamera in Erinnerung hat.
»Also habe ich in der Nähe des Hotels Posten bezogen und gehofft, dass ich das Handy in Lisas Wohnung klingeln hören würde.«
»Hast du es gehört?«
»Ja. Es war aber nicht Lisas iPhone, sondern ein älteres. Anfangs dachte ich, es wäre eine SMS, weil ich nicht gehört habe, dass Lisa sich meldete.«
»Dreimaliges Tuten«, sagt Jusuf.
Reddick nickt.
»Und dann hast du darauf gewartet, dass James beim Hotel vorfährt«, meint Jessica.
»Das geschah nicht, was natürlich nicht bewies, dass ich mich geirrt hätte. Es gibt ja zehn Abholstellen. Am Abend des zweiten Beschattungstages hielt James dann vor dem Hotel. Nur zwanzig Minuten, nachdem ich den Klingelton in Lisas Zimmer gehört hatte. Das war ein unglaublicher Moment. Die ganze Geschichte war so weit hergeholt, dass ich es kaum fassen konnte, als sich die einzelnen Teile zusammenfügten. Ich erinnere mich, dass ich vor Freude gejubelt habe. Lisa Yamamoto war tatsächlich in die Vermittlung dieser Frauen verstrickt.«
»Aber warum gerade Lisa?«
»Ich bin von der Annahme ausgegangen, dass Lisa entweder überhaupt nicht wusste, worauf sie sich eingelassen hatte, oder dass die Bande sie erpresst hat. Ich glaube, dass der Ring eine junge Influencerin einbeziehen wollte, deren Präsenz in den sozialen Medien sich auf die eine oder andere Weise nutzen ließ.«