»Als ich mich gerade von Frank Dominis verabschieden wollte, parkte James seinen Wagen vor dem Restaurant. Da ich wusste, dass er mich erkennen würde, bin ich sofort verschwunden. Hinter der nächsten Ecke blieb ich allerdings stehen, um die Situation zu beobachten, und sah, wie James dem Portier etwas zusteckte. Da wurde mir klar, dass Alem der Kontaktmann im Fenix ist«, berichtet Reddick.
Jessica blickt zum Fenster hinaus. Sie hat die Aufzeichnung des Verhörs von Sahib Alem gehört, dessen Aussage Reddicks Bericht lückenlos zu bestätigen scheint.
»Und am Abend bist du zu der Party gegangen?«, fragt Jusuf.
Reddick nickt. »Als Erster.«
»Warum hast du nicht einfach bei Lisa geklingelt?«
»Kapiert ihr denn nicht? Es ging darum, sie als Denunziantin zu binden. Ich wollte Lisa unter Druck setzen, damit sie redet, aber mir war auch wichtig, dass wir zusammen gesehen wurden. Sie sollte wissen, dass unser Plauderstündchen von der Überwachungskamera aufgenommen wurde. Und dass die Führungskräfte des Menschenhandelsrings über dergleichen nicht erfreut sein würden.«
»Es war also deine Methode, Lisa zu bedrohen?«
»Ja.« Reddick setzt wieder die kühle, analytische Miene auf, die sie von der Aufnahme der Überwachungskamera kennen.
»Aber es hat nicht geklappt«, stellt Jusuf fest.
»Ich habe Lisa gesagt, dass ich ihren Anruf am nächsten Vormittag erwarte. Und ich war mir ziemlich sicher, dass sie ernsthaft darüber nachdachte.«
»Aber dann verschwand sie«, sagt Jessica. Die Luft im Zimmer ist drückend geworden. Alle Anwesenden scheinen über dieselbe Frage nachzudenken. »Dein gewagtes Spiel hat sich gerächt, Reddick.«
»Das können wir nicht mit Sicherheit wissen.«
»Wieso nicht?« Jessica lacht auf. »Du wolltest, dass Lisa in deiner Gesellschaft gesehen wird, weil du glaubtest, das würde sie davon überzeugen, dass sie den Mund aufmachen muss. Stattdessen ist genau das passiert, womit du ihr gedroht hast. Die Typen haben kapiert, dass du Polizist bist, Reddick. Und sie haben Lisa umgebracht.«
»Das ist reine Spekulation!«
»Red keinen Scheiß!« Jessica steht auf. »Was zum Teufel hast du denn geglaubt, was passieren würde? Du schleichst dich bei einer Party der Promis von Helsinki ein, wo Informationen so schnell die Runde machen wie die Leute Wangenküsse austauschen! Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
»Niemi«, sagt Hellu leise.
»Verdammt nochmal, red mich nicht so an, Hellu«, faucht Jessica auf Finnisch. »Gibt es einen schlimmeren Dienstfehler als den, den dieser Held hier begangen hat? Und wenn man bedenkt, dass er auch noch in Lisas Zimmer zurückgekehrt ist, Beweismaterial mitgenommen und zwei Polizeikräfte attackiert hat, frag ich mich, warum zum Teufel du diesem Arschloch die Stange hältst.«
Hellu wirkt verärgert. Sie steht langsam auf und geht ans Fenster. Auf dem dunkelbraunen Fensterbrett steht ein Dutzend kleine Zimmerpflanzen – alle in weißen Übertöpfen.
»Ich bin derselben Meinung wie Hauptmeisterin Niemi«, erklärt Hellu schließlich auf Englisch, die Hände in die Hüften gestützt. »Du hast unvorsichtig gehandelt, was wahrscheinlich sowohl Lisa Yamamoto als auch Jason Nervander das Leben gekostet hat. Die Bande hat ihren Rückzug angetreten und nebenbei auch Jose Rodriguez ermordet, um ihre Spuren zu verwischen.«
»Hinterher ist es leicht, klüger zu sein«, sagt Reddick.
»Außerdem gibt es eine wesentliche Frage, die du noch nicht beantwortet hast«, fährt Hellu fort. Jessica registriert mit Genugtuung, dass die Hauptkommissarin zum ersten Mal für sie Partei ergreift. »Wenn Lisa in der Nacht zum Sonntag verschwunden ist und du keine Ahnung hast, wo sie sich aufhält … Wie bist du dann an ihre Hausschlüssel gekommen, mit denen du gestern die Wohnungstür aufgeschlossen hast? Ihre Mitbewohnerin hatte auch das Sicherheitsschloss verriegelt.«
Vorübergehend wird es völlig still im Zimmer, und Jessica stellt verwundert fest, dass sie darüber gar nicht nachgedacht hat.
»Ich habe sie im Fenix aus ihrer Handtasche gestohlen«, gesteht Reddick dann.
»Was? Jetzt verarschst du uns«, sagt Jusuf.
»Ich habe flinke Finger. Als Lisa sich kurz abgewandt hat, um mit jemand anderem zu reden, habe ich in ihre Handtasche gegriffen. Das müsste auch auf der Aufnahme zu sehen sein, wenn ihr genau hinschaut.«
»Hast du nicht damit gerechnet, dass Lisa das Fehlen der Schlüssel spätestens dann bemerkt, wenn sie nach Hause kommt?«
»Doch, natürlich.«
»Warum hast du dann bis Mittwoch gewartet?«
»Habe ich nicht. Ich habe versucht, in Lisas Wohnung zu gehen, sobald ich das Fenix verlassen hatte. Aber als ich die Wohnungstür öffnete, hörte ich jemanden unter der Dusche singen. Da war mir klar, dass dort zwei Frauen wohnen.«
»Wie spät war es da?«, fragt Jessica.
»Ich weiß nicht. Zehn Uhr vielleicht.«
»Essi hat erzählt, dass sie an dem Abend Geräusche gehört hat«, sagt Jessica zu Jusuf.
»Ich habe die Tür leise wieder zugemacht und bin zu meinem Auto gegangen, das ich vorsichtshalber ein Stück entfernt geparkt hatte. Dort habe ich in den sozialen Medien nach Informationen darüber gesucht, wie die Frau, die mit Lisa zusammenwohnt, aussieht. Und ich habe tatsächlich Fotos von dieser Essi gefunden. Also habe ich darauf gewartet, dass Essi auch ausging, es war ja noch früh für einen Samstagabend.«
»Aber Essi ist zu Hause geblieben«, stellt Jessica fest.
»Ja. Es ist den ganzen Abend niemand aus dem Haus gekommen. Irgendwann bin ich wohl auch kurz eingenickt. Als ich aufwachte, sah ich eine schwarzhaarige Frau vor der Haustür stehen. Da war es sicher schon nach drei Uhr nachts.«
»War es Lisa?«
»Anfangs war ich mir nicht sicher, aber als ich sah, dass die Frau in ihrer Handtasche wühlte, ging mir auf, dass sie die Schlüssel suchte. Ich wusste, dass die Klingel kaputt war, aber ich dachte, sie würde ihre Mitbewohnerin anrufen, damit die sie reinlässt.«
»Was passierte dann?«
»Lisa hat auf ihr Handy geschaut, aber nicht angerufen. Ich wollte schon aussteigen – ich konnte sie ja nicht in ihrem Partykleid in dem eisigen Wind erfrieren lassen –, aber plötzlich ging sie zu der Treppe an der Seite des Hauses.«
»Wo du mich aufs Zwerchfell geschlagen hast«, sagt Jessica.
»Ich bin ausgestiegen und ihr nachgeeilt. Sie hatte vielleicht hundert Meter Vorsprung und ging nicht besonders schnell. Aber als ich die Treppe zur nächsten Straße hinunterlief, war sie verschwunden.«
»Verschwunden?«
»Ja. Da fuhr irgendein Auto weg, deshalb nahm ich an, sie wäre dort eingestiegen.«
»Hast du das Nummernschild gesehen?«
Reddick schüttelt den Kopf. »In den Tagen danach habe ich in der Nähe der Wohnung Posten bezogen. Die Gelegenheit ergab sich erst am Mittwoch, als die Mitbewohnerin das Haus verließ.«
»Und da sind wir uns zum ersten Mal begegnet«, sagt Jessica und lehnt sich an das Fensterbrett. Sie wechselt einen verstohlenen Blick mit Hellu.
»Weißt du, was mit deinem Mädchen, Olga Belousova, passiert ist?«, fragt sie.
»Nein«, antwortet Reddick schnell.
»Wo warst du in der Nacht von Samstag auf Sonntag?«, fährt Jusuf fort, als hätte er Jessicas Gedanken gelesen.
Reddick wirkt verdattert. »Glaubt ihr etwa …«, stammelt er.
»Beantworte bitte die Frage«, weist Hellu ihn an.
»Wie ich schon sagte: Ich habe im Auto vor Lisas Haus gesessen und gewartet, dass die Mitbewohnerin herauskommt.«
»Kann das jemand bestätigen?«
»Überprüft von mir aus die Funkzellendaten«, sagt Reddick wütend.
»Das werden wir tun, verlass dich drauf«, sagt Jessica. Da dringt helles Licht ins Wohnzimmer. Jessica sieht durch das Fenster, dass ein Streifenwagen vor Hellus Haus hält.