Zum ersten Mal seit vielen Wochen ist der Himmel wolkenlos, und über der Töölö-Bucht liegt ein dunkles Universum, in das der Halbmond sein gelbes Licht wirft. Jessica sitzt auf einem Felsen unmittelbar am Ufer und lässt ihren Blick auf dem schwarz plätschernden Wasser ruhen. Am gegenüberliegenden Ufer ragen die großen Holzvillen aus dem 19. Jahrhundert auf, die die Romantik vergangener Zeiten ausstrahlen. Vom Meer her fahren kurze Böen über die Bucht, wie ein Gruß aus der Dunkelheit, die die kürzesten Tage des Jahres mit sich bringt. Jessica hat schon an mehreren Abenden hier gesessen, trockenen Weißwein aus einem Thermosbecher getrunken und nachgedacht – über das vergangene Jahr und über die Menschen, die bei den Ereignissen dieses Jahres eine Rolle gespielt haben. Über Lisa Yamamoto. Über Olga Belousova. Über Jusuf, Erne, Rasmus, Nina, manchmal auch über Hellu. Und natürlich über Frank.
Frank hat sein eigenes Fach in ihren Erinnerungen bekommen, denn im Gegensatz zu allen anderen kann Jessica ihn nicht einem Kontinuum zuordnen. Oder auch nur einer bestimmten Zeit oder einem Ort. Frank hat für sie nur einen kurzen Moment im November existiert, und doch kommt es ihr vor, als wäre er immer schon dagewesen. Wenigstens in irgendeiner Form. Für sie.
Ich habe die Nacht in ihrer wahren Bedeutung gesehen.
Jessica sieht Franks furchiges Gesicht und spürt seine raue, behaarte Brust an ihrer eigenen.
Das war echt.
Sie schließt die Augen.
Ihre Gedanken verzweigen sich, führen aber regelmäßig zu ihrer letzten Ermittlung.
Es ist vorbei, Jessica.
Sie weiß inzwischen, dass Akifumis Instagram-Profil im vergangenen Sommer in Helsinki angelegt wurde. Das hat sich schon letzten Freitag geklärt, wie Rasmus prophezeit hatte. Jusuf hat Jessica sofort angerufen, um ihr davon zu berichten, vermutlich aus alter Gewohnheit und weil er die Entdeckung mit ihr besprechen wollte. Aber Jessica wollte es nicht wissen. Sie hat Jusuf gesagt, er solle sie nicht mehr anrufen. Einige Tage später hat er ihr per E-Mail eine Zip-Datei mit den Bildern geschickt, die von Lisas Instagram-Account entfernt worden waren, und dazugeschrieben, es handle sich hauptsächlich um Lisas Selfies und Manga-Werke.
Jessica versucht, den Fall aus ihren Gedanken zu verdrängen. Sie weiß, dass die Zentralkripo ihn übernommen hat und dass Nathan Reddick, der fahrlässig gehandelt hat und von seinen Vorgesetzten getadelt wurde, in die Niederlande zurückgeflogen ist. Das ist alles, was sie über den Fall wissen muss. Sie ist nicht mehr bei der Polizei. Sie kann künftig fast alles sein, nur keine Polizistin. Die Welt steht ihr offen, aber sie spürt die Wände ihres Käfigs dennoch näher als je zuvor.
Wenn Jessica am Ufer sitzt, verliert sie manchmal jedes Zeitgefühl. Dann geht die Dämmerung in Dunkelheit über, und auf dem Gehweg um die Bucht sind anstelle der Jogger ziellos umherstreifende Gestalten unterwegs. Jessica hört Pfiffe, obszöne Bemerkungen und das Lachen betrunkener Jugendlicher. Dennoch hat sie keine Angst. Sie weiß, dass sie sich an einem sicheren Ort befindet, dass sie ein Teil des schneefreien Parkbodens ist, der genau wie sie selbst zahllose Geheimnisse in sich birgt.
Sie atmet den Geruch des Schilfs ein, den der kalte Wind ans Ufer trägt. Die Spitzen der Schilfrohre tanzen frei über dem Wasser, aber bald werden das Eis, das sich auf der Bucht bildet, und der Schnee, der darauf fällt, sie für einige Monate gefangen nehmen. In diesem Winter ist die Töölö-Bucht noch kein einziges Mal zugefroren.