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Es ist spät am Abend. Jessica liegt halb vor dem Fernseher und sieht sich die Pressekonferenz an, die früher am Tag aufgezeichnet wurde. Sie ist eine der Hauptnachrichten des Tages. Im Blitzlichtgewitter sitzen Helena Lappi, Jens Oranen und ein glatzköpfiger Boss von der Zentralkripo an einem Tisch voller Mikrofone. Sie sprechen der Reihe nach und wiederholen dieselben Worte: ausländischer Menschenhandelsring, Manga, Morde, Serie von Gewaltverbrechen, Prostitution, Ring und Europol. Jessica hört sie, hört aber nicht wirklich zu. Als sie die Manga-Zeichnungen auf dem Bildschirm sieht, schließt sie die Augen. Die Polizei hat ihre Karten auf den Tisch gelegt. Nun weiß der Zauberer, was die Polizei weiß, obwohl niemand seinen Zaubertrick versteht.

Wach auf, mein Schatz.

Jessica schlägt die Augen auf und spürt einen Druck auf der Brust. Als säße jemand auf ihr.

Ich möchte dir etwas zeigen, Jessica.

Eine knochendürre Hand bedeutet ihr, vom Sofa aufzustehen. Ihre Mutter legt die weißen Finger um die Stuhllehne, als wäre sie ein Vogel, der sich mit scharfen Krallen an eine Stange klammert.

Als Jessica sich aufsetzt, spürt sie das Gewicht eines Kleinkindes auf ihrem Schoß.

Die braunen Locken berühren Jessicas Wange. Der Junge hat seine Arme um ihren Hals gelegt, sein Kinn ruht auf ihrer Schulter. Jessica sieht sein Gesicht nicht, weiß aber, dass sie das Kind in ihren Armen von ganzem Herzen liebt.

Kommt her.

Das Gefühl zu ersticken breitet sich rasend schnell in der Kehle aus. Jessica möchte weinen, sie spürt den weichen Körper des Fünfjährigen. Sie hört den Jungen schnaufen, der Geruch seiner sauberen Haare steigt ihr in die Nase. Ich habe dich so vermisst, Toffe.

Der schöne Toffe, dessen kleiner Körper unter Mutters Sitz zerquetscht wurde.

So, Kinder, kommt jetzt.

Die Stimme gehört einem Mann. Ist es Papa? Wie klingt Vaters Stimme überhaupt?

Jessica sieht Toffes Gesicht nicht. Aber als sie einen Blick auf das Sofa wirft, merkt sie, dass jemand darunterkriecht. Jemand, dessen Gesicht ein schwarzes Loch ist. Akifumi

Jessica hört Toffe schnarchen. Ich kümmere mich um dich, Toffe.

Schau sie an, Jessica.

Die Mutter tritt zur Seite, und nun sieht Jessica, dass viele Menschen am Tisch sitzen. Sie alle verbergen ihr Gesicht hinter der Maske des japanischen Politikers. Hinter den Masken wird leise getuschelt. In Jessicas Ohren klingt es, als würden die kleinen Beine von Insekten über den Fußboden, in den Wänden und auf der Dachpappe schaben.

Das Wohnzimmer sieht anders aus. Die Gemälde sind von den Wänden verschwunden, und die weiße Farbe ist dunkelblau geworden.

Ich bin es nicht, sagt eine der Gestalten und legt die Maske ab. Franks Gesicht ist weiß, und an der linken Schläfe prangt das Loch, durch das die Kugel ausgetreten ist.

Nein, du warst es nicht.

Ich habe die ganze Zeit auf die falsche Karte geschaut, sagt eine Frau und nimmt ihre Maske ab. Ein dunkelblauer Hals und ein gebrochener Nacken verbinden ihre grün und blau geschlagenen Schultern mit dem aufgeschwollenen Gesicht. Jessica erkennt sie nicht gleich.

Ein Taschenspielertrick, sagt eine andere Frau.

Moment mal, wer

Im selben Moment begreift Jessica, warum sie alle mitten in der Nacht am Esstisch in ihrem Wohnzimmer sitzen, warum ihre Mutter sie hergerufen hat. Sie richtet den Blick auf die hochgewachsene Gestalt am Tischende, deren weiße Haare über die Schultern fallen. Und nun nimmt auch diese Gestalt ihre Plastikmaske ab.

Ich bin nicht Akifumi. Ich wurde betrogen, wie ihr anderen auch.

Der Frau wurden büschelweise Haare ausgerissen. Ihr Gesicht wurde mit einem stumpfen Gegenstand geschlagen. Vielleicht mit der Faust.

Siehst du es nicht, Jessica, sagt die Mutter. Das Fleisch und der Knochen, die unter ihrer zerfetzten Haut hervorschauen, bewegen sich im Takt ihrer Worte.

Der Zauberer ist kein Zauberer. Es ist eine Illusion.

Überleg dir, wohin Akifumi deinen Blick lenken will. Und dann schau in die entgegengesetzte Richtung.

Wieder hört Jessica ein Rascheln unter dem Sofa. Und plötzlich spürt sie, wie das Kind in ihren Armen seine Rundungen verliert, das vertraute Gewicht wird todesleicht, die warmen, weichen Arme sind nur noch Knochen.

Toffe!

Jessica versucht zu schreien, doch die Stimme bleibt ihr im Hals stecken.

Da hört sie ein forderndes Klingeln, das sie aus dem nächtlichen Wohnzimmer zieht, einerseits ans Licht, aber andererseits in vollkommene Einsamkeit. Im Licht hat sie niemanden.