24. DEZEMBER 1995

Heute gehe ich nicht aus dem Haus. Ich hole mir Ruis Stuhl vor den Fernseher und esse die ganze Zeit Popcorn, trinke Coca-Cola und zappe durch die Programme, Sport, Zeichentrickfilme, ein Bauchredner, der sich mit einer Ente unterhält, italienische holländische belgische spanische marokkanische Nachrichtensendungen, die Lichter von Estoril unscharf vom Regen, Schiffe rinnen an den Fensterscheiben herunter, das hastige Flüstern von Luís Filipe am Telefon, der sich wegen seiner Ehefrau, der Kinder, der Enkel die Fingerchen vor den Mund hält

– Ich muß auflegen Liebling du hast mein Geschenk doch erhalten frohe Weihnachten frohe Weihnachten

einen in Cellophan gewickelten Blumenstrauß mit einer Visitenkarte und einen Scheck, ein Armband in einem Etui, eine Schachtel Pralinen, ein Kleid, alles übereinandergeworfen dort auf dem Sofa, das Armband zu weit, der Scheck zu klein, das Kleid eine Nummer zu groß, die Blumen um ein Haar Grabgebinde, wahrscheinlich hat er sich eine andere Geliebte angeschafft, eine Sekretärin, eine Schreibkraft, eine junge Betriebswirtin, wahrscheinlich bin ich gestorben, Carlos rechnet mit leuchtenden Augen den Wert der Wohnung aus und konvertiert ihn in einen Parkettfußboden in Ajuda, Lena konvertiert das Mobiliar in eine Kreuzreise zu den Kanarischen Inseln, Rui konvertiert Wohnung und Mobiliar in gar nichts, sondern sucht Joghurt und Erdbeereis im Kühlschrank und ruft mich

– Clarisse

damit ich ihm die Comichefte, die Pfefferminzbonbons, das Schneewittchenpuzzle hole, das in der Reisdose in der Speisekammer steht und dem die Teile mit der Hexe und die Hälfte der Zwerge fehlen, das er aber dennoch heiß und innig liebt, wenn mein Vater hier wäre, würde er mir die Hand auf die Schulter legen und lächeln, ich erinnere mich an ihn als an einen kleinen lächelnden Mann im Schlafanzug, heute gehe ich nicht aus dem Haus, ich stelle den Stuhl vor den Fernseher

(das ist nicht wahr, ich erinnere mich an noch mehr, zum Beispiel, daß er mein Dreirad mit einer Heugabel schob, mir Puppen aus Papier ausschnitt, mich auf den Arm nahm und ich mit den Armen dorthin gelangte, wohin niemand gelangte, an die Lampe, an die Gardinenstangen, an die Zweige der Bäume, Carlos eifersüchtig

– Die Zweige der Bäume Angeberei)

ich werde so lange durch die Programme zappen, bis die Schlaftablette wirkt, sie wirkt nie zuerst im Kopf, ihre Wirkung beginnt in den Füßen und steigt auf, wenn, einmal angenommen, die Haustürglocke klingelt, höre ich es genau, schaue auf die Uhr, frage mich, wer das ist, will aufstehen und kann nicht gehen, wache Jahrhunderte später auf dem Sofa um elf Uhr vormittags auf, die Sonne lastet ganz still auf meinen Knien, zusammengerollt wie eine Katze, die Sonne springt, sobald ich mich recke, lautlos, schmollend auf den Teppichboden, die Füße wachen auf, der Rest des Körpers wacht auch auf, nur das Streichholz nicht, das den Gasbrenner vom Herd nicht trifft, auf dem die Kaffeekanne wartet, die Sonne streift, oben auf der Spüle hockend, mit den Pfötchen über die Teller und die Gläser, spielt mit mir, fordert mich heraus, wenn ich versuche, sie zu packen, beleuchtet sie mir die Handgelenke, wie süß, wenn die Hausmeisterin noch einmal fragt

– Wie wäre es mit einer Katze gnädiges Fräulein?

sage ich ja, ich habe nur Angst vor einem zerfetzten Sessel und zerfetzten Teppichen, vor Luís Filipes Reaktion

– Was ist denn hier los?

(bis zu den Zweigen der Bäume, wenn wir wollten, bis zu den Wolken, Carlos, der so gern bei meinem Vater auf dem Schoß gesessen hätte, der ihn aber nicht auf seinen Schoß setzte, er tat es nur mit mir, bewegte die Glaskugel, in der Schnee fiel, und tat ganz unbeteiligt

– Angeberei

obwohl ich ihn häufiger dabei erwischt hatte, wie er herumsprang und versuchte, die Blätter zu berühren

– Das ist doch keine Angeberei nicht wahr Vater?

mein Vater, der nicht immer krank gewesen war, bot ihm das andere Bein an

– Komm wir gehen alle drei zum Chinabaum

Carlos hielt, die Arme verschränkt, die Tränen zurück, was man an seinem roten Gesicht merkte

– Ich gehe nicht mit

wenn Afrika und der Whisky nicht gewesen wären, würde ich nicht hier wohnen)

das Problem mit der Katze ist, daß Luís Filipe keine Tiere erträgt, an dem einzigen Wochenende, das wir, als seine Frau mit ihren Schwägerinnen zum Shopping nach London gefahren war, an der Algarve verbracht haben, landete eine Bremse auf seiner Krawatte, und er aus dem Mundwinkel, reglos, während er die Krawatte so weit wie möglich weghielt, ich habe noch nie jemanden plötzlich konkav werden sehen, vor allem niemanden so Dicken gesehen, die Brust konkav wie eine Schüssel, das Kinn am Kragen, Augen, die schielend das Tier anstarrten

– Du liebe Güte nimm das da weg

das Wort Liebe hatte ich überhaupt noch nie von ihm gehört, Darling ja, Baby, Schatz ja, aber Liebe, Liebste, von wegen, aus Angst, ich könnte ihn bitten, mit mir zu leben und sich scheiden zu lassen, er schrieb auch keine Briefe und unterzeichnete die Kärtchen von den Blumen nicht, er unterzeichnete die Schecks, weil ich sie einlöste und daher nicht als Beweis benutzen konnte, er führte mich nicht ins Kino nicht in die Oper nicht in bekannte Restaurants aus, denn die Ehefrauen geben keine Ruhe, bis sie Anwälte einschalten und einen Skandal auslösen, Entschädigungen verlangen, ihren Geschäften schaden und ihnen mit den Scherereien wegen auf der Lauer liegenden Zeitungen das Leben zur Hölle machen, daher brauchte es ein beschissenes Insekt auf der Krawatte, damit Luís Filipe, die Schultern zurückziehend

(mein Vater hielt Carlos an der Taille, hob ihn ganz hoch, Carlos erreichte die Zweige des Chinabaums, mein Vater verstrubbelte ihm das Haar

– Kleiner Dummkopf

Carlos, die Arme erhoben, rot, aber anders rot als vom Weinen

– Mehr

wenn Afrika und der Whisky nicht gewesen wären, würden wir nicht hier wohnen)

Luís Filipe vier oder fünf Meter hinter seiner Krawatte, oder besser gesagt, der mit der Bremse geschmückten Krawatte, und er in der Ferne, am Ende der plötzlich endlos langen Veranda

– Um Gottes willen nimm das da weg Liebste

das Meer an der Algarve, der Strand, eine Reihe Fischerboote am Horizont, Büsche wie die Büsche in Angola, Hunderte von Insekten, die ein sanfter Wind gebracht hatte, die Bremse verschwand mit einem Fingerschnippen, und Luís berappelte sich wieder, schwoll an, erzählte Geschichten von Dutzenden enger Freunde, die von Bienen, Wespen, Heuschrecken, kleinen Libellen ermordet worden waren, während er die Krawatte betrachtete, sie mit zwei Fingern aus Angst vor giftigem Geifer heranzog, zögerte, desinfiziere ich sie nun mit Alkohol oder nicht, ich könnte die Katze von der Hausmeisterin nehmen und sie dienstags und sonntags nachmittags in der Küche mit einer Untertasse voll Milch und diesem Fressen aus der Werbung einschließen, das sie zu glücklichen Wesen mit so grünen Augen macht, daß ich beim Anblick eines Mannes mit solchen Augen in Ohnmacht fallen würde, während der kühleren Jahreszeit strichen die Wildkatzen wegen der Hühner um die Senzala, Josélia hat mir erzählt, daß sie ein Kind, das fast so alt wie ich war, in den Busch geschleppt, es unter sich aufgeteilt haben, ein Ohr für dich, ein Ohr für mich, die Nase für die da, die Zehen für die Jungen, ich wagte nicht auf die Terrasse zu gehen, weil ich Angst hatte, sie könnten mir so viel wegnehmen, mein Vater, indem er die Zeitung senkte

– Kleiner Dummkopf

er schob mich mit einer Heugabel auf dem Dreirad um den Wassertank, schob Carlos, schob Rui, die Wildkatzen haben aus Achtung vor meinem Vater, der nicht einmal eine Zwille dabeihatte, nichts getan

(wenn Afrika und der Whisky nicht gewesen wären, würden wir nicht hier wohnen)

die Neger tranken auf den Stufen der Ladenkneipe Bier, ein Frosch sprang von einer Pfütze in die andere, meine Mutter tauchte zornig auf meinen Vater an der Fensterbrüstung auf, und mit meiner Mutter tauchten das Haus und das Geräusch der Uhr auf

– Solange die Kinder sich bei der Feuchtigkeit nicht erkältet haben gibst du wohl keine Ruhe oder?

das Haus, das Geräusch der Uhr und der dunkle Korridor, in dem die Sonnenblumen wisperten, wie sie auch in der Anrichte

– Clarisse

wisperten, ich blieb stehen, um zu hören, und die Sonnenblumen schwiegen, ich begann mich wieder zu bewegen und die Sonnenblumen

– Clarisse

das habe ich nicht erfunden, das ist wahr, ich habe es meiner Mutter erzählt, und meine Mutter, die die Karten für eine Patience auslegte

– Blödsinn

ich habe es meinem Vater erzählt, und mein Vater nahm die Taschenlampe

– Los komm hören wir sie uns an

Stengel über Stengel, die größer waren als ich, Wimpern so groß wie Zungen, die aus leeren Fünfliterflaschen und Maisähren gebauten Vogelscheuchen, die der Vorarbeiter auf Bambusstäbe steckte, um die Gänsegeier zu vertreiben, die Sonnenblumen wisperten nicht, nur der Wind in den trockenen Blättern und die Flügel der Eulen auf der Suche nach Mäusen und winzigen Kaninchen, ein menschliches Quieken dicht am Boden, die Schatten, die die Wolken nach Süden verschoben, oder das Klagen der Welt, das dem nächtlichen Wabern des Friedhofs glich, kleine blaue von Stein zu Stein hüpfende Flammen, mein Vater roch nicht nach Alkohol, er roch nach meinem Vater, meine Großmutter roch nach altem Menschen, Luís Filipe roch, wenn er ohne Kölnisch Wasser und Deodorant aus dem Bett stieg, auch nach altem Menschen, die Hand auf meinem Gesicht riecht nach altem Mann mit braunen Sommersprossen und den weichen Greisenfingern, die Wergbüschel des ihm verbliebenen Haars, das in haarspraygehärteten Fäden vom Nacken hochkam, rochen nach altem Mann, die Beine und die dünnen, haarlosen Arme und der dicke weiche Leib rochen nach altem Mann, einmal habe ich ihn dabei erwischt, wie er sein Gebiß mit der Bürste reinigte, und da war er der älteste alte Mann, dem ich jemals begegnet bin, ich fühlte etwas in mir und dachte, wie grauenhaft, mein Gott, ich kann ihn einfach nicht küssen, und wenn meine Mutter es ahnen würde, bekäme sie einen Herzkasper, wenn mein Vater es ahnen würde, würde er die Taschenlampe nehmen, und wir würden beide trotz der Feuchtigkeit durch die Sonnenblumen, zwischen den Stengeln hindurchgehen, wenn Afrika und der Whisky nicht gewesen wären, würde ich nicht hier wohnen, wo ich die ganze Nacht vor dem tonlosen Fernseher sitzen, Popcorn essen, Coca-Cola trinken und durch die Programme zappen werde, Sport, Zeichentrickfilme, der Papst, ein Bauchredner, der mit einer Ente spricht, italienische holländische belgische spanische marokkanische Nachrichtensendungen, und dem Wispern der Sonnenblumen zuhören

– Clarisse

die Wildkatzen, die Käuzchen, ein Kaninchen, das in seinen Bau taucht, wenn wir Gäste hatten, holte Josélia uns aus dem Garten, wir gingen durch die Hintertür hinein, setzten uns um den Küchentisch, Maria da Boa Morte knotete uns Servietten um den Hals, Carlos aß allein und machte sich nicht schmutzig, ich aß allein und machte mich ein bißchen schmutzig, Maria da Boa Morte fütterte Rui mit Suppe und wischte ihm jedesmal, wenn er schluckte, das Kinn mit der Serviette ab, Damião und Fernando trugen Saucieren, Terrinen, Weinkannen, Kuchen hinaus, die wir erst am Tag darauf probieren durften, wenn die Schlagsahne hart war, von Rissen durchzogen zerbröselte und nach gezuckertem Gips schmeckte, Josélia zerteilte den Kuchen in drei Stücke, die uns pappsatt machten, meine Mutter, elegant und jünger, fröhlicher, nahm mich und Rui mit in den Salon, in dem die beiden Lüster brannten, der unser Salon war und es gleichzeitig nicht war, in dem ein Dutzend ebenso überschwengliche Damen wie sie sich aufhielten und ein Dutzend Herren rauchten, alles Leute, die ihnen tagsüber ähnelten, dann aber arm und häßlich und so aussahen, als hätten sie Kopfschmerzen, Carlos blieb mit Maria da Boa Morte und Josélia in der Küche, die Damen, als hätten sie uns noch nie gesehen

– Wie groß sie sind

Damião brachte uns wieder zu Carlos zurück, der den Teller absichtlich fallen ließ, die Spaghetti und das Fleisch lagen mit Porzellanscherben vermischt auf den Fußbodenfliesen, Lady, die zu schlafen schien, sprang aus ihrer Ecke und näherte sich schnüffelnd, durch das geöffnete Fenster sah man die Dochte der Senzala und das Bündel aus Gras brennen, über dem sie die Häute für die Trommeln dehnten, es gab ein Klingeln von Gläsern, ein Herr sagte weiß ich was, eine der Damen begann wie eine Gans zu lachen

– Das glaube ich nicht das glaube ich nicht

Carlos, der nicht aufhörte mit den Augen zu zwinkern, ließ Ruis Teller absichtlich fallen, ganz in der Nähe von Lady, die erschreckt floh, Rui fing an zu weinen, und nun war es nicht mehr nur eine Gans, sondern Hunderte, die lachten, dazu noch die Gläser, dazu noch die Uhr ganz schnell, doch der Herr, der weiß ich was gesagt hatte, empört, als würde er die Vögel mit einem Stock vertreiben

– Ich schwöre bei meiner Gesundheit daß es wahr ist

mein Vater in der Küche

– Carlos

Carlos, der die Treppe hinaufrannte

– Lassen Sie mich los

hatte weder Lust, auf dem Dreirad geschoben zu werden, noch zum Chinabaum zu kommen, hatte zu gar nichts Lust, die Gänse schwiegen, die Gläser schwiegen, die Uhr schwieg, der Herr, der das Gelächter mit der Stimme vertrieben hatte

– Bei meiner Gesundheit daß es wahr ist

schwieg auch, mein Vater sah die Treppe an, ich dachte

– Er geht jetzt hinauf

sah Rui an, sah mich an, sah an die Decke, wo Carlos’ Schritte auf und ab gingen, erst schien es so, als würde er sprechen, dann schien es so, als wäre er unendlich alt geworden, er suchte in der Speisekammer herum, bis er eine Flasche gefunden hatte, entkorkte sie, ging langsam in den Salon zurück, Josélia und Maria da Boa Morte redeten ohne Worte über ihn, am nächsten Tag hatte Carlos meine Kittelschürze mit der Schere zerrissen und das Aufziehauto von Rui zerbrochen, meine Mutter erhob den Pantoffel, was meine Großmutter guthieß, Carlos mit ausgestreckter Hand

– Es tut überhaupt nicht weh

Fernando warf den Pfauen Körner hin, die Mähmaschine kletterte mit dem Fahrer, der oben auf dem vibrierenden Bänkchen hockte, einen Hügel hinauf und tauchte ins Innere der Erde, mein Vater auf dem Sofa bestand nur aus seinen übergeschlagenen Beinen und der Zeitung, der Schuh, der den Teppich nicht berührte, tanzte, Schlamm auf seiner Spitze, ganz allein, meine Großmutter legte die Häkelarbeit zur Seite, Kinn und Nase berührten einander wegen der fehlenden Zähne beinahe

– Ich bin nicht die Großmutter eines Mischlings

die Zeitungsseiten fielen in sich zusammen, als würde mein Vater dahinter verwelken, die Beine schlugen sich in entgegengesetzter Richtung übereinander, kleiner Dummkopf, solange die Kinder sich bei der Feuchtigkeit nicht erkälten, gibst du wohl keine Ruhe, oder, Schüsseln, Saucieren, Terrinen, Weinkannen, Kuchen, die wir erst am nächsten Tag probieren durften, wenn die Schlagsahne hart war und von Rissen durchzogen zerbröselte

– Ich bin nicht die Großmutter eines Mischlings

und nach gezuckertem Gips schmeckte, meine Mutter zu meiner Großmutter, indem sie den Pantoffel losließ und mit den Augen zwinkerte wie Carlos

– Ich habe nie geglaubt daß Sie so gemein sein können

der verständnislos von einer zur anderen ging, der sich darum bemühte, daß sie es ihm erklärten, der niemanden verabscheute

– Was heißt das Mischling sein Mutter?

Carlos und Lena

du hast ihn geheiratet, weil du dachtest, mein Bruder wäre reich, um dich vom Musseque zu befreien, bessere Kleidung zu tragen, auf der Fazenda zu leben, Dienstboten, Geld zu haben, den Gouverneur und den Bischof zu kennen, du hast Carlos akzeptiert wie ich Luís Filipe

– Ich muß auflegen Liebling du hast doch meine Weihnachtsgeschenke bekommen fröhliche Weihnachten fröhliche Weihnachten

denn eine Anstellung in einer Boutique oder bei einem Friseur oder einer Galerie und ein Mann in einer Werkstatt, nein danke, morgens um sechs Uhr aufstehen, völlig erschossen nach Hause kommen, mit dreißig wie fünfzig aussehen, wenn Afrika und der Whisky nicht gewesen wären, würde ich nicht hier wohnen

Carlos und Lena warten im Mäusenest von Ajuda auf mich, und ich sitze vor dem Fernseher, esse Popcorn, trinke Coca-Cola und zappe durch die Programme, Sport, Zeichentrickfilme, italienische holländische belgische spanische marokkanische Nachrichtensendungen, die Lichter von Estoril unscharf vom Regen, Schiffe rinnen an den Fensterscheiben herunter, ein Blumenstrauß mit einer Visitenkarte und ein Scheck, ein Armband in einem Etui, eine Schachtel Pralinen, ein Kleid, ich bleibe in Estoril und blicke auf die vom Regen unscharfen Lichter von Estoril, auf die an den Fensterscheiben herunterrinnenden Schiffe, meine Großmutter zum Korridor hin

– Meine Tochter beleidigt mich ohne Respekt vor mir in meinem eigenen Hause wie gut daß du nicht mehr bei uns bist Eduardo und nicht auch noch diese Erniedrigung erleben mußtest

Carlos auf einem Stein im Fluß, dort unten, unter dem Glöckchengeklingel der Leprakranken, die Baumwolle auf dem anderen Ufer, die besser gehalten war als unsere, gehörte nicht uns, gehörte der Cotonang, bei der mein Vater als Junggeselle gelebt hatte, die hinter dem Friedhof und längs der Schotterpiste nach Salazar gelegene gehörte auch der Cotonang, den blonden Ingenieuren, dem Staat, der den Postenchefs keinen einzigen Heller für die Bailundos aus Huambo zahlte, die jünger und stärker waren, die sechs oder sieben Ernten hintereinander mit Cipaios durchhielten, die sie zwangen, doppelt soviel zu arbeiten und die ihnen die Hälfte dessen zu essen gaben, was unsere aßen, ich hockte mich neben Carlos, und Carlos

– Hau ab

reglos im Dorf der Leprakranken, scherte sich weder um die Nacht noch um Josélia noch um meine Mutter auf der Terrasse noch um die Leoparden noch um die Wildkatzen, bis mein Vater ihn holen ging und ihn, der wütend strampelte, auf dem Arm zurückbrachte

– Lassen Sie mich los

ich saß auf einem Stein in Baixa do Cassanje

(wie jetzt alles zittert, das Haus, die Pfauen, die Azaleen, wie alles um mich herum jetzt zittert)

so wie ich hier jetzt auf Ruis Stuhl sitze und auf die Wirkung der Schlaftablette warte, auf Zehenspitzen hole ich die Glaskugel aus dem Sekretär, in der der Schnee um den Schlitten, um die Rentiere, um den bärtigen Mann, in mir, um die Geschenke von Luís Filipe, um das Sofa, um den Plunder herum goldene Pailletten wirbelt, den ich anfangs hübsch fand und heute zum Fürchten, was soll ich mit einer vernickelten Bar, einem Spiegel an der Decke, über den die Angestellten, als sie ihn montierten, die ganze Zeit gelacht haben, sie haben ein- oder zweimal angerufen und mich zum Ausgehen eingeladen und mich dabei geduzt, mit diesen zwei auf der Kommode hockenden potthäßlichen Porzellanhündchen im Ming-Stil, zu denen der Besitzer des Antiquitätenladens, als ich sie ihm unter tausend Vorsichtsmaßnahmen auf den Ladentisch stellte, damit er sie schätzte, meinte, er riete mir, sie der Hausmeisterin zum Geburtstag zu schenken, Luís Filipe, der erstaunt tat, zeigte auf ein paar orientalische Krakel auf dem Sockel

– Du erlaubst dir wohl einen Scherz mit mir das kann nicht sein

ich zeigte auf einen Stempel rechts neben den Krakeln, den man offensichtlich abzukratzen versucht hatte

made in Singapur

Luís Filipe schusterte Entschuldigungen zusammen

– Das ist extra dort angebracht worden um keinen Zoll zu zahlen

brachte mir in der Woche darauf sündhaft teure Goldohrringe mit, um sich zu entschuldigen, und ich hopp raus damit aus dem Fenster, was mir, Ehrenwort, bis heute die allergrößte Freude in meinem Leben bereitet hat

– Ich bin allergisch gegen Talmi mein Bester mir brennen davon die Ohren

das hat gewirkt, an diesem Abend hat er jede Stunde angerufen, im Badezimmer eingeschlossen, was man am Wasser- und am Kachelecho seiner Stimme erkannte, kaum fing er an

– Schatz

hängte ich den Hörer auf die Gabel, kurz darauf, zweimaliges Klingeln

– Schatz

Gabel, kurz darauf zweimaliges Klingeln

– Schatz

Gabel, kurz darauf zweimaliges Klingeln

und dann nach dem

– Schatz

echote auch seine Frau auf den Kacheln, doch von der Entfernung gedämpft

– Was machst du da mit dem Telefon im Klo Luís Filipe?

eine Frau mit lila gefärbtem Haar, ohne Taille, mit schlaffen Schenkeln, die ich beim Zahnarzt in einer Dekorationszeitschrift gefunden habe, wo sie den Reportern die Schätze des Hauses erklärte, und gleich auf dem Eingangsfoto zwischen zwei Porzellanhündchen posierte, die meinen in ihrer Häßlichkeit, in ihrem blöden Gesichtsausdruck, ich wette auch in ihrem schlecht abgekratzten made in Singapur und allem aufs Haar glichen, ich hätte ihr gern aus weiblicher Solidarität geschrieben und ihr empfohlen, sie ihrer Hausmeistersfrau zum Geburtstag zu vermachen und mindestens Ohrringe aus echtem Gold zum hopp aus dem Fenster Werfen zu verlangen, eine Frau im Alter meiner Mutter, die Glück hatte, nicht auf der Flucht vor der Unita und den Truppen der Regierung in Baixa do Cassanje hierhin und dorthin zu trotten, niemals die Freunde inmitten von zermalmten Armen, Beinen und Köpfen zu suchen, die sich im kaputten Kühlschrank des Krankenhauses von Malanje stapelten, wir erkannten sie an einem Ring, einer Haarsträhne, einer Narbe, die die Bombe verschont hatte, der Hälfte eines an die Hälfte eines anderen Gesichtes gelehnten Gesichtes, und der Geruch und die Fliegen und die Angestellten der Leichenhalle, die die Metallzähne in der Hoffnung ausbrachen, sie nach dem Ende des Krieges ebenso zu verkaufen wie die verkohlten Sandalen, Freunde oder Leute, die wir im Gymnasium oder im Café begrüßten, nicht nur in der Leichenhalle, auf den Fluren, den Krankenstationen, innerhalb der Umzäunung, es ist seltsam, ohne es zu merken, auf Hände, Finger, nachgebende Muskel wie auf Blätter oder Zweige zu treten

Quallen am Strand Quallen

und jetzt Ming-Hündchen, eine vernickelte Bar, den Schwachsinn eines Spiegels an der Decke, den Luís Filipe himmlisch findet

Quallen am Strand

als die Reporter der Zeitschrift das Schlafzimmer fotografiert haben, gab es keinen Spiegel an der Decke und auch keine hauchdünnen Vorhänge, auch keine Bilder mit Nymphen, da gab es Sakristeimöbel und ein riesiges Kruzifix mit einem Jesus, der die Augenbrauen zusammenzog

am Strand Qual

und ihm lyrische Ideen aus dem Kopf trieb, ich glaube nicht, daß es die Fazenda, den Chinabaum oder die Pfauen noch gibt, die Soldaten haben die Pfauen gebraten, als sie unser Haus zerstört haben, wahrscheinlich sind die Nashornvögel und die Setter noch da, verschlingen einander heulend in den Beeten, wenn Afrika und der Whisky nicht gewesen wären, und mein Vater nicht gestorben wäre, würde ich nicht hier wohnen, wir würden die numerierten Fensterchen

am Stra

vom Adventskalender aufmachen, eins zwei drei vier, Engel und Hirten und Schafe finden, das Christkind am fünfundzwanzigsten, Unsere Heilige Mutter Gottes ohne Sünde empfangen und den heiligen Josef mit grauhaariger Großvaterwürde, wenn es Afrika und den Whisky nicht gegeben hätte, würde mein Vater dienstags und sonntags nachmittags ein angolanisches Mädchen in meinem Alter, das einen epileptischen Bruder hat, in einer Wohnung in Estoril besuchen, die wie meine mit Trödelpretiosen eingerichtet wäre, sie Liebling, Schatz nennen, Anekdoten über Kollegen erzählen, mich bitten, ein paar Mädchen zu besorgen

– Kennst du nicht ein paar nette Kleine?

um ein Geschäft mit den Gesellschaftern der Firma zu feiern, wir werden Platten mit romantischer Musik auflegen, das Licht etwas runterdrehen, japanische Kerzen anzünden, tanzen

Quallen am Strand Quallen am Strand Quallen am Strand

wir werden uns wahnsinnig amüsieren, du wirst schon sehen, oder mit anderen Worten, überquellende Aschenbecher, Tattergreise, die kaum noch Luft kriegen, einen kneifen, Carlos wartet in Ajuda auf mich, wird bei jedem Autobus, den Regenschirmen, die die Avenida heraufkommen, den Lampen der Taxis munter, wenn es Afrika nicht gegeben hätte und den Whisky, den er im Salon verwahrte, würde es im anderen Salon das Album meiner Hochzeitsreise geben, dessen erste Seite ein Exemplar der in Goldlettern gedruckten Einladung einnehmen würde, Herr Soundso und Frau Soundso geben sich die Ehre, Sie und Ihre Gattin zur Heirat ihrer Tochter Clarisse mit Herrn Doktor Soundso einzuladen, die am soundsovielten des Monats des Jahres soundsoviel um ich weiß nicht wieviel Uhr in der Soundsokirche stattfinden wird, und zu dem im Anschluß im Restaurant Soundso stattfindenden Essen, u.A.w. g., an die Soundso-Adresse, die Speisekarte auf der zweiten Seite trägt die Unterschriften der Gäste, und die restlichen Seiten werden vom Brautpaar, dem Tisch mit den Geschenken, den Verwandten, den Segnungen des Pfarrers, den Kindern mit den Eheringen, den Toasts, dem Anschneiden des Hochzeitskuchens, dem Auto eingenommen, von dem ich gern hätte, daß es ein Dreirad wäre, wie alt bin ich jetzt eigentlich, wo die Tablette allmählich wirkt und ich fühle, daß ich einschlafe, das heißt, ich kann denken und sprechen, aber von der Taille abwärts gibt es mich nicht mehr, bin ich verschwunden, sehe ich mich nicht mehr, ich kann noch durch die Programme zappen, Sport, Zeichentrickfilme, der Papst italienische holländische belgische spanische mar

Verzeihung

marokkanische Nachrichtensendungen, der Bauchredner, der sich mit der Ente unterhält, derselbe Blick, dieselbe Anstrengung unter dem Lächeln, derselbe offene Mund, oder redet die Ente mit mir, oder bin ich es, die mit der Ente redet, und das Publikum lacht, ich kann noch die vom Regen unscharfen Lichter von Estoril sehen, die Schiffe, die an den Fensterscheiben heruntergleiten, die Baumwolle, die Sonnenblumen, den Mais, die verbrannten, zermalmten Gesichtshälften, ich habe unterhalb des Halses aufgehört zu sein, bin verschwunden, sehe mich nicht, doch ich kann noch meinen Vater sehen, wie er mich auf den Arm nimmt und ich die Zweige der Bäume erreiche, viel größer werde als ihr

Quallen

euch beobachte, wie ihr dort unten wie Ameisen herumwimmelt, unbedeutend, unbedeutend, der Polizeikommandant von Malanje, die Truppen der Regierung, Luís Filipe, meine Mutter, meine Brüder

unbedeutend

ich winke ihnen zum Abschied zu, denn gleich wird es elf Uhr vormittags sein, ich wache mit der Sonne auf, die eingerollt wie eine Katze auf meinen Knien liegt, und muß ein Bad nehmen, um den Schlaf zu verscheuchen, und mich schnell anziehen, weil jemand, ich weiß schon wer, an der Haustür steht und mich mit einer Heugabel erwartet, die dazu dient, mein Dreirad zu schieben, weit weg von Angola und von Estoril und vom Tod, während ein Rudel Porzellanhunde made in Singapur uns jaulend folgt, sie immer weiter zurückbleiben, verrückt vor Ärger darüber, daß sie uns nicht einholen konnten, uns nicht einholen können, uns niemals

geschieht euch recht

werden einholen können.