KAPITEL
1
Mit brennenden Augen erhob sich Fabio Ricco von der Liege, Tränen erlaubte er sich nicht. Sein Stolz war ihm selbst jetzt noch wichtig, obwohl ihn niemand beobachtete und es in seinem Inneren erbärmlich aussah. Er fühlte sich verloren, klein und wertlos. Wie in Trance taumelte er am Pool vorbei zum überdachten Teil der Terrasse. Efeu ringelte sich an den Pfosten hinauf und wucherte über das Glasdach. Er war von seiner zweiten Frau gepflanzt worden, an ihr hatte Fabio am meisten gehangen. Neben seinen Eltern war sie die Einzige gewesen, die seinen Lebensstil nicht befeuert, sondern immer wieder kritisiert hatte. Hätte er auf sie gehört, anstatt sie zu verlassen, würde heute vermutlich kein Seil vom Querbalken baumeln.
Betrachtete man lediglich die glänzende Fassade, dann war alles so, wie Fabio Ricco es sich immer erträumt hatte. Als Kind war er für seinen Familiennamen, der
der Reiche
bedeutete, noch verspottet worden, doch diese Zeiten lagen lange zurück. Vergessen hatte er die Hänseleien freilich nicht, genauso wenig wie sein Vater. Der hatte seine Verbitterung darüber, der Familie kein behaglicheres Umfeld bieten zu können, zwar meist routiniert hinter einem Lächeln verborgen, aber in den seltenen Momenten der Schwäche waren die Zukunftssorgen umso heftiger – und für alle offensichtlich – über ihn hergefallen. Den
Aufstieg seines ältesten Sohnes hatte er daher mit Genugtuung verfolgt, zumal Fabio seinen Wohlstand großzügig mit dem Rest der Familie teilte. Zu seinen früheren Weggefährten hielt der Dreiunddreißigjährige dagegen kaum noch Kontakt, er verkehrte nunmehr in anderen Kreisen.
Ihm fiel kaum auf, dass er dem Stereotyp eines Neureichen ganz genau entsprach. Die Erfüllung dieses Klischees war unbewusst erfolgt, vielleicht weil er sich das Leben der Oberschicht immer genau so vorgestellt hatte. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen – in der Nähe von Neapel –, besaß er nun eine Villa in der Toskana mit eigenem Strandzugang, eine Jacht, drei Ferraris und neben seinen italienischen noch zwei Offshore-Konten. Auf der Habenseite verbuchte er zudem eine attraktive Frau, die regelmäßig in diversen Glamour-Magazinen auftauchte, und vier Kinder – von drei verschiedenen Müttern.
In seiner Jugendzeit waren alle davon ausgegangen, dass er den gleichen Weg wie sein Vater einschlagen würde, der als Fischer zwar hart gearbeitet und wenig verdient, das Lachen aber selten verloren hatte. Fabios Leben hatte sich jedoch genau gegensätzlich entwickelt: Er war zu viel Geld gekommen, hatte dabei allerdings das Lachen verlernt. Heute war beides verschwunden, auch wenn ihm selbst nur die Minusbeträge auf seinen Konten bewusst waren.
Zu der finanziellen Notlage war es aus ähnlichen Gründen gekommen wie bei manch anderem, der schlagartig zu Reichtum gelangt war: Übermut, Fehlentscheidungen bei Investments, falsche Freunde, Prahlerei, familiäre Verpflichtungen und windige Berater, die seine Unerfahrenheit skrupellos ausgenutzt hatten. Verschärft wurde die Situation durch Unterhaltszahlungen, Abfindungen zum Zwecke gütlicher Trennungen und Kosten für Scheidungsanwälte. Dachte Fabio daran, wie viel Geld er in seiner Karriere verdient hatte und wie wenig ihm davon sogar
nach dem Verkauf sämtlicher Besitztümer noch gehören würde, dann wurde ihm schwindlig.
Er fuhr sich mit den Händen durch die langen Haare und dachte an sein junges Ich zurück. Was für Träume er damals gehabt und wie verbissen er sie zu realisieren versucht hatte! Sein Talent hatte sich früh gezeigt, allerdings war der Durchbruch erst bei einer Jugend-Europameisterschaft erfolgt. Internationale Spielerbeobachter waren auf ihn aufmerksam geworden, und kurz darauf hatte Fabio seinen ersten Profivertrag bei einem Verein in der deutschen Bundesliga unterschrieben. Auf Anhieb hatte er dort seine erste Meisterschaft gewonnen und einen Stammplatz erobert. Anderthalb Jahre später hatte er sich von einem polnischen Club abwerben lassen, bevor es ihn erst in die Türkei und schließlich nach Russland gezogen hatte. Volleyball besaß in diesen Ländern einen hohen Stellenwert und bot lukrative Verdienstmöglichkeiten. Parallel hatte er sich auch in der italienischen Nationalmannschaft zum Star entwickelt und seine Bekanntheit in Form einträglicher Werbeverträge versilbern lassen.
Inzwischen war der Zenit überschritten. Bei dem russischen Verein saß er fast nur noch auf der Ersatzbank, was einen – der Öffentlichkeit und seiner Familie völlig unbekannten – Ast seiner Nebeneinkünfte nicht nur bedrohte, sondern absterben ließ. Aufgetan hatte sich diese Einnahmequelle vor fünf Jahren bei einem Turnier internationaler Vereinsmannschaften. Damals hatte er zum ersten Mal in einer finanziellen Bredouille gesteckt, der Auslöser war die Scheidung von seiner ersten Frau gewesen. Einmal mit der fragwürdigen Geldbeschaffung angefangen, hatte er Geschmack daran gefunden. Verhielt man sich nicht zu auffällig, war das Risiko nahezu gleich null. Zudem hatten zwei Mitspieler die sportliche Fairness ebenfalls locker gesehen, sodass die erforderlichen Schritte leicht umzusetzen gewesen waren.
Beide hatten mittlerweile den Verein gewechselt. Sie hatten es übertrieben und waren wegen schlechter Leistungen aussortiert worden. Auch Fabio befürchtete, dass die Ersatzbank nur eine Zwischenstation für ihn darstellte. Zuletzt war er verletzungsanfällig gewesen, und er spürte, dass sein Körper nicht mehr die gleichen Leistungen abrufen konnte wie noch vor einem Jahr. Die Karriere neigte sich dem Ende zu, das Interesse der Sponsoren ließ nach, und seine Frau tauchte öfter in den Medien auf als er selbst. Korrekter formuliert war sie seine Noch-Ehefrau, denn es lief wohl auf eine dritte kostspielige Scheidung hinaus. Seit zehn Tagen hielt sie sich mit den beiden gemeinsamen Kindern auf Ibiza auf, und die Nachricht, die sie ihm am Vortag geschickt hatte, klang ernüchternd und endgültig.
Nicht nur ernüchternd, sondern regelrecht bedrohlich war der Inhalt einer anderen SMS. Von einem Mann, dem Fabio viel zu verdanken hatte, von dem er zugleich aber auch abhängig war. Der Text war verklausuliert formuliert, sparte aber – sofern man die Hintergründe kannte – nicht an Deutlichkeit:
Olympia ist deine letzte Chance. Ihr seid der absolute Favorit, das sind Top-Voraussetzungen. Vergeigst du es, kann ich nichts mehr für dich tun. Du weißt, was deine Aufgabe ist.
Natürlich wusste Fabio, was man von ihm erwartete. Das Dumme war nur, dass er nicht zum Spaß auf seiner riesigen Terrasse stand und an dem baumelnden Seil vorbei über die sanften Hügel hinaus aufs Meer starrte. Eigentlich hätte er sich schon auf dem Weg zu den Olympischen Spielen befinden sollen, die Koffer waren gepackt. Stattdessen hatte sich ein schwarzes Loch aufgetan. Er war aus dem Kader gestrichen worden, die Presse würde es in wenigen Stunden verkünden. Der Trainer der italienischen Nationalmannschaft war für seine impulsiven Entscheidungen bekannt und in den letzten Tagen
zu der Überzeugung gelangt, der große Fabio Ricco stelle keinen Mehrwert mehr für das Turnier der Turniere dar.
Wie weise dieser Entschluss tatsächlich war, konnte der Coach nicht ahnen. Genauso wenig hatte er eine Vorstellung davon, welch vernichtendes Urteil er über Fabios Zukunft gefällt hatte. Nur wenige waren in der Lage, die Tragweite zu verstehen. Diese wenigen waren aber entscheidend. Ihre Forderungen unbemerkt zu erfüllen, wäre ohnehin schwierig gewesen, jetzt war es unmöglich geworden. Fabio hatte den Nationaltrainer angerufen, ihn beschworen, angefleht – ohne Erfolg. Seit Stunden überdachte er seine Lage und suchte verzweifelt nach einer Rettung. Er konnte keine finden, weil es keine gab.
Fabio streifte die Badelatschen ab und schob einen Stuhl zurecht. Als er auf die Sitzfläche gestiegen war, zog er prüfend am Seil. Es gab nicht nach. Einem inneren Zwang folgend, zupfte er sein schwarzes Polohemd zurecht, erst dann legte er sich die Schlinge um den Hals. Sein Gesicht war dem Meer zugewandt. Jenem Meer, das seiner Familie seit Generationen Nahrung und ein – wenn auch karges – Einkommen beschert hatte. Wäre er doch der Fischerjunge geblieben, statt sich in eine Welt katapultieren zu lassen, in die er nicht gehörte! Und das nur, weil er einen Ball so gut pritschen, baggern und blocken konnte wie wenige andere. Als nun doch Tränen aufstiegen, wusste er, dass es an der Zeit war. Mit den Füßen stieß er den Stuhl von sich und wählte den einzigen noch verfügbaren Ausweg. Nicht nur die Karriere, auch das Leben von Fabio Ricco ging an diesem Sommertag an der Küste der Toskana zu Ende.