KAPITEL
2
Die Discolaser schossen ihre bunten Lichtstrahlen in den Himmel. Feuer, Wasserfontänen und Musik vervollständigten die Inszenierung, die mittlerweile fest zu jedem Touristenprogramm gehörte. Es war einundzwanzig Uhr dreißig, und durch die Luft waberten Sprachfetzen von allen Kontinenten. Das allabendliche Spektakel vor dem Marina Bay Sands –
einem gigantischen, an ein Flugzeug erinnernden Gebäudekomplex mit Hotel, Casino, Einkaufszentrum und Nachtclubs – hatte erneut eine große Menschenmenge angelockt.
Han Chen warf dagegen nur einen flüchtigen Blick aus dem Taxifenster. Er war das funkelnde Schauspiel des nächtlichen Singapur gewöhnt; schließlich hatte er seine Heimat – seit er vor vierundvierzig Jahren in einer armseligen Hütte zur Welt gekommen war – erst drei Mal verlassen. Die Entwicklung des Stadtstaates hatte er hautnah miterlebt, und angesichts der imposanten Skyline fiel es ihm immer schwerer, sich an den früheren Zustand zu erinnern.
Dass bei dem rasanten Wandel vom Schwellen- zum Industrieland wenig Wert auf die Bedürfnisse der Einwohner gelegt worden war, hatte Han Chen am eigenen Leib erfahren. Er war einer von vielen in dem Heer billiger Arbeitskräfte gewesen. Noch heute erinnerten zwei Narben an Hand und Stirn
an den Unfall auf einer Baustelle, der ihn fast das Leben gekostet hatte. Das rechte Bein schmerzte nach wie vor, im Krankenhaus war er damals eher beiläufig behandelt worden. Im Gegensatz zu manch anderem hatte er jedoch eine Chance zum Absprung erhalten und genutzt. Dem Retter, einem Mann namens Kim Koh, würde er in wenigen Minuten wieder gegenüberstehen. Die Aussicht auf dieses Treffen sorgte für verkrampfte Wangenmuskeln, einen schnellen Pulsschlag und verschwitzte Kleidung.
Die Fahrt dauerte noch fünf Minuten, die Han Chen eher wie fünf Sekunden vorkamen, bevor er aus dem Wagen stieg. Die Luftfeuchtigkeit war hoch, die Temperatur lag bei zwanzig Grad. Er blickte an der gläsernen Fassade hinauf, die sich endlos in den Himmel zu erstrecken schien. Eine Vielzahl von miteinander verbundenen Firmen war in dem Gebäude untergebracht, so auch ein Produzent von eGaming – Kim Kohs neuestem Lieblingsspielzeug. Hunderte von Entwicklern entwarfen und programmierten Fantasiewelten, um an einem der finanzstärksten Trends teilhaben zu können. Die Zeichen der Zeit hatte der Boss schon immer früh erkannt, sodass er seinen bisherigen Favoriten, ein auf afrikanische Bodenschätze spezialisiertes Unternehmen, kurzerhand aus der Zentrale an den Stadtrand verbannt hatte.
Ganz oben, in der vierzigsten Etage, residierte weiterhin Kim Koh selbst – zumindest bis der nächste Neubau fertiggestellt war und ihm eine noch beeindruckendere Aussicht über den boomenden Inselstaat bieten würde. Obwohl es unter wirtschaftlich erfolgreichen Asiaten fast zum guten Ton gehörte, verweigerte er hartnäckig einen zusätzlichen westlichen Namen. Seit er erstmals in Erscheinung getreten war, nannte er sich Kim Koh, und Han Chen zählte zu den wenigen Auserwählten, die auch seinen wahren Namen kannten. Die dafür nötige
Wertschätzung hatte sich Han Chen hart erarbeiten müssen – und war mehr als einmal auf die Probe gestellt worden.
Tief atmete er nun durch und versuchte die widersprüchlichen Gefühle für seinen Chef auszublenden. Er hatte Kim Koh den Aufstieg aus der Armut zu verdanken, zugleich waren er und seine Familie der Gnade dieses mächtigen Mannes ausgeliefert. Alles hatte seinen Preis, und je höher Han Chen in der Hierarchie aufgestiegen war, umso unmöglicher war es geworden, sich jemals von seinem Chef loszusagen. Jeden Tag trat er hier nervös zum Rapport an, heute war diese Anspannung zusätzlich mit blanker Angst durchzogen.
In dem Geschäftsviertel waren noch viele Fenster erleuchtet, Touristen waren kaum zu sehen. Am Empfang kannte man ihn, dennoch musste er seinen Ausweis vorlegen und durch den Körperscanner gehen. Im Inneren des Gebäudes war es kühl und roch nach Putzmitteln. Als wolle er die durch die Kontrollen verlorene Zeit wieder herausholen, benötigte der Aufzug für die Fahrt bis ins neununddreißigste Geschoss nur vierzig Sekunden. Mehrfach musste Han Chen schlucken – nicht nur, um den Druck in den Ohren auszugleichen. Vieles hatte sich in seinem Leben geändert, nur die Klaustrophobie war ihm treu geblieben. In einer Wolkenkratzer-Stadt wie Singapur war dies ein Albtraum.
Um sich abzulenken, betrachtete er im Spiegel sein Äußeres. Er zupfte an dem weißen Hemd, überprüfte die Zwischenräume der etwas ungeraden Zähne auf Sauberkeit und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Obwohl er Kim Koh seit zwanzig Jahren fast täglich traf, blieb er für ihn unberechenbar. Seine Gunst konnte man genauso schnell verlieren, wie man sie errungen hatte, dafür gab es genügend verstörende Beispiele. Einem langjährigen Weggefährten hatte er erst letztens wegen einer Nichtigkeit mit einem Kugelschreiber das linke Auge
zerstochen, der Mann hatte sich den falschen Moment ausgesucht, einen Fehler zu beichten.
Auch jetzt war der Zeitpunkt nicht gut. Vor Han Chen lag kein routinemäßiger Austausch, Kim Koh wusste noch nicht einmal, dass er zu ihm unterwegs war. Han Chen hatte ihn telefonisch nicht erreicht und ahnte, womit sich sein Chef gerade die Zeit vertrieb. Trotz der Klimaanlage schwitzte er stärker, als er im neununddreißigsten Stock den Fahrstuhl verließ und sich im Flur einem weiteren Aufzug näherte. Nur Kim Koh, seinen Leibwächtern und besonderen Gästen war es gestattet, von der Tiefgarage oder dem Erdgeschoss direkt bis ganz nach oben zu fahren. Alle anderen Besucher mussten den Fahrstuhl im neununddreißigsten Stockwerk wechseln und zunächst an zwei bewaffneten Chinesen vorbeikommen, die in wechselnden Schichten Tag und Nacht den Zugang kontrollierten.
Kim Kohs Vorsicht war nachvollziehbar. Wäre der Sechzigjährige weniger misstrauisch, würde er heute vermutlich nicht einer der raffiniertesten Mafiaorganisationen vorstehen, sondern in einer Gefängniszelle vermodern oder tot auf dem Grund des Südchinesischen Meeres verrotten. Dort hatte stattdessen ein australischer Journalist sein Ende gefunden, der verrückt genug gewesen war, das Mysterium um Kim Kohs Herkunft entschlüsseln zu wollen. Da er sich immer interessierter an den vielfältigen Geschäftsfeldern gezeigt hatte, war man schließlich zum Handeln gezwungen gewesen. Es lag vier Jahre zurück, vermutlich hatten die Fische nur noch Knochen von dem eifrigen Reporter übrig gelassen.
Nachahmer hatte es seitdem keine gegeben, und die Behörden stellten erst recht keine Gefahr dar. Zu vielfältig waren die Möglichkeiten, sich ihre Gunst und ihren Schutz zu sichern. Schmiergelder, Jobs für Familienmitglieder, das Ausräumen persönlicher Schwierigkeiten, Befriedigung gewisser Vorlieben – es gab wenig, was man nicht bieten konnte. Kam
man mit derartigen Annehmlichkeiten nicht weiter, wechselte man einfach zu Drohungen, Erpressungen, Körperverletzungen oder Mord. Meist führten aber schon die sanfteren Methoden zum Ziel.
Die beiden Chinesen vor dem Fahrstuhl wirkten dagegen nicht so, als würden sie vor härteren Maßnahmen zurückschrecken. Als sähen sie ihn zum ersten Mal, traten sie simultan einen Schritt nach vorn und verkündeten, dass es völlig ausgeschlossen sei, das Dachgeschoss an diesem Abend zu betreten. Han Chen wusste, dass sie bestenfalls mit ihrem Job und schlimmstenfalls mit ihrem Leben spielten, wenn sie diese Anweisung Kim Kohs ignorierten. Seine eigene Existenz lag ihm aber erheblich stärker am Herzen.
Er drückte seine hageren Schultern durch und deutete zur Decke. »Ich habe eine wichtige Information, die er
sofort
erfahren muss, kapiert ihr das? Wenn ihr das verhindert, wirft er euch später eigenhändig vom Dach.«
Die beiden verzogen keine Miene und schwiegen. Han Chen tat es ihnen eine halbe Minute lang gleich, dann wandte er sich schulterzuckend ab und drückte auf den Knopf, um den Fahrstuhl nach unten zu rufen.
»Warte!«
Er drehte sich wieder um. Natürlich war er nicht der Einzige, dem die Launenhaftigkeit des Chefs bekannt war. Außerdem wussten die beiden, dass Han Chen nicht
irgendein
Angestellter war. Einer der Chinesen nahm einen Telefonhörer von der Wand und hielt ihn sich ans Ohr. Nach einer Minute hängte er ihn zurück, offenbar hatte er niemanden erreicht. Ihm war anzusehen, dass er mit sich rang. Das konnte Han Chen gut nachvollziehen, aber sein Mitgefühl hielt sich weiterhin in Grenzen.
»Wie gesagt …«, meinte er und machte Anstalten, den gerade angekommenen Fahrstuhl zu betreten.
»Warte!«, klang es erneut hinter seinem Rücken. Es folgte eine erregte Diskussion auf Chinesisch, die Han Chen mühelos verstand – immerhin war es eine der vier Amtssprachen Singapurs. Der nervösere der beiden Männer setzte sich schließlich durch. Er gab den Durchgang zum Aufzug frei, während ihm der andere einen finsteren Blick zuwarf. Als Han Chen den Lift betreten wollte, wurde er hart an der Kehle gepackt.
»Wenn du übertrieben hast, überlebst du das nicht!«
»Und wenn du nicht sofort deine Pfoten wegnimmst, sorge ich dafür, dass Kim Koh sich was Nettes für dich ausdenkt«, krächzte Han Chen.
Noch kurz musste er nach Luft ringen, dann wurde er in den anderen Fahrstuhl gestoßen. Mühsam rang er um Atem und widerstand dem Verlangen, die Fäuste zu ballen. Wegen seines schmächtigen Körperbaus und des – von der Narbe abgesehen – harmlosen Buchhaltergesichts wurde er ständig unterschätzt. Nicht unbedingt körperlich oder in Bezug auf sein Naturell. Was die beiden aber nicht unterbewerten durften, war sein Einfluss auf den Boss. Oder würde er diese besondere Stellung in wenigen Minuten verlieren?
Wenn ja, was würde dies konkret bedeuten? Als er an seine Frau und die drei Kinder dachte, mit denen er einen Bungalow am Rande der Stadt bewohnte, verspürte er erneut Atemnot. Was hätte er darum gegeben, jetzt entspannt mit ihnen auf dem Sofa zu sitzen und sich ihre harmlosen Geschichten vom Tag anzuhören! Es waren immer die schönsten Momente, wenn er – obgleich wegen seines Arbeitspensums meist nur für kurze Zeit – in diese heile Welt eintauchte, die er der Familie nur durch seine unehrenhafte Arbeit ermöglichen konnte. Ihretwegen musste er weiter im Spiel bleiben, koste es, was es wolle. Diese Erkenntnis hatte ihn schon oft weiter durchhalten und das schlechte Gewissen ausblenden lassen.
Han Chen gab sich keinen Illusionen hin. Eine Entlassung wie in anderen Unternehmen war aufgrund seines Wissens undenkbar – auch wenn Kim Koh wohl der Einzige war, der das verschachtelte und weit verästelte Geflecht aus legalen und illegalen Geschäftszweigen überblickte. Han Chen kannte aber genug davon, um es als echtes Meisterwerk einzustufen. Durch geschickte Verknüpfungen wuschen die legalen Firmen die Einnahmen aus illegalen Aktivitäten, eine in Mafiakreisen weltweit beliebte Vorgehensweise. Die Krönung dieser Strategie war allerdings dem gewieften Han Chen zu verdanken: illegale Geschäfte, die illegales Geld wuschen, ohne dass dabei ein großes Risiko bestand. Es war ein Modell ganz nach Kim Kohs Geschmack und hatte endgültig dafür gesorgt, dass Han Chen auf der Sympathieskala weit nach oben gerutscht war.
Noch einmal brachte Han Chen sein Outfit in Ordnung, und als er die Brille wieder gerade rückte, glitten auch schon die Türen auseinander, um ihn in eine andere Welt zu entlassen. Er betrat ein Reich, das Kim Koh nur noch selten verließ. Der Geruch nach Reinigungsmitteln wich einem blumigen Aroma, das sich je nach Zusammensetzung der Blumenpracht veränderte. Auf über tausend Quadratmetern hatte Kim Koh eine Umgebung erschaffen lassen, in der sich vermutlich sogar die Kaiser der vergangenen asiatischen Dynastien wohlgefühlt hätten. Die Glasfassade war von außen blickdicht verspiegelt; man wähnte sich eher in einem tropischen Park als im Inneren eines Hochhauses.
Obwohl Han Chen diese skurrile Landschaft schon oft betreten hatte, faszinierte sie ihn jedes Mal, was auch an den immer neuen Details lag. Diesmal war es jedoch etwas Großes mit gestreiftem Fell und scharfen Zähnen. Der Tiger lauerte neben dem Fahrstuhl, erschrocken zuckte Han Chen zusammen. Erst ein genauerer Blick offenbarte die Täuschung, denn
die tote Raubkatze war so fachmännisch präpariert worden, dass sie jeden Moment zum Sprung anzusetzen schien.
Der persönliche Diener des Hausherrn näherte sich mit professionellem Gesichtsausdruck. Gemäß den Vorstellungen seines Dienstherrn trug er traditionelle Kleidung. Ihn und Han Chen verband seit Längerem ein freundschaftliches Verhältnis, was sie sich in der Nähe ihres Arbeitgebers aber nie anmerken ließen. Kim Kohs Aufmerksamkeit oder gar Misstrauen zu erregen, lag in niemandes Interesse. Heute machte Han Chen eine Ausnahme.
»Wie ist seine Laune?«, fragte er gedämpft, obwohl seine Stimme ohnehin von klassischer Musik übertönt wurde, die aus verborgenen Lautsprechern durch den Raum wehte.
»Alle seine Lieblinge sind versammelt.« Die Mimik des Dieners blieb neutral. »Sicher, dass du ihn stören willst?«
»Es geht nicht anders. In Europa droht uns die Kontrolle zu entgleiten.«
»So, wie vor einem halben Jahr in Afrika?«
Han Chen winkte ab. »Das war Kinderkram. Hier geht es um ganz andere Summen.«
Sein Unbehagen wurde noch mal stärker. Kim Koh war ein Kontrollfreak und Perfektionist. Vor allem hasste er es, hintergangen zu werden. Aus diesem Grund war Han Chen damit beauftragt worden, in seinem Zuständigkeitsbereich ein engmaschiges Kontrollnetz aufzuspannen. Angesichts der dafür nötigen Verschachtelungen und Täuschungsmanöver war dies kein einfaches Unterfangen. Dass dieses Sicherheitssystem daher auch nicht perfekt war, würde er seinem Chef nun anhand eines konkreten Vorfalls offenlegen müssen. Um Schlimmeres zu verhindern, blieb ihm nichts anderes übrig.
Er folgte dem Diener über den Echtrasen in einen Flur. Links und rechts gingen mehrere Räume ab, von denen er erst einen von innen gesehen hatte: Kim Kohs Büro – eine
Machtzentrale von gerade mal zwanzig Quadratmetern. So unübersichtlich sein Imperium war, so überschaubar schätzte er seinen Arbeitsplatz. Für Han Chen war dies nachvollziehbar, verspürte er doch ein ähnliches Bedürfnis. Auch wenn er selbst noch nicht viel von der Welt außerhalb Singapurs gesehen hatte, war er aufgrund seiner Aufgaben global unterwegs. Doch dazu musste man keinen Fuß in das jeweilige Land setzen. Es war sogar erheblich sicherer, es nicht zu tun.
Am Ende des Flures kamen sie an eine mattierte Glastür, die von den Maßen eher einem Burgtor glich. Der dahinterliegende Saal beherbergte ein tropisches Paradies, sogar die Decken waren entsprechend verkleidet worden, um die Illusion eines Aufenthaltes in der Natur zu verstärken. Gelegentlich fanden hier Veranstaltungen mit Geschäftspartnern oder einflussreichen Persönlichkeiten statt, meist aber stellte dieser Bereich ein rein privates Refugium dar. Ein Heer von Gärtnern war tagsüber darum bemüht, alles in einwandfreiem Zustand zu halten. Erledigte man seinen Job wie gefordert, wurde man großzügig entlohnt. Das galt für die Gärtner, Diener oder Wachleute genauso wie für das Personal der oberen Ebene. Der Despot sorgte für seine Leute, solange sie ihm keinen Nährboden für den leicht entflammbaren Zorn lieferten.
Heute war Kim Koh guter Laune. Er ruhte auf einer weiß gepolsterten Liege unter einem Bambusdach und schien gerade in dem seeähnlichen Pool gebadet zu haben. Sein asketischer Körper wurde weder von einem Handtuch noch von einem Bademantel bedeckt. Auch aus der Entfernung konnte Han Chen das Glänzen des Wasserfilms auf dem gebräunten Körper erkennen. Obwohl Kim Koh körperliche Anstrengung verabscheute, wirkte er nicht alt oder gar fettleibig. Vier Köche hatten seine persönliche Ernährungsphilosophie umzusetzen, die augenscheinlich nicht auf Scharlatanerie basierte.
Nicht aus Zufall ähnelte sein Gesicht alten Abbildungen Dschingis Khans. Kim Koh verehrte den eroberungswütigen Mongolen, entsprechend hing ein überlebensgroßes Porträt seinem Schreibtisch gegenüber. Gerüchten zufolge sollte Kim Koh sich sogar einer Operation unterzogen haben, um dem Vorbild nicht nur vom Wesen her noch ähnlicher zu werden. Besonders auffällig waren seine braunen Augen, insbesondere ihre Lebendigkeit und scheinbare Fähigkeit, jedes Geheimnis hinter der Stirn eines Gesprächspartners lesen zu können.
Han Chen hatte es längst aufgegeben, sich über das exzentrische Verhalten zu wundern. Große Führer konnte man eben nicht verstehen, ihre Genialität brach sich in verschiedenen Auswüchsen Bahn. Dazu gehörten wohl auch die fünf jungen Männer und drei Frauen – bei genauer Betrachtung waren es eher Mädchen – die sich nackt im Wasser treiben ließen. Han Chen war bekannt, dass sich Kim Koh an den sexuellen Ausschweifungen, die er hier in unterschiedlicher Ausprägung durchführen ließ, nie selbst beteiligte. Ihm genügte das Zusehen, und wann immer Han Chen einer Einladung hatte folgen müssen, hatte er nicht einmal eine Erektion bei ihm bemerkt. Weshalb derartige Schauspiele dennoch in regelmäßigen Abständen veranstaltet wurden, verstand er ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Intensität der Handlungen im Laufe der Zeit zugenommen hatte.
Heute allerdings war alles entweder harmlos, oder er hatte den Höhepunkt verpasst. Zwei der Männer stemmten sich aus dem Wasser, um sich an einem Tisch ihre Teller mit Delikatessen aufzuhäufen, ohne dass von Kim Koh eine Reaktion kam. Vielleicht war er aber auch nur abgelenkt, da er den unerwarteten Gast mittlerweile entdeckt hatte. Als habe er ein übersinnliches Gespür, drehte er seinen Kopf genau in dem Moment nach hinten, als Han Chen die Brücke über einem künstlichen Wasserlauf überquerte. Ein paar Spritzer des Wasserfalls, der
von einem drei Meter hohen Felsplateau heruntersprudelte, landeten auf seinem weißen Hemd.
Dennoch ließen sich die dunklen Flecken unter seinen Achseln nicht als Wasserflecken fehldeuten. In Bezug auf Hygiene und Reinlichkeit war Kim Koh ein Pedant. Als Han Chen die wenigen Steinstufen zu der Empore hinaufstieg, streckte ihm sein Chef ein Handtuch entgegen. Er selbst hatte sich inzwischen ein Saunatuch umgebunden.
»Ich kann mich nicht erinnern, dich eingeladen zu haben, lieber Freund.« Weder seiner Stimme noch seiner Miene ließ sich entnehmen, ob und wie stark er verärgert war. »Wenn du aber schon mal hier bist, solltest du ein Bad nehmen. Vorher bitte duschen.« Er deutete auf eine wohltemperierte Kaskade, deren Wasserkreislauf streng vom Pool separiert war.
»Die Störung tut mir leid.« Han Chen beschloss, sofort zur Sache zu kommen. Überdies tickte die Uhr. »Die nächste Rate an die Italiener soll in dreißig Minuten abgeliefert werden, deshalb konnte ich keine Zeit verlieren. Wir müssen die Übergabe stoppen.«
»Was ist das Problem?« Als sich der Diener mit einem Tablett voller Gläser näherte, machte Kim Koh eine abwehrende Geste.
Sehnsüchtig starrte Han Chen auf die eisgekühlten Getränke. Dann senkte er den Blick zur Narbe auf seinem Handrücken. Der Arbeitsunfall lag lange zurück, es war ein hartes Leben gewesen damals – und doch auch so viel einfacher als heute. Nicht selten dachte er darüber nach, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er sich von Kim Kohs Leuten nicht verführen lassen. Aber vermutlich würden seine Kinder dann im Dreck spielen müssen, so wie er selbst früher. »Das Problem ist … wir werden hintergangen. Seit Monaten.«
»Die Italiener zweigen Geld ab?«
»Nein, aber jemand, für den sie zuständig sind. Einer von der unteren Ebene.«
»Wie viel?« Die Frage kam scharf und drohte Han Chen aus dem Gleichgewicht zu bringen.
»Vermutlich um die fünfhunderttausend Dollar.«
»Vermutlich?« Kim Kohs Gesicht verfärbte sich.
»Unser System ist … nicht perfekt. Kann es nicht sein. Wir wissen von wenigen Fällen … genau genommen weiß ich es erst seit einer Stunde. Dabei geht es um exakt zweihunderteinunddreißigtausend Dollar. Wahrscheinlich gibt es aber weitere … der Mann hat weniger ausgegeben, als er behauptet hat.«
»Wer ist
der Mann
?«
Han Chen fuhr sich über die scharf gescheitelten schwarzen Haare und vermied weiter Augenkontakt. »Branko Anicic, er …«
Kim Koh stoppte ihn mit einer Handbewegung. »Wie konnte das passieren?«
Han Chen suchte nach den richtigen Worten. »Es ist mir unerklärlich. Aber die Frontsoldaten habe ich selbst nicht im Blick. Andere müssen dafür sorgen, dass …«
Er brach ab, als Kim Koh von seiner Liege aufsprang, ihn an der Kehle packte und zudrückte. »Aber du bist dafür verantwortlich, dass das Ganze funktioniert!«, schrie dieser. »Du hast dafür zu sorgen, dass bis ganz nach unten die richtigen Leute ausgesucht werden.« Schlagartig beruhigte er sich wieder. »Wer steht über diesem Branko Anicic?«
»Laslo Pavić«, keuchte Han Chen. »Ein Kroate.«
»Ist er in den Betrug involviert?«
Han Chen zeigte die Andeutung eines Schulterzuckens, zum Antworten fehlte ihm die Luft. Er wurde wieder freigegeben und rieb sich über den Hals. Nach dem Angriff des Chinesen am Aufzug waren soeben weitere rote Striemen dazugekommen.
»Du hast mir dieses Projekt in schillernden Farben ausgemalt, sodass ich Geschmack daran gefunden habe.« Kim Koh wischte sich die Hände am Saunatuch ab und ging zwei Schritte zur Seite. Sein Blick richtete sich auf die jungen Menschen, die sich unbeeindruckt von dem Gespräch mit Wasser bespritzten. »Wie viel haben wir damit bisher verdient?«
Mühsam presste Han Chen die Antwort aus der schmerzenden Kehle. »Zehn Milliarden wurden gewaschen, dazu kommen Zusatzgewinne von fünfhundert Millionen.«
»Also zehneinhalb Milliarden in fünf Jahren. Abzüglich der Kosten, die bei zehn Millionen lagen, und von denen sich dieser Anicic eine halbe Million eingesteckt hat. Andere werden es auch getan haben und weiter tun.« Er drehte sich um und sah Han Chen so wohlwollend an, als habe es die vorherige Attacke nicht gegeben. »Du hattest einen guten Riecher. Es ist ein fantastisches Geschäft, das wir weiter ausbauen werden. Umso wichtiger, dass alle unsere Spielregeln verstehen. Die nächsten Wochen sollen uns in ganz andere Sphären bringen.«
Han Chen rang mit sich, dann trug er den Einwand doch vor. »Wir sollten das noch mal überdenken. Alles läuft zwar rund, bis auf solche Vorfälle wie der mit Anicic, die in der Gesamtheit aber zu vernachlässigen …«
»Zu vernachlässigen?« Mit einem Satz war Kim Koh bei ihm und schlug ihm mit der Faust in den Magen. Ächzend krümmte sich Han Chen zusammen, fiel aber nicht um. »Ich akzeptiere nicht, dass man mich bestiehlt! Und wenn es nur ein einziger schmieriger Dollar ist!«
»Was ich … sagen wollte …« Mühsam richtete sich Han Chen wieder auf. »Natürlich müssen wir Betrüger ausmerzen. Ich denke trotzdem, dass wir die Olympischen Spiele nicht …«
»Alles abblasen? Du bist verrückt! Warum sollte dort nicht funktionieren, was auf der ganzen Welt funktioniert? Unsere Gewinne werden gigantisch sein!«
»Nicht abblasen, nur nicht übertreiben. Kein anderer Event steht so im Licht der Öffentlichkeit wie die Olympiade. Und die Behörden werden …«
»Die Behörden? Dann lenken wir die Behörden eben ab. Das hatten wir nicht ohne Grund ausführlich besprochen.«
»Das stimmt, aber ich …«
Im Zuge eines erneuten Stimmungswechsels legte ihm Kim Koh beide Hände auf die Schultern. »Wo ist der verwegene Han Chen geblieben, der mir schon so lange mit Rat zur Seite steht und immer eine Lösung findet?«
Han Chen schauderte bei der Berührung. »Es gibt in diesem Fall eben unkalkulierbare Risiken, die alles gefährden können.«
»Und du bist der beste Mann, um diese Risiken auszuschalten. Aber ich nehme deinen Rat an. Vorsichtshalber starten wir die Absicherungsmaßnahmen schon jetzt, leite alles in die Wege. Außerdem sorgen wir für Ordnung in den eigenen Reihen. Sende ein unmissverständliches Signal an die Basis! Wo hält sich Anicic gerade auf?«
»In Kopenhagen.« Han Chen ging auf den ihm in den Mund gelegten Ratschlag nicht ein. Er wusste, wann Schweigen besser war. Gerade schien er erstaunlich glimpflich davonzukommen, und er freute sich schon darauf, sich in spätestens einer Stunde im Bett zwischen seine Frau und die Kinder zu kuscheln.
»Dann wird er von dort nicht mehr abreisen«, erwiderte Kim Koh. »Wenn es erledigt ist, möchte ich die übliche Lieferung erhalten.«
Er streifte das Saunatuch ab und drehte sich weg. Ein Zeichen, dass nichts mehr zu besprechen war. Bis auf zwei Details. Als Han Chen sich – aufgrund der schlecht verheilten Beinverletzung leicht hinkend – auf den Rückweg machte, folgte noch ein weiterer Auftrag.
»Zieh den Italienern eine Million von der nächsten Rate ab. Diese Dilettanten müssen ihre Leute besser im Blick behalten.«
»Verstanden.« Han Chen beschleunigte trotz der Schmerzen in seinem Bein die Schritte. Es blieben noch zwanzig Minuten, bis das Geld übergeben werden sollte. Hoffentlich würde er rechtzeitig …
»Und noch was, lieber Freund«, wurde er ein weiteres Mal aufgehalten. Mühelos übertönte Kim Kohs Stimme das Geräusch des Wasserfalls. »Du wirst hier nicht noch einmal unangemeldet auftauchen. Sonst wird es dir so ergehen wie den beiden Wachleuten, die dich durchgelassen haben.«
Han Chen nickte und verbeugte sich. Dann drehte er sich wieder um, und diesmal wurde er nicht mehr gestoppt, als er so schnell wie möglich zur Tür hastete.
Der Zug setzte seine Fahrt durch Dänemark fort. Es war so heiß, dass Hannes das durchgeschwitzte T-Shirt am liebsten ausgezogen hätte. Die Klimaanlage war zwar – anders als sonst manchmal – nicht ausgerechnet in dem Moment ausgefallen, für den sie eigentlich konzipiert war, doch da Hannes auf einem Fensterplatz saß, war er der Sonnenstrahlung voll ausgesetzt. Das Aroma in dem Großraumwagen ließ darauf schließen, dass auch die Körper anderer Passagiere ihre Abwehrversuche gegen die Wärme intensiviert hatten.
Der Juli neigte sich dem Ende entgegen, und in den Schlagzeilen tauchte mehr und mehr der Begriff
Jahrhundertsommer
auf. In der Tat hatte sich die helle Jahreszeit bislang nicht lumpen lassen, nach Hannes’ Meinung traten Jahrhundertereignisse in letzter Zeit aber überraschend häufig auf. So hatte er mit seinen dreiunddreißig Jahren schon drei Jahrhundertsommer erlebt, und mit Sicherheit würden weitere folgen. Wahrscheinlich musste man sich eher daran gewöhnen, dass ein Jahrhundert der Sommer begonnen hatte, wenn nicht
sogar ein Jahrtausend. Es war ein Spiel mit Begrifflichkeiten, letztlich ohne Wert. Hannes blickte auf seine feucht glänzenden Arme. Bedanken konnte man sich bei den Generationen, die wider besseres Wissen die Klimaerwärmung in Gang gesetzt hatten. Als würde es kein Morgen geben. Dann runzelte er die Stirn. War seine eigene Altersgruppe besser? Und er selbst?
Nicht ohne Grund schweiften derartige Gedanken durch seinen überhitzten Kopf, denn die Rentnergruppe schräg gegenüber hatte seit der Abfahrt kaum über ein anderes Thema als die unerträgliche Hitzewelle und ihre Folgen diskutiert. Dabei saßen sie auf der Schattenseite und kamen damit in den vollen Genuss der Klimaanlage.
Ihr hattet es doch noch in der Hand!
, hätte er ihnen am liebsten zugerufen, nahm aber lieber einen Schluck von der Apfelschorle, die ebenfalls nicht mehr als wohltemperiert durchging.
Dass er selbst auch nicht als Vorzeige-Öko taugte, wurde ihm gerade noch rechtzeitig klar, bevor sein Ärger über die lautstark debattierenden Rentner überhandnahm. Er konzentrierte sich auf das leichte Schaukeln und Rattern des Waggons, drohte aber, dabei in den Schlaf zu gleiten. Als das Verlangen nach Abkühlung übermächtig wurde, stand er auf, fummelte sein Portemonnaie aus der Reisetasche und machte sich auf den Weg zum Bordrestaurant.
Wider Erwarten herrschte darin wenig Betrieb, es gab sogar einen freien Platz auf der sonnenabgewandten Seite. Innerhalb kurzer Zeit hatte er den Eistee heruntergeschüttet und besorgte sich einen weiteren Becher. Diesmal genoss er das Getränk in kleinen Schlucken, während die Landschaft Dänemarks an ihm vorbeiglitt.
Es war eine besondere Zugreise, nicht nur weil der Eurocity das Teilstück zwischen Puttgarden und Rødby auf einer Fähre zurücklegte. Hannes nahm die viereinhalbstündige Fahrt nicht urlaubsbedingt auf sich: Am Zielbahnhof wartete das große
Finale seiner nebenberuflichen Laufbahn – die aus finanzieller Sicht jedoch nur ein Hobby war. Allein der Planstelle für Spitzensportler war es zu verdanken, dass er genügend Zeit und Energie in den Kanusport hatte stecken können, um mit der Weltspitze mitzuhalten. Seit seinem Wechsel in die Mordkommission war es zunehmend schwierig geworden, die Polizeiarbeit mit dem nötigen Trainingspensum in Einklang zu bringen. Etwaige negative Auswirkungen würden sich in spätestens zwei Tagen zeigen, dann stand der erste Vorlauf im Einer-Canadier über eintausend Meter an.
Noch immer kam es ihm surreal vor, dass er am nächsten Tag gemeinsam mit Tausenden anderer Sportler in das neu erbaute Olympiastadion von Kopenhagen einmarschieren würde, um die Eröffnung der bedeutendsten Sportveranstaltung der Welt zu erleben. Zum Fahnenträger hatte es nicht gereicht, dafür waren seine Erfolge und Bekanntheit bei Weitem nicht ausreichend. Das war aber kein Wermutstropfen, denn nicht nur im Privatleben vermied es Hannes, im Mittelpunkt zu stehen.
Dass er bei den Olympischen Spielen überhaupt antreten durfte, war die Erfüllung seiner Kindheitsträume – alles Weitere wäre Zugabe. Den Vorlauf wollte er natürlich schon überstehen, da war der sportliche Ehrgeiz stärker als sein zurückhaltender Charakter. Sofern er auch noch das Halbfinale erfolgreich bestreiten würde, dann … Bei diesem Gedankenspiel schmunzelte er über sich selbst. Aber warum auch nicht? Er hatte sich die aktuellen Zeiten der Konkurrenz genau angesehen und rechnete sich durchaus Chancen aus, im Finale einen Mittelfeldplatz zu belegen. Ausreichend viele Weltcups und Meisterschaften lagen hinter ihm, um zu wissen, dass Wettkämpfe ihre eigenen Gesetze hatten. Und wenn er ehrlich war, liebäugelte er natürlich auch mit einer Medaille. Es war zwar ein Griff nach den Sternen, aber ein glanzvolleres Karriereende konnte es schließlich nicht geben.
Der Großteil der Athleten befand sich bereits in Kopenhagen, auch die Kanus waren längst im Olympiaquartier eingetroffen. Dass Hannes die Reise erst jetzt und mit dem Zug angetreten hatte, lag an Annas Geburtstag, die am Tag vor seiner Abreise zweiunddreißig Jahre alt geworden war. Nachdem in den vergangenen Wochen die Mordermittlungen auch gefährliche Schatten auf ihr Privatleben geworfen hatten, war Hannes noch nicht einmal die gemeinsame Anreise mit seinen Teamkameraden wichtig genug gewesen, um dieses Ereignis zu schwänzen. Für den Herbst hatten sie die Hochzeit geplant, und es war dringend geboten, der Beziehung schon vorher den Platz einzuräumen, den sie verdiente.
Beide hatten lange gebraucht, um über die Geschehnisse seiner neunten Ermittlung hinwegzukommen. Erstmals war Hannes vom Jäger zum Gejagten geworden, und es war eine völlig neue und zugleich schockierende Erfahrung gewesen, selbst das Opfer zu sein. Am Ende hatte aber nicht er, sondern sein Vorgesetzter Henning Federsen sein Leben lassen müssen. Auch der Tod von dessen Vorgänger Fritz Janssen lag noch nicht lange zurück. Aufgrund der Umstände setzten Hannes beide Verluste zu, auch wenn Fritz ihm als beruflicher und privater Mentor auf besondere Weise nahegestanden hatte. Dessen Tod war aufgrund der Krebserkrankung letztlich eine Erlösung gewesen, Federsens Hinrichtung – ein passenderer Begriff fiel Hannes nicht ein – kam ihm dagegen nichts als sinnlos vor.
Es hatte nicht viel gefehlt, dass auch Hannes von der Wut des Mörders hinweggefegt worden wäre. Während er damals hauptsächlich mit Überleben beschäftigt gewesen war, führte diese Erfahrung mit etwas Abstand zu einer inneren Neuausrichtung. Jeder Tag war kostbar, diese Lektion hatte ihm das Leben nicht nur als schlaues Lippenbekenntnis erteilt. Dass erst Schicksalsschläge zur Verinnerlichung dieser Weisheit geführt hatten, war zwar bitter, aber nicht zu ändern. Vor drei Wochen
war auch noch seine Tante Gabi gestorben, nachdem sie sich im Zuge einer Hüftoperation einen tödlichen Krankenhauskeim eingefangen hatte. Ihr Tod hatte tagelange Gewissensbisse zur Folge gehabt, da er sich rückblickend schuldig fühlte, sich zu wenig um sie gekümmert und zu ungeduldig auf ihre allseits bekannten Erzählungen und Spleens reagiert zu haben.
Über den unverhofften Geldsegen hatte er sich daher nicht freuen können, zumal Tante Gabi die Rücklagen mühsam angespart haben musste. Auch sein Vater war von ihrem Kontostand überrascht gewesen, da sie nie über ein hohes Einkommen verfügt hatte. Genauso unbekannt war der Familie gewesen, dass sie Hannes und dessen Schwester Ramona als Erben eingesetzt hatte – sie sollten jeweils knapp einhunderttausend Euro erhalten. Da beide finanziell nicht auf Rosen gebettet waren, bedeutete diese Summe ein beruhigendes Polster, behielt aber einen schalen Beigeschmack. Hannes wollte das Geld zunächst nicht anrühren, obwohl ihn seine Tante in ihrer unnachahmlichen Art deshalb sicher einen Dummkopf genannt hätte.
Eine Lautsprecherdurchsage informierte darüber, dass sie den Kopenhagener Hauptbahnhof in wenigen Minuten erreichten. Hannes kippte den Rest des Eistees hinunter, dann bahnte er sich einen Weg durch die in Hektik verfallenden Reisenden und wuchtete an seinem Platz die Sporttasche von der Ablage. Ein glatzköpfiger Herr aus der Rentnergruppe beobachtete ihn.
»Wollen Se etwa zur Olympiade? Dachte, die Sportler von heute reisen komfortabler.«
»Kommt auf die Sportart an«, entgegnete Hannes. Dass er sich aus privaten Gründen in den Zug gequetscht hatte, ging den Kerl nun wirklich nichts an.
»Also tatsächlich Sportler? Geh ma zur Seite, Werner!« Der Mann schob einen beleibten Grauhaarigen weg und zwängte sich zu Hannes durch. Seine Augen glänzten. »War eben eigentlich nur so dahergesagt. In was treten Sie denn an?«
»Kanu.«
»
In was?
Sie müssen lauter reden. Ich bin auf mein Hörgerät getreten, funktioniert nicht mehr.«
Hannes präzisierte die Antwort in erhöhter Lautstärke. »Einer-Canadier über eintausend …«
»Is nich wahr! Da sind wir ja fast Kollegen. Ich bin früher gerudert.« Er deutete zuerst auf seine Oberarme und dann auf Hannes’ Muskeln. »Sieht man mir nicht mehr an, aber ich hab zu den Besten gehört. 1976 in Montreal, da war ich im Vierer dabei! ’Ne Medaille gab’s nicht, aber ich hab’s trotzdem nie vergessen. Jetzt will ich mit meinen Jungs in Erinnerungen schwelgen, wenn schon mal eine Olympiade vor der Haustür stattfindet und nicht am anderen Ende der Welt.«
Hannes beäugte die Mitreisenden des Mannes. »Heißt das … Sie alle waren in Montreal?«
»Wir saßen in einem Boot«, bestätigte der Mann. »Unsere Frauen natürlich nicht, die sind nur schmückendes Beiwerk.« Als er Hannes’ Blick bemerkte, lachte er. »Kaum zu glauben, was? Kommt mal her, Leute, hier könnt ihr einen olympischen Kanuten kennenlernen!«
Im Nu war Hannes umzingelt, und er spürte zahlreiche Hände auf seine Schultern klopfen. Verlegen strich er sich durch seine zerzausten dunkelblonden Haare, die Ehrerbietung war ihm unangenehm. Auch stellte sich heraus, dass die Gesellschaft gar nicht so verknöchert und hinterwäldlerisch unterwegs war, wie er vermutet hatte. Er bekam Tipps zur Wettkampfvorbereitung, Hinweise, was man im olympischen Dorf auf keinen Fall verpassen sollte, und immer wieder die Empfehlung, die Tage bis zur letzten Minute auszukosten. Nichts anderes hatte Hannes vor. In den zurückliegenden Monaten hatte sich zu viel Finsternis in sein Leben geschlichen, als dass er dieses Erlebnis nicht als das zu würdigen gedachte, was es in der Laufbahn eines jeden Sportlers darstellte: den absoluten Höhepunkt.
Diesen Vorsatz umzusetzen, fiel ihm auch nicht schwer. Als er aus dem Zug stieg und von den Senioren verabschiedet wurde, umwehte ihn sofort olympisches Flair. Der Bahnhof befand sich im Herzen Kopenhagens, und das alte Gebäude mit der riesigen Halle war dem Anlass entsprechend geschmückt. Die olympischen Ringe hingen in gigantischem Ausmaß von der hohen Decke und wurden von Fahnen aus aller Welt eingerahmt. Menschen unterschiedlicher Nationalität wuselten durcheinander, ein Gemisch verschiedenster Sprachen erfüllte das Gebäude.
Fast andächtig schritt Hannes durch das Gedränge und saugte die Atmosphäre in sich auf. Immer wieder entdeckte er Volunteers, die in ihren knallgrünen T-Shirts hervorstachen und Ansprechpartner für die internationalen Gäste waren. Hannes benötigte ihre Unterstützung nicht, sondern steuerte einen Blumenladen an. Dort wartete sein Trainer auf ihn und schloss ihn überschwänglich in die Arme. Da er deutlich kleiner als der groß gewachsene Kanut war, landete sein Kopf auf Hannes’ Brustkorb.
»Was für eine Stimmung in der Stadt! Seit wir vorgestern angekommen sind, kann ich die Truppe kaum noch unter Kontrolle halten.« Er zwinkerte ihm zu, und Hannes musste lächeln. Überschwang zählte nicht zu den Markenzeichen des Coaches. Mit seinem Dauergrinsen wirkte er, als habe er einen Zuckerflash.
»Wie ist die Unterkunft?«
»Eins a! Das olympische Dorf wurde nah an der Ostsee erbaut. Allerdings …« Er räusperte sich, und der fröhliche Gesichtsausdruck verschwand.
»Was ist los? Muss ich mein Zimmer mit Ralf teilen?«, scherzte Hannes.
»Hm … tja. In der Tat. Woher wusstest du das?«
Hannes stöhnte. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Wie konntest du zulassen, dass …«
»Ich hab damit gar nichts zu tun! Hatte beim Verband hinterlegt, dass ihr getrennt untergebracht werden müsst. Irgendwas ist schiefgelaufen. Als ich es gemerkt hab, war es zu spät.«
Hannes stöhnte erneut. Das war ein denkbar schlechter Auftakt. Sein ewiger Kontrahent Ralf ging ihm schon aus der Distanz auf die Nerven und würde sicher nichts unversucht lassen, um vor den Wettkämpfen psychologische Kriegsführung zu betreiben. Sein Trainer versuchte sich an der Strategie der Ablenkung und überreichte ihm ein in Plastik eingeschweißtes Papier mit Umhängeband.
»Deine Akkreditierung. Damit kommst du ins Dorf und kannst die Shuttlebusse nutzen. Außerdem gilt sie für die Eröffnungsfeier, das Trainingsgelände, die Regattastrecke und …«
Hannes blendete die weiteren Erklärungen aus. Wie gebannt blickte er auf seine Akkreditierung, die er sich in ähnlicher Form schon bei anderen Wettkämpfen um den Hals gehängt hatte. Nur waren da nie die olympischen Ringe neben seinem Foto aufgedruckt gewesen.
Johannes Niehaus, Athlete, Germany
stand unter seinem Bild, und er bekam eine Gänsehaut. Es fühlte sich wie ein Traum und absolut großartig an. Er vergaß sein durchgeschwitztes T-Shirt, dachte nicht mehr an Fritz, Federsen oder seine Tante und auch nicht an die tödliche Gefahr, in der er und Anna sich zuletzt befunden hatten. Noch nicht mal die Zimmergemeinschaft mit Ralf erschien ihm jetzt problematisch, er konnte nur immer wieder dieselben Worte denken:
Ich bin Olympionike, ich bin tatsächlich Olympionike!
Nicht jeder in der dänischen Hauptstadt wusste mit dem internationalen Großereignis etwas anzufangen. Insbesondere nicht die Kritiker, die schon während der Planungsphase die
immensen Kosten, das korrupte IOC und die kommerziellen Auswüchse thematisiert hatten. Immerhin hatte Dänemark aber im Gegensatz zu manchem Gastgeber in der Vergangenheit ein Konzept vorgelegt, das nicht nur eine nachhaltige Nutzung der Sportstätten vorsah, sondern der Umweltverträglichkeit generell einen hohen Stellenwert einräumte. Als dann auch noch das IOC seine Regelungen zur Kostenverteilung geändert hatte – manche meinten, dass dem Verband nach den Skandalen der Vergangenheit gar nichts anderes übrig geblieben war, sofern man auch künftig noch Olympische Spiele in demokratischen Ländern abhalten wollte –, hatten sich die Dänen in einer Volksbefragung knapp für eine Bewerbung ausgesprochen.
Die Konkurrenz war überschaubar gewesen, da die Bevölkerung in anderen Ländern den Traum ihrer Sportfunktionäre hatte platzen lassen. Der Großteil der Wettkämpfe sollte direkt in Kopenhagen stattfinden, manche Disziplinen waren aber über Sjælland verteilt worden, um vorhandene und modernisierte Anlagen auf der größten Insel der Ostsee nutzen zu können. Das Straßenradfahren sollte sogar über die Öresundbrücke bis nach Malmö und Lund führen, sodass auch die schwedischen Nachbarn einen Hauch des olympischen Geistes abbekämen.
Knapp elftausend Athleten aus über zweihundert Ländern wurden erwartet, daneben mindestens genauso viele Funktionäre, Journalisten, Sponsorenvertreter, Volunteers – und natürlich die Fans aus aller Welt, für die knapp sechs Millionen Eintrittskarten verfügbar waren. Mit einer Einwohnerzahl von nur gut sechshunderttausend stellte die Dimension des Andrangs Kopenhagen vor große Herausforderungen. Das Bild der Stadt hatte sich schon in den letzten Jahren gewandelt, Baustellen waren allgegenwärtig gewesen. Der öffentliche Nahverkehr war ausgebaut worden und das Olympic Centre sowie die beiden olympischen Dörfer hatte man neu errichtet.
Ryan Brown fand das alles nicht uninteressant, er informierte sich sogar regelmäßig in den Zeitungen, die er aus den Papierkörben fischte, über den aktuellen Stand. Zugleich war ihm aber klar, dass die positiven Auswirkungen auf ihn selbst überschaubar waren. Die letzten Tage nährten im Gegenteil die Befürchtung, dass negative Effekte überwiegen dürften. Schon als die Olympischen Sommerspiele noch in weiter Ferne gewesen waren, hatte sich das Klima in dem einst so liberalen Dänemark verändert. Der Wind war rauer geworden, das spürten nicht nur die Ausländer, sondern ebenso die Obdachlosen. War man wie Ryan ein ausländischer Obdachloser, galt dies umso mehr. Immerhin fiel er als gebürtiger Brite äußerlich nicht auf, auch achtete er auf Körperhygiene und trug seine Kleidung nicht, bis sie völlig zerlumpt war.
Die Polizei ging verstärkt gegen Bettelei und Obdachlosenlager vor, das Sicherheitsgefühl der Dänen sollte gestärkt werden. Dass dies in Wahrheit nur ein Polieren an der Oberfläche war, wusste Ryan. Die betroffenen Menschen verschwanden durch derartige Maßnahmen nicht, weder die kriminellen noch die rechtschaffenen. Stattdessen nahm das Gefühl der Ausgrenzung zu, und man suchte sich Stellen, die unauffälliger gelegen waren. Auch das Betteln war riskanter geworden, an manchen Orten drohten bis zu vierzehn Tage Haft – oder sogar die Ausweisung aus Dänemark.
Letzteres bereitete Ryan die größten Sorgen. Zwar hielt er sich übers Jahr in verschiedenen europäischen Ländern auf – im Winter bevorzugt am Mittelmeer – aber seine Beziehung zu Dänemark war eine besondere. Fünfzehn Jahre war es jetzt her, dass seine Freundin ihre gemeinsame Tochter zur Welt gebracht hatte. Zehn Monate später hatten sie sich getrennt, und weitere sechs Monate später war gegen Ryan ein Kontaktverbot ausgesprochen worden, das noch immer Bestand hatte.
Rückblickend war ihm bewusst, dass er der größte Trottel aller Zeiten gewesen und völlig zu Recht außer Reichweite seiner Tochter gehalten worden war. Hatte er die gewalttätige Ader seines Vaters geerbt? Eigentlich glaubte er das nicht, denn die letzte Handgreiflichkeit – zudem eine Selbstverteidigung – lag zehn Jahre zurück. Früher hatte es allerdings anders ausgesehen. Als Teenager war er ein Draufgänger gewesen, hatte die Schule abgebrochen, sich mit Kumpeln volllaufen lassen – und es doch geschafft, die junge Dänin für sich zu begeistern, die im Nachbarhaus als Au-pair den Nachwuchs gehütet hatte.
Vielleicht war es gerade seine Verwegenheit gewesen, die sie angelockt hatte. Selbst stammte sie aus einer wohlhabenden, fast elitären Familie, und als sie dort ein Jahr später mit Ryan im Schlepptau aufgetaucht war, hatte es nicht lange gedauert, bis ihre Eltern den wahren Charakter ihres Freundes erkannt hatten. Die Situation war dann bald eskaliert. Ryan war seiner Freundin gegenüber ruppig geworden, hatte ihren jüngeren Bruder verdroschen und schließlich auch noch ihren Vater angegriffen.
Nach dem Rauswurf aus dem Haus der Familie hatte er sich zunächst wieder nach Liverpool zurückgezogen, aber auch in seiner Heimatstadt kein Bein auf den Boden bekommen. Mehr und mehr dem Alkohol verfallen, hatte er sogar eine einjährige Haftstrafe absitzen müssen. Nach der Entlassung hatte er von heute auf morgen beschlossen, sein Leben grundlegend zu ändern. Nachdem er lange kaum an seine Tochter gedacht hatte, war der Drang nach einem Wiedersehen dann immer stärker geworden. Mit den besten Vorsätzen war er nach Kopenhagen gereist, um seine Exfreundin um Verzeihung zu bitten. Diese – mittlerweile verheiratet – hatte davon nichts wissen wollen, und in Ermangelung von Geld und einer Alternative hatte Ryan in einem Park übernachtet. Das war der Auftakt seiner Obdachlosigkeit gewesen, in der es ihn mal hierhin und mal
dorthin trieb. Immer wieder suchte er nach Gelegenheiten, wenigstens einen kurzen Blick auf seine Tochter zu erhaschen.
Heute hatte es nicht geklappt. Eigentlich hätte seine Tochter am späten Nachmittag das Leichtathletiktraining besuchen sollen, aber sie war nicht aufgetaucht. Das Trainingsgelände war von einem vorbeiführenden Weg problemlos und unauffällig einsehbar. Wie viele Stunden er dort schon auf der Bank verbracht hatte, konnte er nicht sagen. Selten hatte sie in seine Richtung geblickt, hin zu dem Fahrrad mit den Plastiktüten, in denen er seine wenigen Habseligkeiten mit sich führte. Heute hatte er sie endlich ansprechen wollen, auch wenn die Gefahr einer verstörten Reaktion groß war. Aber hatte nicht jede Tochter das Recht, ihren leiblichen Vater zu kennen? Hatte eine Krankheit ihren Trainingsbesuch verhindert? Oder hatte die allgemeine Olympiaeuphorie dafür gesorgt, dass sie sich lieber ins Getümmel der Stadt stürzte, anstatt an ihrer Hochsprungtechnik zu feilen?
Das Vorderrad quietschte, als Ryan die letzten Meter bis zu seinem Nachtquartier zurücklegte. Anderen Obdachlosen ging er aus dem Weg, zu viel Kontakt brachte Probleme. Überdies wollte er nicht der Versuchung erliegen, wieder zur Flasche zu greifen. Er war seit fünf Jahren trocken, und davon abgesehen verschlang der Fusel zu viel Geld. Ohne dieses Laster kam er gar nicht so schlecht über die Runden. Musste man keine Miete bezahlen, brauchte man nicht viel. An das Landstreicherdasein – er hasste den Begriff Obdachloser – hatte er sich gewöhnt. Er wollte, nein, er
konnte
gar nicht mehr anders leben.
Er stieg vom Rad, zog eine zusammengerollte Luftmatratze vom Gepäckträger und blies sie auf. Unter Brücken übernachtete er ungern. Nur, wenn es keinen besseren Platz gab. Außerdem war in diesem Sommer ein Regenschutz selten nötig. Auch diese Nacht war mild, der Himmel sternenklar. Er bevorzugte die Stille, abseits des Straßenlärms, aber doch so
nah an der Zivilisation, dass die Einsamkeit nicht zu bedrohlich wirkte. In Kopenhagen ließen sich derzeit nicht viele solcher Orte finden, doch südwestlich vom Zentrum, wo die Stadt schon in die Außenbezirke überging, lag am Ufer der Ostsee ein Industriegebiet, in dem es nachts kaum Leben gab. Allerdings sollte sich dies nach den Plänen der Stadtentwickler bald ändern, die hier im Vorort Avedøre durch neun künstliche Inseln drei Millionen Quadratmeter Fläche neu erschaffen wollten. Nicht weniger als Nordeuropas größtes und grünstes Industriegebiet sollte entstehen.
Ryan ließ es auf sich zukommen und hoffte darauf, dass das Vorhaben schon an der Finanzierung scheiterte. Ihm wäre es am liebsten, wenn alles so bliebe, wie es war. Zwischen dem Museum für moderne Kunst und dem Flughafen gelegen, war dieser Ort gut zu erreichen und zugleich geschützt. Die Lage direkt an der Køge-Bucht war großartig und lud dazu ein, den Blick weit über die Ostsee oder hinüber zu den Lichtern der Stadt schweifen zu lassen. So gesehen war es die reinste Verschwendung, dass hier ein Recyclinghof, ein Elektrizitätswerk und zahlreiche Industrieunternehmen untergebracht waren. Am Wasser führte ein öffentlicher Weg entlang, drei Windräder säumten das Ufer.
Zwischen dem Recyclinghof und einer Kläranlage gab es einen schmalen Grünstreifen, dort breitete Ryan auch an diesem Abend seine Luftmatratze hinter einem Busch aus. Stand der Wind so wie heute, bekam man den Geruch des Abwassers nicht in die Nase. Dafür störte etwas anderes seine Grübeleien darüber, welche Worte er beim ersten Treffen an seine Tochter richten sollte. Er war nicht allein. Von dem kurzen Stichweg, der hinüber zur Straße führte, erklangen Männerstimmen. Hastig schob er die Luftmatratze ins Gestrüpp und verbarg anschließend sein Fahrrad. Erst einmal waren ihm hier andere Leute in die Quere gekommen – angetrunkene Jugendliche, die vergeblich in eines der Windräder hatten eindringen wollen.
Die sich nähernden Stimmen klangen hingegen nicht angeheitert, eher zornig. Dass es sich um zwei Männer handelte, erkannte er kurz darauf. Worüber sie so erregt diskutierten, konnte er nicht verstehen, obwohl sie soeben seinen Lagerplatz in wenigen Metern Entfernung passierten, um dann weiter bis zum Wasser zu gehen. Die Sprache war Ryan unbekannt, aber es wirkte so, als werde der eine Mann vom anderen zur Rede gestellt.
Kurz darauf eskalierte die Situation. Der Gescholtene schlug dem Mann gegen die Brust und stieß ihn von sich. Mit ausgestrecktem Mittelfinger ging er in Richtung Straße zurück. Der andere rief ihm etwas hinterher, worauf der Angesprochene erst zögerte, sich dann aber wieder umdrehte und zurückkehrte. Die Stimmen wurden ruhiger, offenbar war der Disput beigelegt. Ryan hielt sich weiter verborgen und hoffte, dass sich die beiden endlich verziehen würden. Darauf deutete aber nichts hin. Der größere Mann legte einen Arm um die Schultern des anderen, drehte ihn in Richtung Meer und deutete auf das beleuchtete Kopenhagen.
Dann beschleunigte sich Ryans Herzschlag. Mit der freien Hand zog der Mann einen Gegenstand aus der Tasche – ein Springmesser. Plötzlich ging alles ganz schnell. Übergangslos riss er den kleineren Mann an sich. Mit einer kraftvollen Bewegung fuhr er mit dem Messer über dessen Hals, dann warf er den Körper zu Boden. Kein Schrei, nur ein leises, schnell verstummendes Röcheln war zu hören. Ryan musste sich die Hand vor den Mund halten, um nicht selbst ein Geräusch von sich zu geben.
Regungslos blieb der Unbekannte über seinem Opfer stehen und betrachtete es. Von seinem Versteck aus konnte Ryan nur erahnen, dass die Kehle in einem Sekundenbruchteil durchtrennt worden war. Aber dabei blieb es nicht. Sosehr ihn die Szene schockierte und abstieß, Ryan konnte nicht wegsehen.
Der Mann blickte sich um, ging dann in die Knie und griff nach dem Arm des Toten. Wieder benutzte er das Messer, diesmal musste er mehr Kraft aufwenden. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er sich wieder erhob – zwischen seinen Fingern baumelte die Hand des Mordopfers. Ryan kämpfte gegen den Würgereiz an, während er zusah, wie die abgetrennte Hand in einer Tüte verschwand.
Dann verlor er den Kampf gegen seinen Magen und erbrach das Abendessen, eine Baguette mit Salami und Käse. Kalter Schweiß stand auf seiner Haut, und als er wieder zum Wasser blickte, war er wie gelähmt. Dem Mörder waren die Würgegeräusche nicht entgangen. Ruckartig drehte er den Kopf und sah in Ryans Richtung. Dann kam Bewegung in ihn. Mit wenigen Sätzen hatte er den Weg an der Wasserlinie überquert und stürmte direkt auf den Busch zu, hinter dem sich Ryan verbarg.
Die Panik ließ Ryan einen Schrei ausstoßen. Er zitterte, dann tat er das einzig Sinnvolle: Er stürzte aus dem Gebüsch und rannte. Aber der Fluchtreflex hatte zu spät eingesetzt. Er war nie ein großer Sportler gewesen, und er hätte schon großes Glück haben müssen, in dieser Gegend um diese Uhrzeit auf andere Menschen zu treffen. Es gab nur eine Chance. Die E20 war nicht weit entfernt, dort herrschte Tag und Nacht Verkehr. Ryan hörte, wie die Schritte näher kamen. Er begann wie von Sinnen um Hilfe zu brüllen und verfiel dabei in seine Muttersprache. Als er einen Stoß in den Rücken bekam, strauchelte er und ging zu Boden.
Grob wurde er auf den Rücken gedreht, dann setzte sich der Mann auf seinen Brustkorb. Wieder blitzte das Messer auf, aber es erfolgte kein Stich. Der Angreifer schien zu zögern. Waren das Zweifel in den dunklen Augen? Ryan lag regungslos da, er meinte jedes Haar in dem Vollbart über ihm zu erkennen. Dann wurde das Messer zur Seite gelegt, und er spürte Erleichterung.
Doch im nächsten Moment umfassten zwei Hände seinen Hals und drückten erbarmungslos zu.
Erfolglos versuchte Ryan, die Hände von seiner Kehle zu lösen. Immer wieder schlug er auf den Kopf des Mannes ein und bäumte sich verzweifelt auf. Dann erlahmten seine Kräfte, der Blick verschwamm. Immer schmerzhafter wurde das Verlangen nach Sauerstoff, während er dachte, dass seine Tochter ihren Vater nie zu Gesicht bekäme.