KAPITEL
4
Gut hundert Kilometer südöstlich von Zagreb war die Landschaft vom Ackerbau geprägt. Sobald man von der E70 abbog, gab es kaum noch größere Siedlungen, und hatte man erst den Naturpark Papuk beim gleichnamigen Gebirgszug erreicht, wurde es noch einsamer. Am Rande dieses großen Waldgebiets befand sich ein Gehöft, das sich seit mehreren Generationen im Besitz der Familie Jurić befand. Landwirtschaft betrieb man schon länger nicht mehr, denn seit Milan erste Erfolge als Kanusportler feierte, hatte er jedes Interesse daran verloren. Die Ackerflächen hatte er an Nachbarhöfe verpachtet, der Traktor war genauso verkauft worden wie fast alle weiteren landwirtschaftlichen Maschinen.
Nur ein paar alte Geräte hatte er behalten. Die Dreschflegel und der Pferdewagen stammten aus einer anderen Zeit und wären ihm wohl von einem Museum mit entsprechender Ausrichtung gern abgenommen worden. Zwei der drei Scheunen hatte er abreißen und auf der freien Fläche einen Strömungskanal anlegen lassen, um einen Teil seines Trainings darauf zu absolvieren. Die verbliebene Scheune war innen nicht mehr wiederzuerkennen, da man sie in ein modernes Fitnessstudio verwandelt hatte. Billig waren diese Baumaßnahmen nicht gewesen, aber Milan hing an seiner Heimat und hätte sonst wegziehen müssen,
um seinen Sport mit der nötigen Professionalität ausüben zu können.
Zwecks Wettkampfbesuchen oder Trainingslagern war er ohnehin oft auf Reisen, daneben musste er auch häufig gemeinsam mit seinem Partner trainieren, um ein eingespieltes Team zu bilden. Glücklicherweise wohnte der nur anderthalb Autostunden entfernt in Zagreb und hielt sich genauso gern auf dem Anwesen auf wie Milan selbst. Seine Frau Vesna hatte keine Einwände, dass eines der Zimmer fest für den Sportkameraden reserviert war, da sie immer wieder unter der Abgeschiedenheit des Anwesens litt. Sie selbst war in Split aufgewachsen, einer Hafenstadt, in der das Leben pulsierte.
Entsprechend schwer war ihr die Umstellung gefallen, und sie nutzte fast jede von Milans Abwesenheiten, um ihre Familie an der Küste zu besuchen. Auch diesmal hatte sie mit diesem Gedanken gespielt, aber die knapp sechsstündige Autofahrt wollte sie sich mit einem Baby auf dem Rücksitz nicht antun. Die Kleine hasste das Autofahren und schrie schon, sobald man aus der Einfahrt rollte. An diesem Morgen war Vesna dessen ungeachtet kurz davor, die Babyschale doch auf den Rücksitz zu heben. Hinter ihr lag eine Nacht mit wenig Schlaf, genauso war es ihrer Tochter ergangen. Das Gesicht des acht Monate alten Kindes war verquollen, vielleicht machte ihm lediglich ein durchbrechender Zahn zu schaffen, es konnte aber auch ein Infekt dahinterstecken. Sollte sich der Zustand ihrer Tochter nicht schnell ändern, würde Vesna zum Kinderarzt fahren müssen.
Vesna hatte den Kinderwagen eine halbe Stunde lang herumgeschoben, und endlich fielen die Augen des Babys zu. Vorsichtshalber setzte sie ihren Rundgang weitere zehn Minuten fort, dann stellte sie den Wagen im Schatten eines Baumes ab. Eine Katze strich um ihre Beine, und von einem kleinen Gehege klang das Gegacker von Hühnern herüber. Vesna hatte darauf
bestanden, dass wenigstens ein paar Tiere den Hof bevölkerten, auch wenn sie nur ein schwacher Ersatz für menschliche Gesellschaft waren. Seit vier Jahren wohnte sie nun hier und hatte erst zwei Kontakte schließen können, die aber nicht über den Status einer Bekanntschaft hinausgingen.
Sie ging auf eine Wiese und genoss den Geruch des Sommers. Sofort kamen die drei Ziegen angelaufen, die sie schon im ersten Jahr angeschafft hatte. Eigentlich hätte sie auch gern einen Hund auf dem Hof gehabt, aber seit Milan als Kind von einem Straßenköter in die Wade gebissen worden war, hatte er Angst vor Hunden. Vesna tätschelte die Ziegenschädel und merkte, dass die Tiere frisches Wasser brauchten. Sie erhob sich und ging mit einem Eimer zum Haus. Vom Kinderwagen kam kein Geräusch, hoffentlich war das Schlimmste überstanden!
In der Küche roch es verbrannt. Fluchend schaltete sie den Ofen ab. Über den Versuchen, ihr Kind in den Schlaf zu bringen, hatte sie den Brotlaib vergessen. Sie öffnete das Fenster und blickte zur Uhr. Noch zwei Stunden, dann wollte sie den Fernseher einschalten, um ihren Mann bei seinem Vorlauf zu beobachten. Sie ging nicht davon aus, dass er in der Qualifikation hängen blieb, die Goldmedaille war nicht ohne Grund fest eingeplant. Von den Tumulten bei der Eröffnungsfeier hatte sie nichts mitbekommen, wegen des weinenden Babys hatte sie kurz nach dem Einmarsch der Nationen den Fernseher abschalten müssen.
Immerhin war Milan von einer Kamera in Großaufnahme erfasst worden, und kurz vorher hatten sie noch miteinander telefoniert. Er hatte abwesend gewirkt, aber sie konnte verstehen, dass er im Moment keine Gedanken für Babyzähne oder volle Windeln übrighatte. An diesem Morgen hatte er sich noch nicht bei ihr gemeldet, aber das tat er nie unmittelbar vor einem Wettkampf.
Auf dem Weg zurück zu den Ziegen blieb Vesna im Flur vor einem Glasschrank stehen. Er beherbergte sämtliche Medaillen und Pokale, die Milan bislang angehäuft hatte. Ein Olympiasieg war noch nicht dabei, der Platz für die Goldmedaille aber schon reserviert. Milan hatte eine große Feier auf dem Anwesen versprochen, sofern in Kopenhagen alles wie geplant ablief. Nicht nur deswegen drückte ihm Vesna beide Daumen, sie gönnte ihm den Erfolg und liebte ihn von ganzem Herzen.
Nur in einer Frage gerieten sie immer wieder aneinander: Vesna bestand darauf, ihr eigenes Geld zu verdienen, sie wollte eine Aufgabe und einen Job. Bis zur Geburt ihrer Tochter hatte sie als Übersetzerin gearbeitet, das war dank Internet auch hier auf dem Land möglich. Natürlich hatte Milan recht damit, dass er genug für die Kleinfamilie verdiente. Früher hätte Vesna nie gedacht, dass man als Kanusportler so gut leben konnte. Aber Milan war eben geschickt darin, immer wieder neue Sponsoren aufzutun, und er gab alles, um den sportlichen Erfolg nicht zu gefährden.
Gedankenverloren stellte sie den Eimer ab und rubbelte mit dem T-Shirt über eine verschmierte Stelle auf der Glasscheibe. Sein Ehrgeiz hatte auch Schattenseiten. Die Dopingsperre hätte fast das Ende seiner Karriere bedeutet. Hatte er daraus gelernt? War er sonst ein umgänglicher Typ, wurde er richtig ruppig, sobald sie dieses Thema ansprach. Ihr war nicht entgangen, dass er immer wieder Telefonanrufe erhielt und sich dann außer Hörweite begab. Irgendetwas lief im Hintergrund, das ihr nicht geheuer war.
Noch beängstigender war der Anblick, als sie das Haus wieder verließ. Vesna wurde blass und blieb stehen. Von ihr unbemerkt war ein Auto vorgefahren, drei Männer standen unter dem Baum neben dem Kinderwagen, ein vierter näherte sich ihr. Zu welcher Sorte sie gehörten, war unschwer zu erkennen. Alle waren stämmige, muskelbepackte Kerle. Sie trugen eng
anliegende T-Shirts und Sonnenbrillen und strahlten selbstbewusste Dominanz aus, während Vesna sich hastig umsah. Natürlich war keine Hilfe in der Nähe, wo auch? Das nächste Gebäude befand sich Hunderte Meter entfernt und wurde von zwei runzligen Greisen bewohnt.
»Damit wir uns gleich richtig verstehen, Vesna!« Der Mann war noch drei oder vier Meter entfernt und griff zum Hosenbund an seinem Rücken. Als die Hand wieder zu sehen war, umfasste sie eine Waffe. Vesna stöhnte leise auf, zu mehr war sie nicht fähig. Erinnerungen an die Geschichten ihrer Eltern und Großeltern über die Gräueltaten während der Jugoslawienkriege glommen in ihr auf.
»Was … wollt … ihr hier? Bitte, ich …«
Unbeeindruckt von ihrer Angst baute sich der Mann vor ihr auf. »Du schiebst den Kinderwagen ins Wohnzimmer und setzt dich dort hin. Kein Geschrei, keine Telefonate. Die drei da hinten«, er deutete ohne sich umzudrehen mit dem Daumen über die Schulter, »sehen sich im Haus um. Wenn sie gefunden haben, wonach wir suchen, bist du uns wieder los. Alles verstanden?«
»Ja … nein … nach was sucht ihr? Wir haben nichts …«
Die Waffe richtete sich auf ihren Kopf. »Ob du verstanden hast?«
Vesna musste sich am Türrahmen abstützen, nickte aber. Die anderen Männer näherten sich, einer schubste den Kinderwagen vor sich her. Wie gelähmt verfolgte Vesna ihr Näherkommen. Dann stürzte sie nach vorn, um sich zu versichern, dass ihre Tochter unbeschadet geblieben war. Die Kleine schlief, sie hatte von der veränderten Situation nichts mitbekommen. Die Gedanken ratterten Vesna durch den Kopf. Hatte sie Geld im Haus? Nur ein paar Scheine und Münzen, das würde diese Typen nicht zufriedenstellen. Der Schmuck? Fest schlossen sich ihre Finger um den Griff des Kinderwagens.
»Ich … wir haben nicht viel. Ein wenig Geld und … oben im Schlafzimmer etwas Schmuck.« Sie schluckte. Erbstücke ihrer Großmutter waren darunter, die ihr viel bedeuteten.
»Wir suchen was anderes. Wo hat dein Mann die Unterlagen?«
»Mein … Milan?« Ihr wurde kalt. »Was für Unterlagen?«
»Die er der Polizei übergeben will.«
Sie starrte ihn an, als würde er in einer fremden Sprache zu ihr sprechen. »Geht es … hat er wieder gedopt?«
Der Wortführer nickte den anderen zu. »Sie hat keine Ahnung. Fangt an!«
»Was? Wovon hab ich keine Ahnung? Was hat Milan angestellt?«
Sie bekam keine Antwort, sondern wurde mitsamt dem Kinderwagen ins Innere gedrängt. Als sie erneut Fragen zu stellen wagte, schlug man ihr grob ins Gesicht. Sie schrie so laut auf, dass ihre Tochter sich bewegte, dann aber wieder in den Schlaf zurückglitt. Vesna ergab sich ihrem Schicksal. Der Schutz ihrer Tochter hatte oberste Priorität! Sie fuhr sich mit der Hand über die brennende Stelle auf ihrer Wange und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Ihr gegenüber ließ sich der Mann in einem Sessel nieder, die Waffe behielt er in der Hand. Seine Augen waren durch die Sonnenbrille nicht zu erkennen, Vesna ahnte aber, dass er sie unverwandt ansah.
Aus dem Obergeschoss hörte sie Geräusche. Möbel wurden verrückt, Dinge fielen auf den Boden. In was für eine Situation hatte Milan sie hier gebracht, worin war er verwickelt? Um Doping ging es offenbar nicht, das hatte die Reaktion der Männer gezeigt. Ihre Fantasie entwarf Szenarien, die alle nur eines gemeinsam hatten: Sie waren völlig unrealistisch. Quälend langsam vergingen die Minuten, und als nach einer Stunde die Tür geöffnet wurde, hatte sie kaum noch die Kraft, den Kopf zu drehen.
»Hier im Haus ist nichts!«, rief der Kräftigste von den vieren, »wir sehen uns in der Scheune und auf dem Grundstück um.«
Vesnas Bewacher nickte nur, es war die erste Bewegung, die sie seit langer Zeit bei ihm ausmachte. Erneut versuchte sie, ein Gespräch zu beginnen. Sofort hob er den Arm und zielte mit der Pistole wieder auf ihren Kopf. Sie spürte, dass sie bald auf die Toilette musste, traute sich aber nicht, die Stille ein weiteres Mal zu unterbrechen.
Diesmal dauerte es nur knapp zehn Minuten, bis das Ergebnis der Suche mitgeteilt wurde. Alle drei Männer erschienen in der Tür, einer trug eine Plastiktüte unter dem Arm.
»Ein Laptop, ein paar USB-Sticks und ein Notizheft«, sagte er. »Die Sticks und das Heft lagen in einer Schublade. Milan hat drüben ein kleines Büro. Den Laptop haben wir vorsichtshalber auch mitgenommen. Sonst haben wir nichts gefunden.«
»Okay.« Der Anführer machte keine Anstalten, sich zu erheben. Stattdessen verschob er den Sessel und bedeutete den anderen mit einem Nicken, sich neben Vesna zu setzen.
»Wenn ihr jetzt habt, was ihr sucht … ich … ich muss mit meiner Tochter zum Kinderarzt. Sie ist krank.«
»Sie wird schon nicht draufgehen.« Er sah auf die Uhr. »Es dauert nicht mehr lang, dann bist du uns los. Schalt den Fernseher ein.«
»Warum?«
»Weil wir uns zusammen Milans Rennen ansehen werden. Ach ja, ehe ich es vergesse.« Er zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Das sollen wir dir geben. Du bekommst jeden Monat dieselbe Summe, dafür redest du mit niemandem. Streich den heutigen Tag aus deinem Gedächtnis. Tust du das nicht, wird deiner Tochter kein Kinderarzt mehr helfen können. Und jetzt schalt endlich den Fernseher an, ich will nichts verpassen.«
Ungläubig betrachtete Vesna das Geld, während ihre Hand nach der Fernbedienung griff. Jetzt verstand sie gar nichts mehr. Immerhin begriff sie, dass der Albtraum bald vorbei sein würde und ihr tatsächlich nichts zu geschehen schien. Zugleich erwachte eine ungute Vorahnung, als sie die vielsagenden Blicke der Männer bemerkte, die es kaum erwarten konnten, den Kanuwettkampf im Fernsehen zu verfolgen. Sportbegeisterung steckte sicher nicht dahinter. Hatten sie Milan etwas angetan? Verstört blickte sie zu dem Bildschirm, auf dem gerade die Nachrichten mit dem Wetterbericht zu Ende gingen. Gleich würde sie es erfahren, wenigstens schlief ihre Tochter noch immer und bekam von all dem nichts mit.
Nicht nur für Hannes waren die letzten Stunden der Wettkampfkonzentration nicht förderlich gewesen, denn nur besonders hartgesottene Athleten hatten nach der Eröffnungsfeier in den Schlaf finden können. Schon der Transport zurück zum olympischen Dorf hatte sich hingezogen, sodass Hannes und Ralf erst nach Mitternacht in ihrem Zimmer eingetroffen waren. Unterwegs hatte er mit Anna und seinen Eltern telefoniert, die sich die Zeremonie auf den Großbildleinwänden der Olympiameile angesehen hatten.
Nun traf er sie endlich persönlich. Da sie keine Akkreditierungen besaßen, war ein Treffen nur außerhalb des Wettkampfbereichs möglich. Allen saß der Schreck noch in den Knochen, obwohl sich mittlerweile herausgestellt hatte, dass keine unmittelbare Gefahr bestanden hatte. Bekannt war aber nur, was die Presse bislang veröffentlicht hatte, und als Polizist fühlte es sich für Hannes sonderbar an, so nahe am Ort eines Verbrechens gewesen zu sein, ohne aus erster Hand Informationen zu erhalten. So konnte er den offiziellen Mitteilungen nur Glauben schenken oder es bleiben lassen. In seinem eigenen Interesse tendierte er zu Ersterem.
Kurz nachdem das Feuerwerk im Olympiastadion begonnen hatte, war bei einem dänischen TV-Sender eine Bombendrohung eingegangen. Der Zeitraum bis zur Detonation war mit zwanzig Minuten angegeben worden. Bis die Meldung die zuständigen Behörden erreicht hatte, waren davon schon fünf Minuten verstrichen gewesen. Die Beschreibung des konkreten Ortes innerhalb des Stadions war detailliert gewesen: ein Technikbereich, der kaum betreten wurde. Wieso dort ein Unbefugter hatte eindringen können, war noch ungeklärt.
Dass es sich nicht um eine Bombe, sondern lediglich um eine täuschend echte Attrappe gehandelt hatte, war erst um ein Uhr nachts von den örtlichen Behörden bekanntgegeben worden. Die Ermittlungen würden mit höchster Intensität vorangetrieben, zu den Tätern gäbe es noch keine Vermutungen. Die Presse spekulierte natürlich in alle Richtungen, und auch unter den Menschen in Kopenhagen gab es kaum ein anderes Thema. Am meisten hatte Hannes aber noch an seiner eigenen Reaktion zu knabbern, wie er seiner Freundin gerade erklärte.
»Wäre Ralf nicht gewesen, würde ich wahrscheinlich jetzt noch im Stadion stehen. Ich war wie gelähmt, hatte Todesangst und … tja, keine Ahnung.«
»Ist für mich total nachvollziehbar«, erwiderte sein Kumpel Ben. »Wär mir nicht anders gegangen. Wie hättest du wissen sollen, dass es nur ein Fake war? Alle waren in Panik!«
»Was wahrscheinlich Zweck der Sache war«, meinte Hannes. »Nur warum?«
»Ich glaube eher, dass dich die Nachwirkungen der letzten Ermittlung eingeholt haben«, überging seine Mutter die Frage. »Ich hab dir damals schon gesagt, dass du dir psychologische Hilfe suchen sollst. Das, was du erlebt hast – und genauso Anna – kann zu posttraumatischen Belastungsstörungen führen.«
»Stimmt vielleicht. So einen Zustand hab ich noch nie erlebt. Eine solche Situation allerdings auch nicht, vielleicht sollte ich also nicht zu viel hineininterpretieren.«
»Aber runterspielen auch nicht.« Anna griff nach seiner Hand. »Du hast seit Wochen Schlafstörungen und reagierst schreckhaft.«
»Außerdem kapselst du dich ab«, ergänzte Ben.
»Was? Wie kommst du darauf?«
»Merkst du das nicht?« Bens Augenbrauenpiercing wanderte nach oben, als er ihn ungläubig ansah. »Du hast dich in letzter Zeit kaum noch bei mir gemeldet.«
»Ich hatte Olympia vor der Brust! Deshalb auch die unruhigen Nächte und … habt ihr euch eigentlich gegen mich verschworen?«
»Natürlich nicht.« Sein Vater warf seiner Mutter einen mahnenden Blick zu. »Und jetzt vergessen wir das alles mal und blicken nach vorn. Hannes bestreitet nämlich gleich das wichtigste Rennen seines Lebens.«
Dankbar nickte Hannes ihm zu, ihm gelang sogar ein Grinsen. »Stimmt nicht ganz. Das wichtigste Rennen wird das Finale sein.«
»Nimm’s nicht zu locker, deine Gruppe ist nicht ohne.«
»Den wievielten Platz musst du eigentlich machen?«, fragte Ben.
»In jedem Vorlauf kommen die ersten fünf weiter. Dazu der insgesamt Sechstschnellste.«
»Und wie viele Boote fahren in jedem Vorlauf?«
»Acht.«
»Na dann.« Ben grinste jetzt ebenfalls und strich sich seine blonden Dreadlocks aus dem Gesicht. »A gmahde Wiesn, wie meine bayerische Oma gesagt hätte.«
Das sah Hannes nicht ganz so, zumal er per Los auf eine der von ihm ungeliebten Außenbahnen eingeteilt worden
war. Allein deshalb war es wichtig, sich nicht nur knapp fürs Halbfinale zu qualifizieren, denn dann wurden die Schnellsten der Vorläufe auf die mittleren Bahnen verteilt. Der weitere Austausch mit seinen wichtigsten Fans führte dazu, dass er mehr und mehr in den Wettkampfmodus rutschte. Eine halbe Stunde vor dem Start drückte er alle noch einmal an sich, dann ließ er am Sportlereingang seine Akkreditierung überprüfen, während sich die anderen auf den Weg zur Tribüne machten.
Sein Trainer war schon halb aufgelöst und stürmte ihm entgegen. »Meine Güte, wo bleibst du denn? Dein Boot liegt längst unten, hast du …«
»Das Aufwärmprogramm ist schon erledigt«, unterbrach ihn Hannes und versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
Es war fast windstill, der Himmel locker bewölkt, und die Temperatur lag knapp über zwanzig Grad. Die Bedingungen passten, seine schlechtesten Leistungen hatte er immer bei kühlem Regenwetter abgeliefert. Das ließ auch für das Halbfinale hoffen, das anderthalb Stunden nach den Vorläufen ausgetragen wurde. Bis zum Finale waren ihm dann drei Ruhetage vergönnt, und die Meteorologen sagten keine Änderung der Wetterlage voraus. Rasch lief er zu den Umkleidekabinen, zog den Trainingsanzug aus und streifte sich das Trikot mit den deutschen Farben und dem Adler über. Diesmal verzichtete er auf seine Kopfhörer, aus denen er sich sonst vor Wettkämpfen beschallen ließ. Heute wollte er alles mitbekommen, und als er sich dem Startbereich näherte, blickte er suchend zur Tribüne, die bei den Vorläufen nur zur Hälfte mit Zuschauern besetzt war. Natürlich konnte er niemanden erkennen, aber allein das Wissen, dass dort seine Eltern, Anna und Ben saßen, war wertvoll.
Sein Blick glitt weiter zur Silhouette Kopenhagens. Es war ein besonderes Erlebnis, in einem Hafen mitten in der Stadt an
den Start zu gehen. Das Wasser lag erstaunlich ruhig, allerdings handelte es sich auch eher um einen breiten Kanal, an dessen Enden zudem Barrieren für eine ruhige Wasseroberfläche sorgten. Über einen Steg gelangte man zu den Booten, aber noch war Hannes nicht an der Reihe. Er trat im letzten der drei Vorläufe an, noch lag sein Boot an Land. Während er die Muskulatur weiter lockerte und dehnte, betrachtete er es.
Jahrelang war ein pechschwarzer Canadier sein Glücksbringer gewesen, nun ruhte sein Blick auf einem orangefarbenen Rumpf. Das Boot war baugleich, aber trotzdem nicht dasselbe. Nicht nur Hannes war zuletzt den Attacken eines Wahnsinnigen ausgesetzt gewesen, sein Kanu war ebenso in das Visier dieses Feldzuges geraten und mit einer Axt zertrümmert worden. Eine Reparatur war aussichtslos gewesen, weshalb Hannes nur ein kleines Stück als Erinnerung behalten hatte. Er verspürte tiefes Bedauern, dass diesem Boot der letzte große Auftritt verwehrt worden war. Er hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm gehabt, eine für Nichtsportler wohl kaum nachvollziehbare Empfindung.
Ein Schuss ertönte, und erschrocken riss er die Augen auf. Er war so versunken gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie der erste Vorlauf freigegeben wurde. Nach vier Minuten, fünf Sekunden und wenigen Zehntelsekunden überquerte das siegreiche Boot die imaginäre Ziellinie in tausend Metern Entfernung. Hannes atmete auf. Das war keine starke Zeit, so viel stand fest. Oder war das Wasser unruhiger als gedacht? Vielleicht gab es eine Strömung, oder der Wind hatte aufgefrischt?
Sein Trainer tat diese Überlegungen als Humbug ab, als er wieder neben seinen Athleten trat, um die letzten taktischen Details zu besprechen. Ihm war vielmehr daran gelegen, dass Hannes nicht in alte Muster verfiel und die ersten fünfhundert Meter zu schnell anging. Zu oft war ihm dieser Fehler schon
zum Verhängnis geworden, und sein Coach schien die Gefahr zu wittern, dass die Verführung bei einem olympischen Wettkampf besonders groß war. Hannes nickte folgsam und ließ sich den Nacken massieren, während er den zweiten Vorlauf beobachtete. Hier trat auch Ralf an, der Glückspilz hatte natürlich eine mittlere Bahn zugelost bekommen.
Eigentlich durfte in jeder Disziplin nur ein Boot pro Nation antreten, und so ganz hatte Hannes noch immer nicht verstanden, warum es diesmal eine Ausnahme gab. Es musste irgendwie mit den Weltcup-Punkten und einer vom IOC wegen Staatsdoping disqualifizierten Nation zusammenhängen, wodurch im Frühjahr ein Nachrückplatz freigeworden war. Diesen Nachrückplatz belegte allerdings Ralf und nicht er selbst, darauf legte er Wert.
Ralfs Auftritt war eine Mahnung, die Worte des Trainers ernst zu nehmen. Nach dreihundertfünfzig Metern führte er mit zwei Längen Vorsprung, dann wurde er Meter für Meter eingeholt. Dass er am Ende knapp Fünfter wurde, bekam Hannes nur noch aus den Augenwinkeln mit, da er nun selbst seine Startposition einnehmen musste.
Es war sechzehn Minuten vor elf, somit blieb noch eine Minute, um sich zu konzentrieren. Er verlagerte sein Gewicht nach vorn. Auf dem rechten Bein kniete er, das linke war aufgestellt. Dann tauchte er das Stechpaddel ins Wasser und wartete darauf, dass sich nach dem Knall die Startanlage absenkte und den Canadier freigab. Als der Countdown lief, setzte ein Automatismus ein. Die Körperspannung verstärkte sich. Das Sichtfeld engte sich ein. Die Atmung wurde ruhig. Er dachte nicht mehr an seine Eltern, auch nicht an Anna oder Ben, und ebenso wenig an all die anderen Menschen, denen die Kameras gerade sein Gesicht in Großaufnahme zeigten. Nur der Puls war höher als gewöhnlich.
Ein Schuss ertönte, und wieder zuckte er zusammen. Seine Kehle verengte sich, während die Arme ihren Rhythmus aufnahmen. Dass er den Start verpennt hatte, weil ihn der Knall wieder in Panik versetzt hatte, erkannte er, als er zum ersten Mal nach einhundert Metern einen Blick nach links warf. Alle anderen Boote waren vor ihm – und bei dieser Erkenntnis geriet er aus dem Takt. Dann biss er die Zähne zusammen. Eine Tribüne glitt an ihm vorbei, und er ignorierte die Anweisung seines Coaches. Wann, wenn nicht jetzt, war der Zeitpunkt zum Gas geben? Fünfhundert Meter weiter sah die Lage etwas besser aus, und als er im Ziel sofort in Richtung Anzeigetafel blickte, atmete er auf. Er war Vierter geworden, es war gerade noch mal gut gegangen. Auf die Zeit konnte er zwar nicht stolz sein, aber die war im Moment noch nebensächlich. Was er jedoch unbedingt in den Griff bekommen musste, waren seine Nerven!
Erschöpft, aber glücklich paddelte er zum Anleger. Jetzt galt es, die anderthalb Stunden bis zum nächsten Start sinnvoll zu nutzen. An Land sah er Ralf abseits von den anderen auf dem Rasen sitzen. Besonders erfreut über seine Qualifikation wirkte der Trainingspartner nicht. Hannes überließ sein Boot den zahlreichen Helfern und trat zu ihm.
»Glückwunsch! War knapper als erwartet.«
Er streckte Ralf die Hand entgegen, der aber nur müde einschlug. Hannes setzte sich neben ihn. »Danke noch mal für gestern Abend«, sagte er, etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Ralf zuckte mit den Schultern und wischte sich Schweiß aus seinen dichten Augenbrauen.
»Irgendwas stimmt nicht mit dir«, stellte Hannes fest. Erneut ertönte ein Schuss, der erste Vorlauf der Zweier-Canadier hatte begonnen. Er registrierte, dass sich das favorisierte kroatische Boot sofort an die Spitze setzte. »Das ist jetzt deine letzte Chance, Ralf. Entweder erzählst du mir, was los ist, oder ich werde deinen komischen Zustand ab jetzt ignorieren.«
Ralf schien zunächst weiter schweigen zu wollen, dann begann er doch, vor sich hinzumurmeln. »Es ist … stimmt schon, dass ich ein Problem habe. Nur …« Er verstummte.
»Wenn du es für dich behalten willst, ist das okay. War nur ein Angebot.«
»Ich weiß. Und dass ausgerechnet du … fühlt sich komisch an. Andererseits bist du wahrscheinlich genau der Richtige.«
»Wieso?«
»Na weil …« Ihm war anzusehen, wie unbehaglich er sich fühlte. »Du bist Polizist, und … ich vertraue dir.«
»Dass ich das mal aus deinem Mund hören würde! Aber wieso brauchst du einen Polizisten?«
»Weil ich …« Wieder brach Ralf ab, diesmal aber aus einem anderen Grund.
Auch Hannes’ Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, denn das Renngeschehen hatte eine unerwartete Wendung genommen. Zunächst war im kroatischen Boot der vordere Kanut in unkoordinierte Paddelbewegungen verfallen, dann sackte er plötzlich in sich zusammen. Die Konkurrenten zogen an dem Canadier vorbei, der immer langsamer wurde. Ein Raunen ging durch das Publikum, als sich der zweite Athlet nach vorn zu seinem Partner beugte. Dann winkte er heftig in Richtung der Betreuerboote und schrie irgendetwas. Damit war für alle ersichtlich, dass es sich um einen ernsten Vorfall handeln musste.
Ein Motorboot näherte sich. Hannes wusste, dass sich Ärzte darauf befanden, und er hoffte, dass es schlimmer aussah, als es war. Vielleicht ein Kreislaufzusammenbruch oder ein Krampf? Der Beginn der Spiele stand wahrlich unter keinem guten Stern, aber immerhin handelte es sich hierbei um eine Verletzung oder Erkrankung und nicht um einen Sabotageakt. Er erinnerte sich an Ralfs letzte Aussage und wollte ihn darauf ansprechen. Verhindert wurde dies durch ihren Trainer, der soeben im Zielbereich eintraf und für das Geschehen auf dem
Wasser nur einen kurzen Blick übrighatte. Er war gedanklich schon beim Halbfinale, und es gab einiges, was er seinen Athleten an Optimierungsbedarf mitteilen wollte.
Auch in der italienischen Region Kampanien waren viele Augen in Richtung Norden nach Kopenhagen gerichtet. So auch die eines Mannes, der nicht nur in einem Hollywoodfilm die Rolle eines Mafiapaten perfekt verkörpert hätte. Tatsächlich war er das Oberhaupt einer Familie, die mit einer Vielzahl anderer Sippen die berüchtigte Camorra, eine der ältesten und größten kriminellen Organisationen Italiens, bildete. Ihren Schwerpunkt hatte sie in Neapel und bestand, anders als die sizilianische Cosa Nostra, aus selbstständigen Clans. Der jährliche Gesamtumsatz der neapolitanischen Camorra wurde auf gut vierundzwanzig Milliarden Euro geschätzt, der Großteil davon stammte aus dem Drogenhandel.
Schon lange hatte man sich aber diversifiziert. Waffenhandel und Produktpiraterie gehörten genauso zum Portfolio wie Korruption und Erpressung. Dabei beschränkte man sich längst nicht mehr auf Italien. Insbesondere die Investitionen mit gewaschenem und somit offiziell legalem Geld erfolgte europaweit. Während in manchen Regionen Italiens gewisse Wirtschaftszweige schon fast vollständig von der Mafia kontrolliert wurden, war dies im Ausland noch nicht der Fall. Erste Schritte waren aber bereits – von der Öffentlichkeit unbemerkt – unternommen worden. Viele würden sich verwundert die Augen reiben, wenn sie wüssten, in welchen Firmen schon heute Gelder der Mafia steckten. Stetig wuchs dieses komplexe Gebilde aus illegalen und legalen Tätigkeiten, man operierte mit modernsten Mitteln, verschachtelten Strukturen und einer Armee von Helfern und Helfershelfern, um die wahren Hintergründe zu verschleiern.
Insofern war es fast folgerichtig, dass aus dem Treffen zwischen einem Asiaten namens Kim Koh und Vertretern der Camorra eine Geschäftsbeziehung entstanden war. Die Italiener hatten wiederum ihre Kontakte zu anderen kriminellen Vereinigungen in Europa spielen lassen und zuletzt noch einmal intensiviert. In diesen Kreisen war es ein offenes Geheimnis, dass ähnliche Maßnahmen auch von der Cosa Nostra und der kalabrischen ’Ndrangheta ergriffen wurden. Letztere zeichnete sich durch Verbindungen nach Nord- und Südamerika sowie nach Russland aus. Ein Netz war gesponnen und stetig verfeinert worden, das ansehnliche Gewinne erwirtschaftete. Noch hielten bei diesem speziellen Geschäft alle zusammen, man hatte verstanden, dass auf diese Weise jeder profitierte.
Der Sport war ins Visier genommen worden, jenes milliardenschwere Geschäftsfeld, das geradezu dazu einlud, sich die Taschen vollzustopfen. Sofern man die richtigen Ideen hatte – und die hatte man. Unerlässlich hierfür war ein reibungsloser Informationsfluss, der nur in seltenen Fällen so einfach und unauffällig wie in diesem Moment zu bewerkstelligen war. Wie Millionen andere Menschen verfolgte das neapolitanische Familienoberhaupt gerade vor dem Fernseher die Übertragung aus Dänemark.
Neben ihm saß einer seiner zahlreichen Enkel. Dann und wann schielte der Zweiundzwanzigjährige zur Seite, als wolle er herausfinden, in welcher Stimmung sich sein Großvater befand. Im Gegensatz zu dem alten Herrn, der als Oberhaupt des Clans über die Geschicke der Familie bestimmte, hatte sich Claudio nie für Sport interessiert. Seine Begeisterung erstreckte sich auf alles, was die digitale Welt zu bieten hatte. Doch sein Großvater war weise genug, um erkennen zu können, dass seine Organisation auch auf diesem Gebiet über Experten verfügen musste.
Es wäre Claudio indes lieber gewesen, wenn er sein Talent woanders hätte einbringen können. Schon als Kind hatte er sich von dem Umfeld und den Geschäften seiner Familie abgestoßen gefühlt – obwohl er damals nur winzige Einblicke gehabt hatte. Er war ein verträumter und sensibler Junge gewesen, der dadurch schnell negativ aufgefallen war. In der Pubertät war er in eine Depression gerutscht, hatte aber nicht die Kraft oder den Mut besessen, sich der eigentlichen Ursache zu stellen und dem Clan den Rücken zuzukehren. Auch heute redete er sich noch immer ein, keine andere Wahl zu haben. Materiell fehlte es ihm an nichts, und dennoch fühlte er sich gefangen und fremdbestimmt.
Er griff nach einer eisgekühlten Cola, während sein Großvater an einem Weinglas nippte. Die Temperatur im Freien lag bei über dreißig Grad, aber die Klimaanlage im Inneren des Gebäudes verhinderte Hitzewallungen. Das herrschaftliche Anwesen lag auf einem Hang, der Ausblick reichte von der Altstadt über den Golf von Neapel bis hin zum Vesuv. In sicherer Entfernung natürlich, denn seine Bewohner hatten keine Lust, sich den Launen des noch immer aktiven Vulkans auszuliefern.
Noch rätselten die TV-Kommentatoren über den unerklärlichen Zusammenbruch des Kanuten Milan Jurić, während die Bildregie zu dem parallel stattfindenden Radrennen geschaltet hatte. Der Sportler sei bewusstlos an Land gebracht worden und jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus. Mehr wisse man nicht, stattdessen spekulierte man wild. Wie schon Tage zuvor – und wohl noch bei jedem anstehenden Volleyballspiel der italienischen Mannschaft – über die Gründe für den Selbstmord des Starspielers Fabio Ricco.
Claudios Großvater nickte und schnalzte mit der Zunge. Offensichtlich war er zufrieden – ein Zustand, den Claudio nicht hinterfragen wollte. Alles lief wohl wie geplant, das war das
einzig Relevante – und unverzichtbar für den Frieden im Haus. Sein Großvater griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Dann legte er es mit aktiviertem Lautsprecher zurück auf den Tisch. Claudio spähte auf das Display. Es zeigte eine kroatische Nummer. Sekunden später wurde das Gespräch angenommen.
»Gut gemacht«, überging Claudios Großvater mit gewohnt raumfüllender Stimme die Begrüßung des Gesprächspartners. »Wird eine Weile dauern, bis sie rausfinden, was dieser Ratte passiert ist.«
»Wir haben die Russen losgeschickt«, kam es zurück. »Da geht nie was schief.«
An der Schläfe des Paten trat eine Ader hervor, ein deutliches Zeichen für aufwallenden Ärger. Claudio rückte ein Stück zur Seite und reimte sich die Zusammenhänge zusammen. Es war nicht vorgesehen gewesen, die Aufgabe zu delegieren. Vor allem nicht nach Russland, denn anders als die ’Ndrangheta machte sein Großvater um dieses Land einen Bogen. Aber jetzt galt es eben, den Großangriff auf die Olympischen Spiele nicht zu gefährden. Da musste man zu Kompromissen bereit sein. Innerhalb von vier Wochen winkten Gewinne, für die man ansonsten Monate benötigte.
»Hoffentlich wird es anderen Schwächlingen eine Warnung sein«, erwiderte der Pate mit leiserer Stimme. Ein Beleg für mühsam unterdrückten Zorn. »Jurić dürfte vielen ein Begriff sein.«
»Das ist so. Er war ein guter Fänger, der uns einige Sportler vermittelt hat.«
Claudio registrierte, dass der Kroate schon in der Vergangenheitsform von Milan Jurić sprach. Der Mann und die dänischen Ärzte kämpften demnach auf verlorenem Posten um sein Leben. Auch sein Großvater schien die grammatikalische Feinheit bemerkt zu haben, seine Stimme wurde wieder lauter.
»Lasst durchsickern, dass er sich vom Acker machen wollte. Für ihn gilt das Gleiche wie für Branko. Wir müssen solche Ansätze im Keim ersticken.«
»Schon klar, aber hältst du das wirklich für eine gute Idee? Es sind die Olympischen Spiele! Die Aufmerksamkeit ist weltweit so hoch wie bei keinem anderen …«
»Was glaubst du, wie ich wegen Branko vor den Asiaten dastehe? Von Jurić haben die zum Glück keine Ahnung. Habt ihr was bei ihm gefunden?«
»Ja, aber es wird noch ausgewertet. Hätte definitiv gefährlich werden können. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen.«
»Und seine Frau?«
»War mit dem Baby zu Hause. Wir haben ihr klargemacht, wie sie sich zu verhalten hat.«
»Ich sagte, dass sie verschont werden soll!«
»Wurde sie. Kam mit dem Schrecken davon. Obwohl ich nicht verstehe, weshalb …«
»Weil wir das so machen.« Der Italiener ballte die Fäuste. Claudio beobachtete die Geste automatisch, denn wie so oft verfolgte er die Bewegungen dieser kräftigen Hände ganz genau. Er konnte nicht anders, seit Jahren hatte er diese Angewohnheit. Und häufig jagte es ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Er ahnte, warum gerade die Knöchel an dem behaarten Handrücken hervortraten: Sein Großvater war gnadenlos, geschäftstüchtig und hatte wenig Skrupel. Aber Claudio wusste auch, dass der Pate eine Familie nur auslöschen ließ, wenn es nicht anders ging. In dieser Hinsicht war er eine Art Edelmann – vielleicht war genau das der Antrieb für diesen weichen Zug. Er gefiel sich in der Rolle des ehrbaren und gönnerhaften Paten.
»Hast du ihr das Geld gegeben?«, fuhr das Familienoberhaupt fort.
»Natürlich.«
»Das wird auch weiter so ablaufen. Jeden Monat, vergesst es nicht!«
»Aber warum? Die Angst um das Baby reicht doch.«
»Ich habe meine Gründe.«
Abrupt beugte sich der Alte nach vorn und beendete das Gespräch. Anschließend sah er schweigend zum Fenster hinaus. Auf einmal wirkte er sentimental, und Claudio fragte sich, welche Geschichte konkret hinter diesem Anflug von Menschlichkeit stecken mochte. In diesem Augenblick wirkte sein Großvater gütig und anziehend, Claudio konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Wie immer war sein Vorfahre elegant und stilsicher gekleidet, das Gesicht gebräunt und glatt rasiert, die verbliebenen Haare geschickt so verteilt, dass sie erheblich voller wirkten, als es der Realität entsprach. Er strahlte die Macht aus, über die er tatsächlich verfügte.
Dann glitt Claudios Blick weiter zu der Vitrine, in deren Glastür er sein Spiegelbild erkannte. Gab es eine Ähnlichkeit? Es ließ sich nicht abstreiten, schließlich hingen im Haus mehrere Fotos aus der Jugendzeit seines Großvaters. Beide hatten markante Gesichtszüge, von denen Claudio wusste, dass sie männlich und attraktiv wirkten. Er hatte sich zwar anders frisiert, besaß aber über der Stirn den gleichen hartnäckigen Wirbel, den man auch auf den alten Schwarz-Weiß-Fotos erkennen konnte. Nur sein Hautton war heller, allerdings verließ er eben auch nur selten das Anwesen. Und Claudio war deutlich schmaler, als es sein Großvater im gleichen Alter gewesen war. Daneben gab es noch einen weiteren äußeren Unterschied. Quer über Claudios Brust verlief eine Narbe, die auch heute wieder vom Poloshirt verdeckt wurde. Lediglich an einer Seite ragte sie leicht aus dem Kragen hervor, dort wo er vor inzwischen sechs Jahren das Messer zu hoch angesetzt hatte. Und die inneren Unterschiede? Die waren zahlreicher als die äußeren. Zumindest hoffte Claudio, dass es so war.
Es klopfte an der Tür. Ein Asiate mittleren Alters trat ein. Er war in einen dunklen Anzug gekleidet und trug einen Aktenkoffer in der Hand. Wie immer beherrschte der Pate die Rolle des Gastgebers in Perfektion. Sein umwölktes Gesicht entspannte sich, als er aufsprang und dem Mann mit breitem Lächeln und ausgebreiteten Armen entgegentrat.
»Ein fantastischer Tag! Ist alles zu deiner Zufriedenheit?«
Der Gast deutete eine knappe Verbeugung an. »Wie immer kann ich mich nicht beklagen, es hat mir an nichts gefehlt. Deine Leute warten am Flughafen auf mich, ich wollte mich für dieses Mal verabschieden.«
»Die Lieferung aus Kopenhagen ist eingetroffen?«
»Ja, mein Chef wird zufrieden sein. Trotzdem …«
»Ich weiß, ich weiß!« Abwehrend wedelte der Italiener mit den Armen, ohne dass sein Lächeln in sich zusammenfiel. »Wir verrechnen den Ärger mit der nächsten Zahlung. Wegen dieses … Missgeschicks sollte unsere Zusammenarbeit nicht belastet werden. Richte das bitte aus.«
Er überredete den Gast noch zu einem Schluck Chianti, ihm hatte nicht entgehen können, wie sehr dieser Geschmack daran gefunden hatte. So wie er auch andere Vorlieben des Asiaten kannte und sie bei jedem Besuch zu erfüllen wusste. Nichts überließ er dem Zufall, er war ein geübter Geschäftsmann. Nicht selten war es Claudio, der sich um das Wohlergehen der Gäste zu kümmern und alles zu organisieren hatte. Schließlich sei er – zumindest vom Hals an aufwärts – der Bestaussehende unter seinen Geschwistern, hatte sein Großvater einmal augenzwinkernd angemerkt. Es war ein Kompliment, das aus seinem Mund nach Gift schmeckte. Dennoch kam es Claudio in letzter Zeit regelmäßig in den Sinn – insbesondere, wenn er sich in einem Chat mit einer jungen Engländerin unterhielt, der er bislang noch nie persönlich begegnet war. Sie hieß Julia, lebte in Bristol und jobbte neben dem Studium für eine Firma namens
Hawk Eye – und arbeitete damit eigentlich für den Feind. Aber die Feinde seines Großvaters waren noch lange nicht Claudios Feinde, sodass er den Kontakt zu der jungen Frau immer weiter intensivierte. Wenn es aber rauskam … Claudio warf einen raschen Blick zu seinem Großvater, der dem Asiaten gerade mit überschwänglichen Gesten die Aussicht aus dem Fenster erklärte.
Dann folgte noch ein kurzer Austausch über die kommenden Wochen, und erneut empfahl der Gast aus Fernost eine Überprüfung der Sicherungssysteme, die auch Ablenkungen diverser Art beinhalteten. Bei der Eröffnungsfeier habe dies schon gut funktioniert, aber man dürfe das Rad nicht überdrehen, wollte man die Absage der Olympischen Spiele nicht riskieren. Und das sei das Letzte, was man beabsichtigte. Der Pate stimmte ihm in allen Punkten zu, erläuterte noch einmal seine Sicht der Dinge und wies wiederholt darauf hin, alles unter Kontrolle zu haben. Nur über den zum Sterben verurteilten Kanuten verlor er kein Wort, und auch Claudio enthielt sich wie gewohnt jeglichen Kommentars. Die Rollenverteilung war klar und unumstößlich.
In der Umkleidekabine an der Regattastrecke zog Hannes den Reißverschluss seiner Tasche zu und warf sie sich über die Schulter. Noch immer war das Hochgefühl nicht abgeebbt, die Pflicht lag hinter ihm, in drei Tagen sollte die Kür folgen. Im Gegensatz zum Vorlauf hatte er das Halbfinale souverän gemeistert und sich als Drittplatzierter sicher für das Finale der besten acht qualifiziert.
Dies hatte er allerdings auch einem Vorfall auf der Nebenbahn mit zu verdanken, von dem er sich zu seinem Glück nur kurz hatte ablenken lassen. Hannes hatte dort einen Fehlstart vermutet, tatsächlich hatte der amerikanische Kanute aber nur deshalb wütend aufgeschrien und das Rennen aufgegeben, weil
ihm unmittelbar nach dem Start das Paddel entzweigebrochen war. So etwas geschah bei den Hightech-Materialien äußerst selten, Hannes war es während seiner gesamten Karriere noch nicht passiert. Eine derartige Materialschwäche ausgerechnet im olympischen Halbfinale erleben zu müssen, war tragisch für den Amerikaner – aber gut für Hannes. Beide hatten eine ähnliche Leistungsstärke, mit leichten Vorteilen für den US-Boy.
An Mitleid hatte Hannes keine Sekunde verschwendet, sondern sich nach einem Moment der Irritation wieder voll auf sein eigenes Kanu konzentriert und den kurzen Aussetzer ausbügeln können. Betrachtete man beide Halbfinalrennen, hatte er die insgesamt fünftbeste Zeit hingelegt, Ralf war dagegen gerade noch so weitergekommen. Dass dies nichts heißen musste, wusste Hannes aus Erfahrung. Im Finale wurden die Karten völlig neu gemischt, dann gab es kein Taktieren, jeder würde Vollgas geben.
Auch er selbst meinte, noch ein paar Schippen drauflegen zu können. Sein Hauptziel hatte er mit dem Verbleib im Wettbewerb schon erreicht, sodass er keinen Druck mehr verspürte. Ob das in drei Tagen noch so sein würde, war natürlich eine andere Frage. Kurz dachte er an den kroatischen Kanuten des Zweier-Canadiers, für den sich derartige Überlegungen schon erledigt hatten. Er kannte ihn nur flüchtig und hatte nie das Verlangen gespürt, sich näher mit ihm auszutauschen. Hannes verabscheute Sportler, die sich mit Doping einen Vorteil ergaunerten, und konnte sich nur schwer damit anfreunden, dass man ihnen nach Ablauf der Sperre eine zweite Chance gewährte. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen deutete er Milans unfreiwilliges Ausscheiden als höhere Gerechtigkeit. Aber vielleicht nahm der Kerl noch immer unerlaubte Mittel zu sich und hatte nun einer unerwünschten Nebenwirkung Tribut zollen müssen? Noch immer wusste man nichts Genaueres über
die Gründe seines Ausfalls, zumindest galt dies für die breite Öffentlichkeit.
Unter den Zuschauern hatte der Vorfall nur vorübergehend für Entsetzen gesorgt. Da die Wettkämpfe fortgesetzt worden waren, ging man von keiner allzu dramatischen Situation aus. Generell war zu spüren, dass nach dem Schrecken bei der Eröffnungsfeier sich allmählich wieder die ausgelassene Stimmung durchsetzte, durch die sich diese Spiele auszeichnen sollten. Das bestätigten auch Hannes’ engste Fans, als er sie am alten Hafen der Stadt traf. Anna lief ihm entgegen, ihre grünen Augen funkelten. Als er sie hochhob, küsste sie ihn überschwänglich auf den Mund, was ihm im Beisein seiner Eltern immer ein wenig peinlich war.
»Gut gemacht!« Sein Vater klopfte ihm auf die Schulter, während seine Mutter noch vor lauter Stolz nach den passenden Worten suchte.
»Ich seh schon die Medaille glänzen!« Ben nahm ihm die Tasche ab und umarmte ihn. »Sollen wir eins der sündhaft teuren dänischen Biere darauf trinken?«
»Können wir machen, heute Nachmittag hab ich ja frei.«
»Wir wollten uns doch die Altstadt und Schloss Amalienborg ansehen«, wandte seine Mutter ein. Dann drückte sie ihn an sich. »Herzlichen Glückwunsch erst mal, ich bin so stolz, dass ich …« Ihre Augen schimmerten feucht. »Zu dumm, dass deine Schwester nicht dabei sein kann.«
Hannes’ Neffe hatte sich kurz vor der Abreise den Arm gebrochen, sodass der Familientrip in kleinerer Besetzung als geplant ausgefallen war.
»Sie wird alles im TV gesehen haben«, erwiderte er. »Habt Ihr mitbekommen, dass mich das ZDF interviewt hat?«
»Haben wir gesehen. Hast du Ramona gegrüßt?«
»Mama!« Hannes verdrehte die Augen. »Wie hätte das denn gewirkt, wenn ich meine Schwester grüße?«
»Wieso nicht? Es zeigt, dass du ein bodenständiger Typ bist, so was mögen die Leute.«
»Am meisten mögen die Leute Medaillen«, meinte Ben. »Wenn du das schaffst, wird man deine zweifarbigen Augen sogar in der Tagesschau bewundern können. Hoffentlich aber nicht als Paradiesvogel.« Er deutete auf die offizielle Kleidung der deutschen Mannschaft, die Hannes an diesem Tag schlecht im Schrank hatte liegen lassen können.
»Hör auf, ihn schon jetzt unter Druck zu setzen!« Anna schritt rechtzeitig ein, sie kannte Hannes’ Psyche von allen am besten. »Lasst uns erst mal auf das erreichte Finale anstoßen, da hinten gibt es ein nettes Café, von dem man auf die alten Segelschiffe schauen kann. Danach können wir immer noch die Schlösser abklappern.«
»Vergesst nicht, dass ich Christiania besuchen will«, brachte Ben in Erinnerung. Die alternative Wohnsiedlung war ein Fixpunkt auf seiner Reiseagenda, und Hannes argwöhnte, dass sie ihn mehr interessierte als die Olympischen Spiele. Vor allem die Pusher Street, in der Haschisch und Cannabis offen verkauft wurden, wollte Ben näher in Augenschein nehmen, auch wenn er den Konsum zuletzt stark eingeschränkt hatte.
»Wir haben noch genug Zeit«, entgegnete Hannes, der keinen Stress aufkommen lassen wollte. In vielleicht fünfzig Metern Entfernung hatte er Ralf entdeckt, der auf der Kaimauer saß und die Füße herabbaumeln ließ. Um ihn herum lachten die Menschen, während er selbst verloren wirkte. Sie hatten keine Gelegenheit mehr gefunden, ihr unterbrochenes Gespräch fortzuführen, außerdem wollte Hannes seine Sporttasche loswerden.
»Geht schon mal ins Café, ich rede noch kurz mit Ralf«, sagte er. »Er sitzt dort drüben, vielleicht kann er meine Sachen mit ins olympische Dorf nehmen.«
»Er sieht nicht besonders begeistert aus, obwohl er es auch ins Finale geschafft hat.« Anna schüttelte den Kopf. »Ist schon
ein merkwürdiger Typ. Gut, dass er bald aus deinem Leben verschwindet.«
Das sah Hannes nicht anders, insbesondere wenn er an die vielen Scharmützel in der Vergangenheit dachte – von dem Versuch, ihm ein Dopingmittel unterzuschieben, ganz zu schweigen. Ralf war mit seinen neunundzwanzig Jahren für Sportlerverhältnisse erheblich jünger als Hannes, für ihn würde es wohl nicht die letzte Olympiade sein. Er besaß Talent, wahrscheinlich war er Hannes sogar überlegen. Allerdings stand ihm als Sportsoldat auch mehr Zeit fürs Training zur Verfügung.
An den sportlichen Perspektiven schien Ralf derzeit aber weniger interessiert zu sein, daher kam Hannes gleich auf den Punkt, als er sich neben ihm auf der Kaimauer niederließ. Es roch leicht nach Brackwasser, was ihm aber immer noch lieber war als der Gestank nach heißem Fett von der nahen Imbissbude.
»Der Polizist, nach dem du dich so verzehrst, ist wieder da«, versuchte er sich an einem scherzhaften Auftakt.
»Ich weiß, hab dich schon mit deiner Familie gesehen.«
»Wieso ist deine eigentlich nicht hier?«
Ralf winkte schweigend ab, und Hannes erkannte, dass er eigentlich nichts über dessen Privatleben wusste. Ob darin der Grund für das merkwürdige Verhalten lag? Abwartend blieb er sitzen und schwieg. Er kramte seine Sonnenbrille aus der Tasche und beobachtete die Möwen, die gerade von Kindern gefüttert wurden. Er konnte den Flugmanövern noch eine Minute ungestört zusehen, bis Ralf sich endlich zum Weiterreden durchrang.
»Ich stecke in der Klemme und weiß nicht, wie ich wieder rauskommen soll.«
»Das hast du schon gesagt. Wenn ich dir helfen soll, musst du konkreter werden.«
»Ich weiß gar nicht, ob du mir überhaupt helfen kannst. Es geht ja nicht um Mord, sondern … um was ganz anderes.«
»Ich hör dir zu«, erwiderte Hannes, als sich das Schweigen wieder ausdehnte.
Ralf rang sichtlich mit sich, sein Blick war auf seine Akkreditierung geheftet, die er zwischen den Fingern hin und her drehte. »Ich werde bedroht. Wenn ich keine Goldmedaille gewinne, sieht’s düster aus. Sowohl über tausend als auch über zweihundert Meter.« Im Gegensatz zu Hannes hatte er sich für beide Distanzen qualifizieren können, die Vorläufe über die kurze Strecke musste er am nächsten Tag absolvieren.
Hannes sah ihn verwirrt an. »Wer steckt dahinter? Dein Sponsor?«
»Nee, schön wär’s. Es sind Kriminelle, verstehst du?«
»Ich verstehe überhaupt nichts.«
Ralf blickte sich um, dann rückte er näher. »Konkret zwei serbische Brüder. Wobei der eine von beiden …« Er schluckte. »Einer von den beiden wurde am Donnerstagabend ermordet. Hier in Kopenhagen.«
»Er wurde …? Warum? Und von wem?«
»Keine Ahnung. Interne Streitigkeiten oder so. Ich weiß es von Milan, und der … ach egal.«
Die Geschichte klang für Hannes immer abstruser. »Milan Jurić? Was hat der damit zu tun?«
»Gar nichts, ich … er hat es eben mitgekriegt, das ist alles.«
»Hör mal zu, Ralf. Entweder erzählst du mir dein Problem jetzt so, dass ich es kapiere, oder du lässt es komplett bleiben.«
»Bin doch schon dabei.« Erstmals sah er Hannes an, und was man in seinen Augen ablesen konnte, war ein besonderer Ausdruck, den Hannes in seiner Karriere als Mordermittler schon häufig gesehen hatte. Ralf fürchtete um sein Leben, das war offensichtlich. Daher blieb Hannes weiter sitzen, obwohl Ralf schon wieder um Worte rang.
»Weshalb wollen die Serben, dass du aufs Podest kommst?«, half Hannes nach.
»Weil sie Geld darauf wetten. Sie und andere.«
Hannes kam sich wie in einem falschen Film vor. »Wir reden hier von Kanu! Was soll man da …«
»Du kennst dich mit Sportwetten nicht aus, oder?«
»Nicht wirklich. Hab aber gehört, dass man nur im Fußball richtig Geld machen kann.«
»Normalerweise schon. Kleinvieh macht aber auch Mist. Und im Moment geht es nicht mal um Kleinvieh, wir sind hier bei den Olympischen Spielen, falls du das vergessen hast.«
»Keineswegs. Trotzdem … es ist nur Kanu!«
Ralf beugte sich zu ihm. Sein Atem roch nicht gut. »Natürlich ist nicht nur Kanu betroffen. Hier wird ein ganz dickes Ding abgezogen. Bei Olympischen Spielen werden Unsummen gewettet. Auf jede Sportart! Es ist also ein gefundenes Fressen für die.«
»Wer sind
die
?« Hannes lehnte sich zurück. Neben dem Mundgeruch drang auch das Aroma von getrocknetem Schweiß in seine Nase. Hatte Ralf nach seinem Wettkampf etwa auf die Dusche verzichtet?
»Bisher … also ich bin davon ausgegangen, dass es nur Leute vom Balkan sind. Aber dahinter stehen wohl noch ganz andere. Wenn ich es richtig verstanden habe, sogar die Mafia. Keine Ahnung, welche genau. Verstehst du jetzt mein Problem?«
»Noch nicht ganz. Du redest von Wettbetrug, hab ich mir das richtig zusammengereimt?«
Ralf nickte.
»Läuft es beim Wettbetrug nicht eher andersherum?«, fuhr Hannes fort. »Einen Sieg kannst du schlecht kaufen, eine Niederlage aber schon. Wieso sollst du gewinnen, und wie willst du das anstellen?« Es war gar nicht mal böse gemeint, denn an guten Tagen kam Ralf durchaus für eine Medaille infrage, während Hannes schon einen verdammt guten Tag erwischen
müsste. Nur ließ es sich eben nicht planen, dafür spielten zu viele Faktoren eine Rolle.
»Das ist ja das Problem«, kam es leise von Ralf zurück. Abwesend fuhr er mit einem Finger über ein Tattoo auf seinem linken Oberarm. »Ich hab zwar so hart trainiert, wie ich konnte, und mein Leistungspotenzial ist am Anschlag, nur …«
»Davon hat man im Vorlauf und Halbfinale aber nicht viel gemerkt«, konnte sich Hannes nicht verkneifen zu sagen.
Ralf winkte ab. »Das gehört doch dazu! Ich werde jetzt unter ›ferner liefen‹ gehandelt, keiner rechnet mit einem Erfolg. Wenn er dann aber wider Erwarten eintritt, können sich die wenigen, die auf mich gesetzt haben, richtig freuen.«
Hannes brauchte einen Moment, um diese Information zu verdauen. »Du hast dich also absichtlich schlecht verkauft?«
»Was hätte ich sonst tun sollen? Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen.«
»Womit drohen sie dir?«
Ralf biss ein Stück von einem Fingernagel ab. »Damit, dass sie … sie würden mein Leben zum Albtraum machen. Und nicht nur meins, sondern genauso das meiner Eltern und Geschwister. Deshalb hab ich alles daran gesetzt, dass meine Familie nicht hierher kommt. Ob es was hilft, glaub ich allerdings nicht. Ich muss gewinnen, alles andere ist keine Option.«
»Wie sind die überhaupt auf dich gekommen? Ich meine, es gibt klarere Favoriten, die eine Leistungsschwäche in den ersten Rennen hätten vortäuschen können.«
»Ich bin ja auch nicht der Einzige. Zum Beispiel der Typ, der vorhin den Vorlauf dominiert und dein Halbfinale gewonnen hat, der ist auch gekauft. Er soll das Finale vergeigen.«
Hannes konnte es nicht glauben. »Warum sollte er eine olympische Medaille wegschmeißen? Wird er ebenfalls bedroht?«
»Weiß ich nicht. Vielleicht verdient er einfach nur gut daran. Er kommt aus Kasachstan, da kannst du einen Olympiasieg nur schwer zu Geld machen.«
»Okay, es läuft also nicht nur über Erpressung, sondern auch über Gewinnbeteiligung.« In Hannes keimte eine Ahnung auf. »Hat das auch bei dir so angefangen? Hast du deshalb zu den Serben Kontakt?«
Ralfs betretenes Schweigen war Antwort genug. Hannes betrachtete die friedvolle Szenerie um sich herum, die so gar nicht zu dem eben Gehörten passte. Drohte all diesen Sportbegeisterten und den ehrlichen Athleten neben der Dopingproblematik ein weiterer Betrug? Wenn allein in seiner Disziplin schon mindestens zwei Sportler betroffen waren, wie sah es dann erst bei den anderen, prestigeträchtigeren Sportarten aus? Dann überrollte ihn die nächste Erkenntnis.
»Du hast gesagt, dass du so hart trainiert hast, wie es ging. Hast du auch … nachgeholfen, um den Effekt zu verstärken?«
Jetzt standen tatsächlich Tränen in Ralfs Augen. »Ich hatte keine Wahl«, flüsterte er.
Hannes verspürte wenig Mitleid. »Um zu gewinnen, gibt es zwei Wege: die eigene Leistung steigern und die Konkurrenz ausschalten. Lässt sich natürlich auch miteinander kombinieren. Hast du mir deswegen beim Training das Dopingmittel in die Trinkflasche gemischt, damit ich bei einem Dopingtest auffliege? Ein Konkurrent weniger!«
»Ich … es war so … mich hat die Situation völlig überfordert. Kurz vorher haben sie mir gesagt, was von mir erwartet wird. Da hab ich rotgesehen, und du warst das erstbeste Ziel, um meine Chancen zu vergrößern. Es tut mir so …«
»Und wer war das zweit- oder drittbeste Ziel?«, schnitt Hannes den Entschuldigungsversuch ab.
»Niemand, ehrlich nicht! Nachdem du rausgefunden hattest, was … natürlich hab ich das nicht noch mal gemacht!
Weder bei dir noch bei anderen. Mir war ja klar, wie scheiße das ist.«
»Nette Umschreibung!« Am liebsten wäre Hannes aufgesprungen und gegangen. Immerhin hatte er jetzt endlich den wahren Grund für die heimtückische Aktion herausgefunden. Schon als sie von ihm aufgedeckt worden war, hatte er einen anderen Antrieb als Boshaftigkeit vermutet. »Wieso hast du mir nicht schon damals alles erzählt?«
»Weil ich dachte, dass ich es irgendwie hinkriege. Oder dass ich Branko überzeugen kann, dass es nicht funktioniert.«
»Branko ist einer der Serben?«
»Ja, der Tote. War mein Hauptansprechpartner, jetzt läuft alles über seinen Bruder Ivko. Mit Branko konnte man reden, aber Ivko ist … ein anderes Kaliber.« Seine Unterlippe zitterte.
Hannes legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Was für eine verrückte Geschichte! Sollte das von Ralf angedeutete Ausmaß zutreffen, drohten die Olympischen Spiele in einem tiefen Morast zu versinken. Noch hatten erst wenige Wettkämpfe stattgefunden, und Medaillen waren noch gar keine vergeben worden. Wie Ralfs Beispiel zeigte, standen aber schon jetzt einige Ergebnisse fest. Den Glauben an die Unschuld des Sports hatte Hannes nach den vielen Skandalen verschiedenster Ausprägung schon lange verloren. Nichtsdestotrotz hatte er seine eigene Sportart noch als halbwegs saubere Insel in diesem Ozean aus Doping, Korruption und Gewalt betrachtet.
»Was willst du jetzt machen?«, fragte er mit noch immer geschlossenen Augen.
Ralf gab ein Geräusch von sich, das nur in Ansätzen einem Lachen ähnelte. »Gewinnen, was sonst? Oder hast du eine bessere Idee?«
»Allerdings. Du musst das aufdecken. Geh zur dänischen Polizei, die dürfte ja im Moment zuständig sein.«
»Du hilfst mir also nicht?«
Hannes schwieg. Wie sollte er das bewerkstelligen? Es waren Themen, die nicht nur nicht in seine Zuständigkeit fielen, er hatte schlicht und ergreifend keine Ahnung davon. Und wenn sogar die Mafia ihre Hände im Spiel hatte, dann legte er noch weniger Wert darauf, sich einzumischen. Er wollte sich doch einfach nur endlich mal voll und ganz auf sich und sein Kanu konzentrieren können – nur dieses eine Mal! Andererseits war es ein Angriff auf den gesamten Sport und damit auch auf ihn persönlich. Ein Betrug an den ehrlichen Athleten, die sich jahrelang abplagten, ein Betrug an den Zuschauern, die Eintrittsgelder zahlten, ein Betrug an den Sponsoren und Medien, die einen Großteil des Budgets beisteuerten – und nicht zuletzt ein Betrug an der Jugend, die mit leuchtenden Augen zu ihren Stars aufblickte und sich – ohnehin schon in abnehmender Zahl – landauf landab in den Turnhallen und auf Sportplätzen tummelte, um den Idolen nachzueifern.
Er rappelte sich auf. »Ich muss darüber nachdenken, es kommt völlig überraschend. Hab nicht erwartet, dass du so eine Bombe platzen lässt.«
»Aber die Zeit drängt!«
»Ist mir klar. Aber wie gesagt: Geh zur dänischen Polizei. Das ist mein Rat und das einzig Richtige, was du tun kannst.«
»Du hast leicht reden«, brauste Ralf auf, bremste sich aber sofort wieder. »Entschuldige, ich … hab dir doch gesagt, was auf dem Spiel steht. Was soll da irgendein dänischer Polizist …?«
»Unterschätz mal die Dänen nicht, die werden auch Spezialeinheiten haben. Eine Alternative fällt mir im Moment nicht ein.«
»Aber du wirst weiter darüber nachdenken?«
Widerstrebend nickte Hannes. Natürlich würde er das tun, ob er wollte oder nicht. Dieser Mist war jetzt in seinem Kopf und ließ sich damit nicht mehr so einfach ausblenden. Dass er
aber noch nicht einmal bei den Olympischen Spielen von kriminellen Machenschaften in Frieden gelassen wurde, wurmte ihn. Am liebsten hätte er Ralf in das Becken des alten Hafens geschubst. Stattdessen drückte er ihm seine Sporttasche in die Hand.
»Nimm mein Zeug mit zurück ins olympische Dorf. Ich bin mit Anna, meinen Eltern und Ben verabredet. Lass uns heute Abend auf dem Zimmer noch mal darüber reden.«
»Danke dir, das werde ich dir nicht vergessen!«
»Noch hab ich nichts getan, und ich habe auch nicht vor, etwas zu tun. Ich werde nur darüber nachdenken, was
du
tun solltest.«
Und das war schwer genug. Hannes war froh, nicht in Ralfs Haut zu stecken, ging zugleich aber davon aus, dass er sich gar nicht erst in eine derartige Situation hineinmanövriert hätte. Langsam schlenderte er am Hafenbecken entlang, sein Stimmungshoch war dahin. Sollte sich das Problem nicht aus der Welt schaffen lassen und Ralf zum Siegen verdammt sein, wie sollte Hannes mit diesem Wissen umgehen? Zwar rechnete er sich nur geringe Chancen aus, aber die wollte er logischerweise nutzen. Sollte ihm dies gelingen und er vor Ralf ins Ziel kommen, würde er damit ihn und seine Familie ins Verderben stürzen? Oder hatte der Serbe nur leere Drohungen von sich gegeben?
In der Hosentasche vibrierte sein Handy. Er zog es heraus und erkannte überrascht, dass auf dem Display der Name
Nils Söderberg
aufleuchtete. Mit dem schwedischen Kollegen hatte er schon eine Weile nicht mehr gesprochen, obwohl sie in diesem Sommer einen gemeinsamen Fall gelöst und zusammen Mittsommer gefeiert hatten. Schnell nahm er das Gespräch an.
»Hannes, Gratulation zum Erfolg! Wie geht es dir?« Wie immer schwang nur ein leichter Akzent in Nils’ Aussprache mit – er hatte eine deutsche Mutter.
Hannes schüttelte die düstere Stimmung mit Mühe ab. »Großartig, was denkst du denn? Hast du es gesehen?«
»Na klar, und meine Kollegen auch. Viele erinnern sich an dich. Und jetzt hab ich überlegt, dass ich zum Finale rüberkomme. Ist ja nur ein Katzesprung.«
»Katzensprung«, korrigierte Hannes reflexhaft. »Das wäre natürlich super, würde mich riesig freuen!«
»Denkst du, dass es noch Tickets gibt? Heute waren die Tribünen ja ziemlich leer.«
»Beim Finale wird das anders sein, du solltest dich beeilen.«
Sie tauschten noch Belanglosigkeiten aus, dann fiel Nils auf, dass Hannes weniger fröhlich klang, als er hätte sein müssen. Hannes rang nur kurz mit sich, dann berichtete er von seinem Gespräch mit Ralf, ohne dessen Namen zu nennen. Auch Nils musste die Nachricht zunächst verdauen. Genau wie Hannes, wies er dann auf die naheliegendste Option hin.
»Er muss zur dänischen Polizei.«
»Meine Rede, nur hat er panische Angst. Und die dürfte gerechtfertigt sein.«
»Er kann eine Verletzung vortäuschen.«
»Stimmt, darauf bin ich noch nicht gekommen. Nur … das Problem geht ja tiefer. Es scheinen viele Sportler betroffen zu sein. Wenn die Mafia das steuert, könnte es größere Ausmaße haben, als wir beide es uns vorstellen. Was für eine Scheiße!«
»Ich habe noch eine andere Idee. Hast du von der Sondereinheit Olympisk Fred gehört?«
»Klar, nur haben wir es hier nicht mit einem Terrorangriff zu tun.«
»Viele denken, dass OF nur für die Terrorabwehr zuständig ist, dabei geht es ganz allgemein um die Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung während der Olympiade. Ich kenne dort jemanden. Ellen Petersen. Eigentlich eine Mordermittlerin, jetzt aber als Vertreterin der Mordkommission beim OF. Sie ist
gut, wir haben schon mehrmals miteinander gearbeitet. Soll ich euch miteinander verbinden?«
»Du meinst, du willst uns … ach egal.« Hannes brach die erneute sprachliche Korrektur ab. »Eigentlich hab ich keine Lust, mich da überhaupt zu engagieren. Ich bin hier, um zu paddeln, nicht um schon wieder in eine Ermittlung zu rutschen.«
»Also ergibt es umso mehr Sinn, mit ihr zu reden. Dann ist sie zuständig, und du hast es von der Backe.«
Der Schwede hatte mal wieder seine eigene Logik, aber schlecht klang es nicht. Hannes stimmte schließlich zu, dass Nils seine Handynummer weitergab, obwohl ihm nicht ganz wohl dabei war, hinter Ralfs Rücken offizielle Wege einzuschlagen. Allerdings durfte er als Polizist sein Wissen auch nicht einfach für sich behalten. Nachdem er sich von dem Schweden verabschiedet hatte, ging er weiter zu seinen Eltern, die mit Anna und Ben an einem Tisch auf ihn warteten und schon Getränke vor sich stehen hatten. Er freute sich, sie an diesem Tag um sich zu haben, auch wenn ihm gerade alles andere als nach einer Sightseeing-Tour zumute war. Die Befürchtung, dass ein Gespräch mit der dänischen Ermittlerin keinen schnellen Schlussstrich bedeuten, sondern Hannes erst recht in Ralfs Probleme involvieren könnte, ließ sich nicht vertreiben.